Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Historiker über die Treuhand: „Es gab Proteste, Streiks, Drohbri…
> Marcus Böick hat die erste zeithistorische Untersuchung zur Treuhand
> geschrieben. Er sagt: Die Verletzungen von damals bestimmen die Politik
> von heute.
Bild: Marcus Böick am Berliner Alexanderplatz. Hier hatte die Treuhand ihren S…
taz am wochenende: Herr Böick, Sie haben für Ihr Buch über die Treuhand mit
einstigen Mitarbeitern dieser Megabehörde gesprochen. Zwischen 1990 und
1994 haben dort 4.000 Menschen an der Abwicklung der DDR-Wirtschaft
gearbeitet. Was waren das für Leute?
Marcus Böick: Das war ein soziokulturelles Wimmelbild. Meine Interviews
haben mich vom Ostberliner Plattenbau bis in die Villengegenden von
Frankfurt, Hamburg oder München geführt. In Marzahn haben mich ältere
ostdeutsche Treuhandmitarbeiter zu einer Bockwurstsuppe eingeladen; in
Frankfurt haben mir ehemalige Direktoren mit Blick über die Skyline
erzählt, wie sie diese Zeit erlebt haben. Allein das zeigt die Bandbreite
dieses Themas, die Pluralität des Personals.
Was war die Motivation der westdeutschen Führungskräfte? Warum sind die
nach Ostberlin gekommen, sind in lausige Büros marschiert, mit schlechtem
Essen vor der Tür? Die sogenannte Buschzulage für Westdeutsche, die im
Osten arbeiteten, kann ja nicht ausschlaggebend gewesen sein.
In der polemischen Auseinandersetzung werden natürlich solche Sachen wie
die Buschzulage in den Vordergrund gerückt. Und klar, bei manchen jüngeren
westdeutschen Nachwuchskräften spielte es eine Rolle, dass man sehr viel
Geld bei der Treuhandanstalt verdienen konnte.
Konnte man?
Konnte man durchaus. Als westdeutscher Direktor oder Abteilungsleiter hat
man für öffentliche Verhältnisse sehr gut verdient. Der Bundesrechnungshof
hat zu dieser Frage diverse wütende Gutachten geschrieben. Aber die
Treuhand hat immer gesagt: Wenn wir Spitzenpersonal haben wollen, müssen
wir auch Spitzenpersonal bezahlen.
Und, kam Spitzenpersonal?
Durchaus. Aber um auf die Motivation zurückzukommen: Es gab unter diesen
Leuten viele Manager, für die stand nicht das Geld im Vordergrund. Manche
hatten eine patriotische Motivlage: Ich pack jetzt mal an für Deutschland.
Diese Antwort kam bei meinen Befragungen so oft, die sollte man ernst
nehmen, finde ich. Es gab Manager, die sagen heute: Mich hat einzig die
superspannende Aufgabe interessiert, ich hatte mit Schwarz-Rot-Gold nichts
am Hut. Und es gab Leute, die fanden es gut, jetzt endlich Schluss machen
zu können mit der Planwirtschaft. Die wollten die Marktwirtschaft nach
Ostdeutschland bringen.
Wie bewerten diese Manager im Nachgang das Jonglieren mit der Zukunft von
Millionen Menschen?
Ambivalent. Auf der einen Seite empfinden sie ihre Treuhandzeit als einen,
wenn nicht sogar den Höhepunkt ihrer Berufslaufbahn. Da waren Sachen
möglich, die weder vorher noch danach möglich gewesen wären. Genau das war
übrigens später für die jungen Treuhandmitarbeiter ein großes Problem. Die
waren um die dreißig und hatten das Gefühl, beruflich das Beste schon
hinter sich zu haben.
Und wie bewerten die ostdeutschen Treuhandmitarbeiter das Erreichte?
Die Mehrheit der Treuhandmitarbeiter waren in der Tat ältere Ostdeutsche,
meist aus den aufgelösten Plankommissionen und Branchenministerien. Diese
Leute waren meist sehr froh, der im Jahr 1990 drohenden Arbeitslosigkeit
entgangen zu sein und beim Umbau ihr Wissen über die Branchen und Betriebe
einbringen zu können. Aber gerade von den Ostmitarbeitern werden die
massiven sozialen Konsequenzen des scharfen Privatisierungskurses sehr
häufig hervorgehoben.
Eine richtige Gossip-Frage: Koks und Nutten. Gab es das bei der Treuhand?
Das gab es, ja. Gerade die jüngeren Nachwuchsmanager hatten im
Nachwende-Berlin eine gute Zeit. Die haben im Hotel gewohnt, haben sehr
viel Geld verdient. Die gingen in die angesagten Clubs, tranken Cocktails
und prahlten dort, was sie heute wieder alles bewegt haben. Dieses
Yuppie-Klischee ist zwar ein gängiges Vorurteil, aber es hat natürlich eine
gewisse Erdung gehabt.
Das klingt nach einer sehr männlichen Unternehmenskultur.
Die Treuhandanstalt war auch gendermäßig ein total interessantes Gebilde.
Die obere und mittlere Ebene war nahezu komplett männlich besetzt, auf der
untergeordneten arbeiteten Frauen, ostdeutsche Frauen. Für deren
Vorgesetzte war das spannend. Und klar, da gab es auch einiges an, sagen
wir mal, Interaktion auf einer privaten Ebene. In einem Interview hat ein
Manager offenherzig über seine soziale Belastung gesprochen. Er war immer
weg, im Osten, und wenn er am Wochenende nach Hause kam, fiel er sofort ins
Bett. Seine Frau und die Kinder hörten nur die ganzen Horrorstorys aus den
Medien. Und der Vater kam dann am Wochenende nach Hause …
… kam wie so ein Verbrecher nach Hause…
… ja, fiel ins Bett und fuhr dann wieder zurück nach Ostberlin. Und dort
waren die neuen ostdeutschen Frauen, die für ihn einen anderen Frauentypus
repräsentierten. Zu Hause saß die Hausfrau des Versorgers und im Büro die
burschikose Ostfrau. Das erzeugte natürlich eine ganz eigentümliche
Genderdynamik. Die Treuhandchefin Birgit Breuel war die Ausnahme, die die
Regel absolut bestätigt hat.
