| # taz.de -- 40 Jahre taz – Abgewickelte DDR-Betriebe: Rückkehr nach Wittstock | |
| > Bis 1992 arbeitete Ella F. im Obertrikotagenbetrieb Ernst Lück als | |
| > Näherin. Jetzt kehrt sie zurück: Ortstermin in einer Ruine der | |
| > Wiedervereinigung. | |
| Bild: Damals und heute im OTB Ernst Lück: „Stupsy“ und Ella | |
| Stupsy gibt’s nicht mehr. Edith ist nach der Wende nach Süddeutschland | |
| verzogen und hat den Kontakt abgebrochen. Renate ist tot. Drei Frauen – | |
| drei Geschichten. Der Defa-Dokumentarfilmer Volker Koepp hat sie in | |
| mehreren Filmen svon 1974 bis nach der friedlichen Revolution 1989 in | |
| seinem „Wittstock-Zyklus“ begleitet. Und die taz druckte in ihrer vierten | |
| Nullnummer vom 20. Januar 1979 O-Ton-Protokolle von den Anfängen dieser | |
| Filmarbeit ab, damals einer der seltenen westdeutschen Blicke in | |
| ostdeutsches Leben. | |
| 1974 gehörten Stupsy, Edith und Renate zur Jugendbrigade im OTB, im | |
| „Obertrikotagenbetrieb Ernst Lück“, in Wittstock. Jahrhundertelang ein | |
| verschlafenes Ackerbauerstädtchen der Mark – die DDR brachte die | |
| Industrialisierung. | |
| Auf der grünen Wiese vor der Stadtmauer, anderthalb Stunden nördlich von | |
| Berlin, arbeiteten 2.800 Frauen im Dreischichtbetrieb. Durchschnittsalter | |
| 23. Vom dünnen Faden bis hin zum fertig gestrickten Pullover, Sweatshirt | |
| oder Kleid: Hier wurde alles produziert. Inklusive sozialistischer | |
| Rundumversorgung für eine entstehende ArbeiterInnenklasse: Der Kindergarten | |
| hatte 24 Stunden geöffnet, die betriebseigene Berufsschule gehörte genauso | |
| dazu wie eine Schwimmhalle. | |
| Selbst Physiotherapie und Friseur waren im Sozialtrakt des fünf | |
| Fußballfelder großen Betriebsgeländes untergebracht. Das OTB hatte eine | |
| betriebseigene Buslinie, holte die Frauen aus Kyritz, Pritzwalk, Neuruppin | |
| oder den umliegenden Dörfern an die Nähmaschinen. Der Absatz war groß, | |
| alles ging weg, auch nach Russland oder gegen Devisen auf die Grabbeltische | |
| von C&A. | |
| ## Von erste Freunden, Suff und Gewalt | |
| Stupsy und Edith redeten freimütig über die ersten Freunde, Suff und | |
| Gewalt, Abtreibung und ihre Träume vom Leben, vom Tanzen und den Aufgaben | |
| einer FDJ-Sekretärin, von den Schwierigkeiten der Arbeit am Band und von | |
| Chefs, die zwar Meister waren, aber „den Menschen hinter der Maschine nicht | |
| gesehen haben“. | |
| So erfrischend sie anfangs erzählten, in späteren Filmen wirkten sie auf | |
| seltsame Weise stumm. Manches Filmmaterial durfte nicht verwendet werden, | |
| die Protagonistinnen sahen sich von ihren Chefs – je mehr gedreht wurde – | |
| auf subtile Weise unter Druck gesetzt, den eigenen Arbeitsplatz in Gefahr. | |
| So erzählt es eine von ihnen jetzt – fast 30 Jahre nach dem Mauerfall. | |
| Denn Stupsy gibt es doch noch in Wittstock. Nur heißt sie heute nicht mehr | |
| so. Der Letzte, der sie so nannte, war ihr Mann – und der ist vor fünf | |
| Jahren gestorben. Stupsy passt wohl auch nicht mehr zu einer Frau, die | |
| eigentlich Elsbeth heißt und bald in Rente geht – auch wenn sie nicht so | |
| aussieht. | |
| Ihre Freunde nennen sie heute Ella. In ihrem Gesicht lässt sich immer noch | |
| die freche Göre aus den ersten Filmen erkennen. Nach der friedlichen | |
| Revolution hat sie im OTB 1992 das Licht ausgemacht. Zuletzt versuchte sich | |
| noch das englische Modelabel Fred Perry, aber für so viele Poloshirts mit | |
| dem Lorbeerkranz, wie sie im OTB hätten produzieren können, gibt es wohl | |
