# taz.de -- Debatte Ost-Identität und Migration: Vom Land verlassen | |
> Die These „Ostdeutsche sind Migranten im eigenen Land“ trägt nicht weit. | |
> Zwar gibt es Gemeinsamkeiten, doch auch viele Wessis wurden „heimatlos“. | |
Bild: Hier hängt er noch, der leere Ährenkranz des einstigen DDR-Wappens. Inz… | |
Sind Ostdeutsche irgendwie auch Migranten? In der [1][taz am wochenende vom | |
12./13. Mai] vertrat die Migrationsforscherin Naika Foroutan die These, | |
dass Ostdeutsche von ihrem Land verlassen worden und daher auch in gewissem | |
Sinne Migranten seien. Im weiteren Verlauf des Interviews ging es dann aber | |
noch um mehr: um das Verhältnis der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu | |
Ostdeutschen und Migranten, das von Überlegenheitsanmaßung beziehungsweise | |
mangelnder Anerkennung („Jammer-Ossis“) gekennzeichnet sei und | |
Ähnlichkeiten mit ausländerfeindlichen Einstellungen aufweise. Eine | |
interessante These, die spontan von vielen älteren Ostdeutschen geteilt | |
wird. Aber wie weit trägt sie? Und was bezweckt sie? | |
Zunächst haben die beiden Themen „Migrationserfahrung“ und „ostdeutsche | |
Identität“ eine starke Gemeinsamkeit: Die deutsche Wiedervereinigung und | |
das Eingeständnis, in einer Einwanderungsgesellschaft zu leben, trafen | |
beide die deutsche Gesellschaft unvorbereitet und wie ein Schock. Aus der | |
gemütlichen und weitgehend homogenen Welt der westdeutschen Bundesrepublik | |
einerseits und der DDR anderseits wurde in den letzten drei Jahrzehnten | |
eine multikulturelle, regional stark ausdifferenzierte, weitgehend säkulare | |
sowie verunsicherte Wohlstandsgesellschaft. | |
Das gilt im Übrigen für Ost- wie Westdeutschland. Nicht nur die | |
Ostdeutschen haben ihre Heimat verloren und haben Sehnsuchtsorte und | |
Fremdheitsgefühle. Breite Gesellschaftsschichten in Deutschland sehen sich | |
heute in ihren Heimatstädten und Gemeinden um und entdecken einen | |
tiefgreifenden Wandel. Stadtteile und ganze Städte sind erblüht (dazu | |
gehören eine Reihe ostdeutscher Städte), andere verelenden vor unseren | |
Augen, zum Beispiel im Ruhrgebiet. | |
Frühere Gewissheiten, etwa über den Wert beruflicher Bildung, sind in dem | |
Maße abhandengekommen, wie sich der Niedriglohnsektor auch in | |
qualifizierten Berufen ausgebreitet hat. Das Arbeitsleben ist unsicherer | |
geworden und wir erleben trotz Vollbeschäftigung einen großen | |
Diskussionsbedarf über Themen wie soziale Gerechtigkeit, Pflegenotstand und | |
die Verwahrlosung öffentlicher Infrastruktur, aber auch Wohnungsknappheit | |
und Armut. Die Frage nach Anerkennung, Lebensleistung und Abwertung trifft | |
daher eine große Gruppe Deutscher und hat nicht wenig zum Wahlerfolg der | |
AfD in Ost- und Westdeutschland beigetragen. | |
Dieser Befund soll nicht die spezifischen Formen der Diskriminierung von | |
Ostdeutschen und Migranten unter den Teppich kehren, denn die gibt es in | |
der Tat. Im Vergleich zu vielen anderen Einwanderungsgesellschaften der | |
OECD tut sich Deutschland schwerer damit, Migranten der zweiten und dritten | |
Generation einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Die Gründe dafür sind | |
nicht so schwer zu finden: Es hat mit der Schulstruktur zu tun, mit der | |
Herkunft der Migranten, dem fehlenden Einwanderungsgesetz und dem stärker | |
familienorientierten statt staatlich organisierten Sozialsystem, das der | |
Familie eine große Bürde für die Entwicklung ihrer Kinder aufhalst. Die | |
angelsächsischen Einwanderungsländer mit ihren generalistischen | |
Bildungssystemen und einer stärkeren Auswahl der Einwanderer tun sich da | |
erheblich leichter. | |
## Brüche im Lebenslauf | |
Gleichzeitig wissen wir auch, dass mindestens zwei ostdeutsche Generationen | |
den Verlust ihrer Qualifikationen verkraften und mit praktisch keinem | |
geerbten Vermögen in ihr neues Leben im vereinten Deutschland starten | |
mussten. Dies führte zu Brüchen im Lebenslauf und zu schlechteren | |
