# taz.de -- Debatte Ossis streben nach Freiheit: Extremisten der Freiheit | |
> Die Ostdeutschen sind nicht im gelobten Land der Freiheit angekommen – | |
> sondern nur in der Bundesrepublik. Sie müssen lernen, pragmatisch zu | |
> sein. | |
Bild: Ossis wollten in Richtung „Große Freiheit“ – landeten letztendlich… | |
Berlin taz | Das Leiden vieler Ossis in dieser Zeit könnte auf einem | |
Missverständnis beruhen. Sie kultivieren einen „falschen“ Freiheitsbegriff | |
– und verstehen damit auch die parlamentarische Demokratie „falsch“. Das | |
bedeutet nicht, dass sie Antidemokraten sind. Im Gegenteil: Nach dem | |
Mauerfall und wahrscheinlich schon davor hat sich ein extrem idealistischer | |
Freiheitsbegriff in den Köpfen verankert. Nach dem Leben in einer | |
repressiven DDR und dem Ablegen des engen Korsetts, das den Ossis von Staat | |
und Stasi aufgezwungen wurde, war die Freiheit für die Unfreien alles. Sie | |
war das Zentralgestirn, um das alle Gedanken kreisten. Man könnte auch | |
sagen: Die Freiheit, vor allem die Freiheit des Einzelnen, wurde geradezu | |
kultisch verehrt. | |
Eigentlich ging es um nichts anderes als um die ganze Bandbreite der | |
Bürgerrechte: Sagen, was man denkt, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. | |
Schreiben, was man will, ohne in Selbstzensur zu ersticken. Reisen, wohin | |
man will, statt immer nur die Staaten des Rates für gegenseitige | |
Wirtschaftshilfe (RGW) abklappern zu müssen. Tun und lassen, was man will, | |
ohne die Gängelei von oben erfahren zu müssen. Abgeordnete wählen zu | |
können, die nicht zur Nationalen Front (NF), zu dem Zusammenschluss von | |
Parteien und Massenorganisationen in der DDR, gehören. Regierungen abwählen | |
zu können, weil man mit ihnen unzufrieden ist. Geld in der Tasche zu haben, | |
mit dem man wirklich alles kaufen kann. | |
Der Mauerfall ging für den gelernten DDR-Bürger, der die Last des | |
Gruppendrucks bei jeder Bewegung spürte, mit der Entdeckung seiner selbst | |
einher: Ich bin frei. Ich habe Rechte, die meine Freiheit schützen. In | |
dieser neuen Gesellschaft wird alles anders für mich. Ich kann mich | |
entfalten und in der Öffentlichkeit zeigen, wer ich wirklich bin. Ich kann | |
reisen und mitbestimmen. Leute, die glauben, mir sagen zu müssen, was | |
falsch und richtig ist, können mir den Buckel runterrutschen. Ich bin | |
endlich nicht mehr in diesem Doppelsprech gefangen. | |
In der Gorbi-Ära und erst recht nach dem Mauerfall lebten viele Menschen in | |
Anklam oder Aue ihren kleinen Rausch der Freiheit, der meist nur ein Rausch | |
der Gedanken war. Und wie das so ist im Leben, folgt auf den Rausch die | |
Ernüchterung. Man kam nicht im gelobten Land der Freiheit an – sondern nur | |
in der Bundesrepublik. Kein schlechtes Land, gewiss, aber den Extremisten | |
der Freiheit, also den Leuten im Osten mit den übersteigerten Erwartungen, | |
kam es irgendwann doch wie ein sehr normales Land vor. | |
## Freiheit endete auf Mallorca | |
Die Freiheit mag dem Einzelnen Urlaube in Mallorca und Ibiza ermöglicht | |
haben, aber wenn er nicht über rhetorisches Geschick verfügte, dann wurde | |
seine Stimme eher nicht gehört – vor allem wenn er sich ins Heer der | |
Arbeitslosen einreihen musste. Hatte er einen Job, dann erlebte der | |
idealistische Ossi nicht selten, wie er bei seinem Arbeitgeber | |