| trotz der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts keinen Markt. Das weiß | |
| auch Ella. | |
| ## Der Dreck von mehr als 25 Jahren | |
| Besuch im OTB heute: Das ist ein Besuch in einer Ruine der | |
| Wiedervereinigung. Ellas weiße Stoffschuhe sind schon nach wenigen Metern | |
| schmutzig. Unter den Füßen knirscht der Dreck von mehr als 25 Jahren. In | |
| einer dunklen Ecke der einstigen Abteilung für chemische Reinigung stehen | |
| noch etliche Fässer. Früher lagerte darin das hochgiftige Reinigungsmittel | |
| PER. Ob sie noch voll sind? Bräunlich gefärbt und mit dicker Staubschicht | |
| überzogen sehen sie so aus, als wären sie seit dem Ende vom OTB nicht mehr | |
| angerührt worden. Schnell weiter. | |
| Auf dem Boden in einer anderen Halle liegen verstreut sehr große Garnrollen | |
| mit aufgewickeltem Faden. Zwischen übriggebliebenen Abfalleimern finden | |
| sich Original-DDR-Klopapierrollen und im Nirgendwo eines anderen Raumes | |
| stehen alte Transportwagen. Von den Wänden der Endkontrolle blättert | |
| großflächig die Farbe. In der einstigen Kantine liegen gammelige | |
| Autoreifen. | |
| In einer anderen Halle dicht an dicht: leergeräumte Metallregale – zwölf | |
| Meter hoch und vielleicht fünfzig Meter tief. Eine gigantische Installation | |
| – früher einmal die Auslieferung. Gabelstapler fuhren hier hin und her. | |
| Draußen an der Rampe liegen noch die Gleise der Eisenbahn. | |
| ## Nicht mal Ratten gibt es hier | |
| Ein ausgeweidetes Betriebsgelände fast von der Größe eines Golfplatzes. Die | |
| Gabelstapler sind längst verschwunden. Genauso wie Nähmaschinen und | |
| Förderbänder. Selbst die Lampen wurden abgeschraubt. | |
| Ella wundert sich: dass hier nicht längst die Ratten sind. Aber für die | |
| gibt es eigentlich auch nichts mehr zu holen. | |
| Nach 1992 sahen die zuvor umhegten Arbeiterinnen, wie ihr Werk den | |
| Totengräbern der Deindustrialisierung anheimfiel: Bei Nacht und Nebel | |
| transportierte ein Hamburger Unternehmer laut Ella „alles ab, was nicht | |
| niet- und nagelfest war“ – und sich mit LKWs wegschaffen ließ. | |
| Schließlich hatte die Treuhand ihm die Fabrik verkauft. Trockenfrüchte | |
| wollte er zukünftig dort produzieren. In Wittstock nennen sie ihn nur „den | |
| Afghanen“. Genaueres weiß das Stadtgeflüster offenbar nicht. Aus den | |
| Trockenfrüchten wurde jedenfalls nichts. Ein paar Gebäude hat er als | |
| Lagerhallen vermietet. Das Schwimmbad auf der anderen Straßenseite betreibt | |
| inzwischen die Stadt und aus der Berufs- wurde eine Förderschule des | |
| Landkreises. | |
| ## Die Treuhandakten sind noch da | |
| Am Verwaltungsgebäude gleich neben dem Werkstor mit seinen sechs | |
| Stockwerken ist kein einziges Fenster mehr ganz. Über knirschende | |
| Glassplitter geht es nach oben. Auf den Fluren des Bürotrakts: | |
| Treuhandakten, in denen Millionentransfers aufgelistet sind, auch | |
| Personalpapiere: ein zerwühlter Haufen Papiermüll, in einer Ecke hat es | |
| mehrfach gebrannt. Offenbar Obdachlose, die sich an den Akten gewärmt | |
| haben. | |
| In zerfledderten Ordnern findet sich die Abfindungsvereinbarung der | |
| inzwischen verstorbenen Renate aus der Jugendbrigade. Nach 39 Jahren | |
| Betriebszugehörigkeit erhielt sie demnach bei der Werksschließung 24.900 | |
| DM. Immerhin. Andere bekamen nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit nur 5.400 | |
| DM, eine Reinigungskraft nach elf Jahren gar nur 1.870 DM. | |