Ausgangsbedingungen, die dann durch selbstbewusste „Besserwessis“ auch | |
fraglos ausgebeutet wurden. Viele, die im Westen nicht reüssieren konnten, | |
haben im Osten eine zweite Karriere gemacht – nur weil sie ein | |
westdeutsches Diplom mitbrachten. Diese Erfahrungen waren und sind | |
zweifelsohne bitter und ungerecht. | |
Allerdings sollte man diese Erfahrungen nicht in dem ganz großen Diskurs | |
über Identität und Fremdheit aufgehen lassen. Wohin man nur schaut, sieht | |
man im ganzen Land Debatten über Identitäten, Zugehörigkeit, Fremdheit und | |
Heimat, aber auch Vorurteile, Diskriminierung und Teilhabe. Die CSU hat ein | |
Heimatministerium kreiert und hängt Kreuze in bayerischen Amtsstuben auf, | |
während junge Musliminnen auf das Recht, ihren Referendardienst mit | |
Kopftuch absolvieren zu können, klagen. | |
Gleichzeitig ist die Zusammensetzung des Bundestags so männlich wie schon | |
lange nicht mehr, weder im Wirtschaftsministerium noch im Heimatministerium | |
findet sich auf der Ebene der Staatssekretäre eine Frau, und Ostdeutsche | |
wie auch Deutsche mit Migrationshintergrund finden sich im Kabinett fast | |
nicht wieder. Schon jetzt hat die Verunsicherung der Gesellschaft in der | |
Politik zu einem Backlash geführt: die AfD sät ihr Gift der Spaltung gegen | |
die Errungenschaften von Feminismus, MenschenrechtsaktivistInnen und die | |
multikulturelle Gesellschaft – und es setzt eine Gewöhnung an einen | |
verrohten Umgangston in der Politik ein. | |
## Ein lebensverändernder Einschnitt | |
Ist eine noch stärkere Betonung von Gruppenzugehörigkeiten, | |
Diskriminierungserfahrungen und eine Allianz der vermeintlich und | |
tatsächlich Heimatlosen die Antwort darauf? Sollte man Entwicklungen | |
positiv kommentieren, in denen Migranten der dritten Generation ihr | |
vorrangiges Selbstverständnis aus der Migrationserfahrung ihrer Großeltern | |
beziehen? Sollte man Ostdeutsche ermuntern sich in ähnlicher Weise auf ihre | |
Geburt oder ihre Familiengeschichte in Ostdeutschland zu konzentrieren? | |
Sollten die heute erwachsenen Ostdeutschen sich für ihre Identität auf den | |
ohne Zweifel lebensverändernden Einschnitt der deutschen Einheit, der die | |
Welt ihrer Eltern von Grund auf ins Wanken brachte, fokussieren? Sollten | |
die heimatlos gewordenen Westdeutschen, die am Niedriglohnsektor in ihrer | |
Region verzweifeln oder die aufgrund hoher Mieten aus ihrer Geburtsstadt | |
wegziehen müssen, ihre eigene Heimatlosigkeit zu einer eigenen Identität | |
der sozial Vertriebenen machen? | |
Ohne die sozialen, ethnischen oder regionalen Gruppenzugehörigkeiten und | |
Identitäten leugnen zu wollen oder zu können, ist der Weg nicht die Allianz | |
der Minderheiten gegen eine vermeintlich homogene und überlegene | |
Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr leben wir alle mit verschiedenen, | |
widersprüchlichen und sich überlappenden Identitäten, die uns für eine | |
gegenseitige Öffnung sensibilisieren sollten anstatt für die Schließung. Ob | |
ich mich als Weiße, Frau, Christin, Mutter, Westdeutsche oder als | |
Arbeiterkind sehe, ist primär meine Entscheidung und wird mir nur zum Teil | |
durch gesellschaftliche Zuschreibung nahegelegt. | |
Diese Entscheidung ist jedoch wichtig für mein eigenes Selbstwertgefühl im | |
Hinblick auf die eigene Verletzbarkeit gegenüber Diskriminierung und | |
Abwertung. Sie ist zudem relevant für Fragen der Solidarisierung mit | |
anderen und für die politische Mobilisierbarkeit. Wir brauchen alle mehr | |
Gewissheit als Unsicherheit, mehr Wertschätzung als Abwertung und mehr | |
soziale Chancen als Diskriminierung. Das Mittel dazu sind bessere Schulen, | |
mehr Sensibilität und Bildung wie auch bessere Arbeitsbedingungen, Zugang | |
zu bezahlbarem Wohnraum, gute Löhne und Fairness in der Gesellschaft. Dann | |
würden sich viele Fragen der Identität ganz anders stellen. | |
27 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Anke Hassel | |
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