untergebuttert wurde. Ein offenes Wort an den Vorgesetzten? Nicht | |
erwünscht. Er lernte: Im Arbeitsumfeld halte ich lieber die Klappe, es wird | |
nicht gern gesehen, wenn ich dort das Recht auf freie Meinungsäußerung | |
reklamiere. | |
Der idealistische Ossi fühlte sich zurückgeworfen. Er war gezwungen, | |
regressiv zu handeln. In der neuen Zeit jonglierte er wieder mit alten | |
Versatzstücken: Anpassung, Opportunismus, Duckmäusertum. Blöd auch, dass | |
der alte Zusammenhalt, den er zu DDR-Zeiten im Heer der stillen Opposition | |
gefunden hatte, nicht mehr da war. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. | |
Die Individualisierung hatte zu einer Atomisierung geführt – ein | |
Kollateralschaden der Freiheit. Kurzum: Der idealistische Ossi war | |
enttäuscht. Das ist er immer noch. Jetzt ist er sogar manchmal wütend. | |
Warum? Weil er gesehen hat, dass Freiheit eben nicht das Einzige ist, was | |
zählt, und dass Freiheit auch nicht immer die Freiheit des Andersdenkenden | |
ist. Der idealistische Ossi schiebt Frust über sein Freiheitskonzept, das | |
sich, findet er, im Konkreten ebenso wenig hat durchsetzen können wie der | |
Sozialismus als Staatsentwurf. | |
Er fühlt sich neuerlich bevormundet von einem überfürsorglichen, | |
pädagogischen Staat, der ihm Vorschriften macht und in seinen wacker | |
behaupteten Freiheitsbereich eindringt. Ja, dieser Staat schickt sogar | |
einfach so Flüchtlinge in seine Dörfer und Städte, was ihm suspekt ist, | |
weil er gar nicht hat mitbestimmen können bei der Auswahl seiner neuen | |
Mitmenschen. Sie sind wie eine Urgewalt über ihn gekommen. | |
## Nationale Front reloaded | |
Es sind daneben aber auch ganz banale Dinge wie Rauchverbote oder die | |
drohende Gefahr, mit dem alten Diesel nicht mehr in die Stadt fahren zu | |
können, die er unter Unfreiheit rubriziert. Es ist die Angst, mit seinem | |
digitalen Fußabdruck für Leute sichtbar zu sein, von denen er nicht gesehen | |
werden will. Es sind Klagen über die vergleichsweise hohe Steuerquote in | |
Deutschland und über etablierte Parteien, die alle irgendwie gleich drauf | |
sind und im idealistischen Ossi, der unter Freiheit auch die Vielfalt von | |
Meinungen versteht, Erinnerungen an die Nationale Front wecken. | |
Es ist ja Fakt: Die Hand des Staates, der sich als ein Wesen versteht, das | |
den Bürgen sagt, wo es langgeht, ist seit dem Mauerfall stärker geworden. | |
Dieses Prinzip übernehmen manche Medien, die für sich den Wert der | |
Pädagogik entdeckt haben. Auch sie belehren den Bürger gern mal. Es ist | |
kein Wunder, dass sich der idealistische Ossi wieder gegängelt fühlt. Er | |
erkennt Muster aus der Vergangenheit und sagt sich: Das hatten wir doch | |
schon mal, da will ich nicht wieder hin. | |
Die Tragik des idealistischen Ossis, der seine Freiheit so sehr liebt, ist | |
freilich, dass er in seiner Verehrung der reinen Lehre den schlimmsten | |
aller Fehler begeht: Er marschiert bisweilen mit Feinden der Freiheit in | |
einer Kolonne, mit Verfassungsfeinden, weil er meint, sich die Freiheit | |
nehmen zu können. Schlimmer könnte der Verrat an seinen Idealen nicht sein. | |
Es geht nur so: Der Ossi muss vom Romantiker der Freiheit zum Pragmatiker | |
der Freiheit werden. | |
25 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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