| Fritz, der seinen wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ging in | |
| den Neunzigern als Jugendlicher in Wittstock zur Oberschule. Seine Mutter | |
| hatte einst im OTB genäht, genauso wie die meisten Mütter seiner | |
| Mitschüler. Fast alle Jungs in der Klasse trugen damals kurzgeschorene | |
| Haare, Bomberjacken und Stiefel von Doc Martens. Man gab sich rechts und | |
| prügelte sich mit den Russland-Deutschen. Warum? „Die waren halt anders.“ | |
| Um die Jahrtausendwende [1][gab es sogar einen Toten]. Plötzlich, so | |
| erzählt es Fritz, galt Wittstock als braunes Kaff. | |
| ## Natürlich gab es Glatzen im Jugendclub | |
| Aus Stupsy wurde Ella. In den Neunzigern schulte sie erst zur Verkäuferin, | |
| dann zur Pflegekraft um. Später arbeitete sie im Büro einer Werbeagentur | |
| und zwischendurch auch mal drei Jahre im Jugendclub – bis für den kein Geld | |
| mehr da war. Natürlich hatte sie dort auch mit Glatzen zu tun. Aber auf die | |
| aus „ihrer Gruppe“ lässt sie nichts kommen. Denen hat sie sogar das Kochen | |
| beigebracht: „Und heute haben die alle Jobs und sind gute Familienväter.“ | |
| Auch Fritz, der sich früh schon aus der rechten Szene gelöst hat, sagt, es | |
| sei ruhiger geworden in der Stadt. Die Glatzen seien gleichwohl immer noch | |
| da. Ihren Kindern geben sie heute seltsame Namen. Nennen sie etwa Ian, nach | |
| dem Gründer eines rechten Musiknetzwerks. | |
| Und die heute so alt sind wie er damals? „Seit Jugendclub und Disko weg | |
| sind, hängen die Kids am Marktplatz ab und starren auf ihre Smartphones. | |
| Denn dort gibt es jetzt Free WLAN.“ | |
| Ella arbeitet heute in Teilzeit. Als Fremdenführerin erklärt sie Touristen, | |
| wie sich in Wittstock am 4. Oktober 1636 Schweden und kursächsisches Heer | |
| ein regelrechtes Gemetzel lieferten. Dreißigjähriger Krieg. Erst 2007 haben | |
| Archäologen auf dem einstigen Schlachtfeld die Überreste eines Massengrabs | |
| freigelegt. | |
| ## 7 Prozent Arbeitslose und 20 Prozent AfD-Wähler | |
| Würde sie gern wieder im OTB arbeiten? „Sofort“, sagt sie, „da stimmte | |
| einfach das Soziale.“ Heute zählt Wittstock 7 Prozent Arbeitslose und 20 | |
| Prozent AfD-Wähler. Brandenburger Durchschnitt. Der Bürgermeister erklärt | |
| sich die Stärke der AfD mit der weitverbreiteten Stimmung der „zufriedenen | |
| Unzufriedenen“. Jörg Gehrmann, einst Lokomotivführer und bis zur Wende in | |
| der SED, ist schon zum zweiten Mal für acht Jahre als Parteiloser – mit | |
| Unterstützung der örtlichen CDU – gewählt worden. Einem gerade auf | |
| Landesebene diskutierten möglichen Bündnis von CDU und Linken nach der | |
| nächsten Landtagswahl kann er durchaus etwas abgewinnen, „wenn es hilft, | |
| andere Gruppierungen zu verhindern“. | |
| Und Ella alias Stupsy? Manchmal, erzählt sie, sei sie auch eine kleine | |
| Rassistin, „nur für ’ne Minute oder ein paar Sekunden“. Etwa, wenn bei d… | |
| Sparkasse vor ihr in der Schlange ein Flüchtling 840 Euro bar ausbezahlt | |
| bekommt. Mehr als sie mit ihrer Teilzeitstelle verdient. „Und der hat noch | |
| keinen Handschlag dafür gemacht, nüscht.“ Man kümmere sich um jeden, „bl… | |
| nicht um uns“, sagt sie, die „eigentlich keinen Neid“ kennt. | |
| Auf den Gedanken, AfD zu wählen, käme sie trotzdem nicht. Schließlich war | |
| ihre Heldin in der Politik einst die Sozialdemokratin Regine Hildebrandt. | |
| 3 Oct 2018 | |
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| Max Thomas Mehr | |
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