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# taz.de -- Debatte Ostdeutsche und Migranten (2): Mythos Besserossi
> Migranten und Ostdeutsche sind trotz ähnlicher Erfahrungen keine
> Schicksalsgemeinschaft. Die soziale Kluft verläuft anderswo.
Bild: Verläuft noch immer eine Mauer durch Deutschland? Und wenn ja, wen trenn…
Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan untersucht am Deutschen Zentrum
für Integrations- und Migrationsforschung, ob Ostdeutsche ähnliche
Diskriminierungen erleben wie Muslime. Die ersten Ergebnisse dieser Studie
sollen Ende des Jahres erscheinen. Das Gespräch „Ostdeutsche sind auch
Migranten“, welches der taz-Redakteur Daniel Schulz (*1979) und die
Migrationsforscherin Naika Foroutan (*1971) [1][kürzlich in dieser Zeitung
geführt haben], ist eine Art Preview. Und es ist bemerkenswert. Nicht wegen
der These, Ostdeutsche und Migranten verbänden Demütigungserfahrungen,
Heimatverlust und Fremdheitsgefühle. Diesen Vergleich haben in den
zurückliegenden Jahrzehnten bereits andere angestellt.
Das Gespräch ist spannend, weil hier zwei miteinander reden, die der
Generation Golf angehörten, wären sie denn Sprösslinge der westdeutschen
Mittelschicht. Einer Generation, die sich gerade anschickt, die gut
dotierten Jobs und die Machtzentralen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft
und Kultur unter sich aufzuteilen. Foroutan und Schulz gehören nicht zu
dieser behüteten Generation, die sich bislang dadurch auszeichnete, dass
sie eine sorgenfreie Jugend ohne große biografische Brüche durchlebte. Der
eine ist Ostdeutscher, die andere eine deutschiranische Wissenschaftlerin.
Das macht beide zu Angehörigen von Minderheiten in diesem Land. 30
Millionen Menschen in Deutschland haben einen ostdeutschen oder
Migrationshintergrund, aber die Wahrscheinlichkeit, es nach ganz oben zu
schaffen, ist gering.
Foroutan will sich damit nicht abfinden. Und sie stellt explizit und
implizit die wichtigen Fragen: Wie schaffen es die westdeutschen Eliten,
dass sie auch nach über sechzig Jahren der Einwanderung und dreißig Jahren
nach dem Fall der Mauer in den wirtschaftlichen, politischen und
gesellschaftlichen Leitungspositionen weitgehend unter sich bleiben? Wo
sind die gläsernen Decken im Land – für Frauen, Migranten, Muslime, soziale
Aufsteiger? Wie verteilt sich Vermögen? Wie vererbt sich Besitz?
Foroutan dekonstruiert Mechanismen, mittels deren die herrschenden
(westdeutschen) Eliten die migrantische und ostdeutsche Konkurrenz auf
Distanz zu den Zentren der Macht halten. Es sind die generalisierenden
Erzählungen der rückständigen, antimodernen und gewaltaffinen Muslime und
der rassistischen und antidemokratischen Ostdeutschen, die Millionen von
Ostdeutschen und Muslimen stigmatisieren und Westdeutsche moralisch
überhöhen. Es gibt viele Gründe, an Foroutans Seite zu stehen und gegen
diese infamen rassistischen und diskriminierenden Diskurse anzukämpfen.
Aber wer soll dies in welcher Form tun? 30 Millionen Ausgeschlossene, 30
Millionen Stigmatisierte – die Thesen von Naika Foroutan beflügeln
Fantasien. So träumt die Spiegel-Kolumnistin [2][Ferda Ataman] bereits
davon, dass die beiden Randgruppen, also Ostdeutsche und Migranten, näher
zusammenrücken, um sich gegen die „Wessifizierung“ zur Wehr zu setzen.
## Mehr als nur physische Grenzen überwinden
Das klingt gut, auch ein wenig lustig, wie das Ataman formuliert. Aber man
muss wahrscheinlich die Gnade der späten Geburt haben, um sich eine
Aktionseinheit zwischen diesen zwei Bevölkerungsgruppen vorstellen zu
können. Da müssen mehr als nur physische Grenzen überwunden werden. Wer,
wie der Autor dieser Zeilen, nicht nur die Wende, sondern auch den ganz
normalen Alltagsrassismus und die entfesselte rassistische und völkische
Straßengewalt im Ostdeutschland der neunziger Jahre miterlebte, der darf
schon mal mit Anetta Kahane fragen: „Ist bald jeder Opfer?“ Zeitzeugen der
Wendejahre wissen: Für den Rassismus der Ostdeutschen brauchte es nicht das
Herrschaftsgebaren der Westdeutschen, das haben sie von ganz allein
hinbekommen.
Die These „Ostdeutsche sind Migranten“ braucht eine historische Einordnung.
Nicht 2018, sondern kurz nach Öffnung der Mauer ähnelte die Situation der
Ostdeutschen ein wenig denen der Migranten. Sie sind über Nacht in ein
neues System eingewandert, binnen wenigen Monaten hatten sie eine neue
Währung, neue Chefs. Ihr altes Leben galt wenig. Und viele Westdeutsche
verhielten und verhalten sich gegenüber den Ostdeutschen ähnlich arrogant,
überheblich und paternalistisch wie gegenüber Migranten. Wer wollte, der
konnte den Eindruck gewinnen, die DDR würde vom Westen kolonialisiert.
Dies war nicht der Fall. Zur Erinnerung: Den Ostdeutschen ist nicht ihr
Land abhandengekommen. Sie selbst haben die Mauer eingerissen, sie riefen
„Wir sind ein Volk!“, sie wollten die D-Mark und auch den Kapitalismus. Und
sie wurden über Nacht zu Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland. Sie
konnten wählen, und sie haben sich entschieden. Diese Privilegien hatten
die Vertragsarbeiter aus Kuba, Mosambik und Vietnam nicht. Sie wurden
entlassen und schließlich ausgewiesen. Und auch die westdeutschen Migranten
mussten noch bis zur Reform des Staatsbürgerrechts im Jahr 2000 warten, bis
sie, unter bestimmten Voraussetzungen, einen Rechtsanspruch auf die
deutsche Staatsbürgerschaft hatten.
Es gibt weitere Argumente, die man der identitätspolitischen Konstruktion
Ostdeutsche/Migranten versus Westdeutsche entgegenhalten kann. Zum
Beispiel: Wie überzeugend ist die aus vermeintlicher ökonomischer Potenz
abgeleitete Hegemonie der Westdeutschen, wenn allein in Nordrhein-Westfalen
sowohl absolut als auch prozentual mehr Menschen von Hartz IV leben müssen
als in allen fünf neuen Ländern zusammen?
## Klassenverhältnisse statt Identitäten
Die bundesdeutsche Gesellschaft ist am Ende etwas zerklüfteter und
komplizierter, als es die trichotome Sicht auf
Westdeutsche/Migranten/Ostdeutsche auf den ersten Blick nahelegt.
Vielleicht lohnt es sich dann doch, sich ergänzend zu den
Identitätskonstruktionen mit den Klassenverhältnissen im Land zu
beschäftigen.
Aber auf die Studie bin ich trotz alledem sehr gespannt.
19 Jun 2018
## LINKS
[1] /Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987
[2] /Ferda-Ataman-ueber-Seehofers-Politik/!5513089
## AUTOREN
Eberhard Seidel
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