Birgit Breuel war eine im Osten gehasste Person. Es gab erniedrigende
frauenfeindliche Karikaturen und Witze über sie. Was wissen Sie über Frau
Breuels Sicht auf diese Zeit?
Ich hatte einmal die Gelegenheit, persönlich mit Birgit Breuel zu sprechen.
Sie äußert sich eigentlich kaum noch öffentlich. Mein Eindruck ist, die
Zeit hat bei ihr massive Verwundungen hinterlassen. Sie hat das natürlich
alles registriert. Und man muss rückblickend sagen, dass der Ton gerade
auch von links brutal war: das hässliche Gesicht der Privatisierung, die
kalte Frau, die deutsche Maggie Thatcher, die Rabenmutter. Das volle
Repertoire.
Das erinnert an die heutige Kritik von rechts an Angela Merkel.
Genau, wie bei Merkel. Die beiden sind übrigens befreundet. Ich habe Birgit
Breuel gefragt: Was macht das eigentlich mit Ihnen als Frau? Jeder Artikel,
der von Ihnen handelt, beschreibt erst mal Ihr Äußeres. Da hat sie
sinngemäß gesagt: Ein toller Mann ist halt ein toller, erfolgreicher Mann;
und eine tolle, erfolgreiche Frau ist im Blick der Medien keine Frau mehr.
Das hat sie umgetrieben. Sie war in den siebziger, achtziger Jahren eine
neoliberale Nachwuchspolitikerin, hatte eine steile politische Karriere
hinter sich. Aber man merkt schon, dass diese extreme Treuhandzeit sie noch
einmal verändert hat. Sie hat Jahre unter Personenschutz gelebt und war mit
massiven Vorhaltungen konfrontiert.
Breuels Vorgänger, Detlev Rohwedder, wurde 1991 von der RAF ermordet, die
Täter sind bis heute unbekannt. Musste man Angst haben, wenn man für die
Treuhand arbeitete, auch wenn man nicht der Chef war?
Definitiv. Es hat zum Beispiel immense Probleme bereitet, einen Nachfolger
für den erschossenen Detlev Rohwedder zu finden. Viele, die infrage
gekommen wären, haben gesagt: zu gefährlich. Auch andere mussten Angst
haben, wenn auch nicht um das eigene Leben. Wenn man als Treuhandmanager in
die Betriebe gefahren ist und dort die Abwicklung zu verkünden hatte, waren
das grenzwertige Situationen. Es gab auch etliche Versuche, das
Treuhandgebäude zu besetzen, mit Eiern zu bewerfen, die Straße davor zu
blockieren. Es gab Proteste, Streiks, Drohbriefe. Alles.
Wie fühlte sich das für die ostdeutschen Mitarbeiter an, wenn draußen ihre
eigenen Leute protestiert haben?
Die waren zwischen Baum und Borke. Manche haben niemandem erzählt, dass sie
für die Treuhand arbeiten. Und wenn doch, gab das im Freundeskreis, im
Familienkreis ganz erhebliche Konflikte. Einfach weil man den Ruf hatte,
Kollaborateur zu sein. Diese Verschworenheit nach innen hat die
Treuhandmitarbeiter übrigens durchaus zusammengeschweißt. Man stand
gemeinsam an der östlichen Front und wurde beschossen.
Wenn die Sprache auf die Treuhand kommt, sagen selbst manche Ostdeutsche
heute, sie sei alternativlos gewesen. Die DDR-Wirtschaft sei am Boden
gewesen, marode. Stimmt das?
Das ist ein ganz heißes Eisen. Es wird bis heute darüber gestritten, wie
viel wert war denn das, was da eigentlich zu Buche stand bei der Treuhand
1990? Es gibt viele Zahlen, die durch den Raum geistern. Der
DDR-Regierungschef, Hans Modrow, sprach von 1.000 Milliarden Mark, die das
Volksvermögen wert war, Detlev Rohwedder nannte 600 Milliarden Mark. Am
Ende aber schloss die Treuhandanstalt mit einem Defizit von über 250
Milliarden D-Mark ab. Was man daran sehen kann, ist die – abstrakt
gesprochen – Kontextgebundenheit von Wertzuschreibung.
Geht das ein bisschen konkreter?
Das geht. Etwas, was eben noch viel wert sein kann, kann unter veränderten
wirtschaftspolitischen Bedingungen nichts mehr wert sein. Der ehemalige
Chef der SPD-Volkskammerfraktion, Richard Schröder, erzählt gern von seinem
Wartburg, der bis zum Mauerfall sein größter Schatz war. Und wenig später
hat er ihn nicht mal mehr verschenkt bekommen. In Bezug auf die
DDR-Ökonomie war der 1. Juli 1990, der Tag der Wirtschafts- und
Währungsunion, eine Art Tag des Jüngsten Gerichts. Sie müssen sich
vorstellen: Die DDR-Planwirtschaft, die ohnehin viele strukturelle und
ökologische Probleme hatte, sehr schlecht eingebettet war in internationale
arbeitsteilige Prozesse – die geriet durch die Währungsunion natürlich
völlig ins Hintertreffen. Die DDR-Betriebe mussten auf einmal ihre Löhne in
D-Mark bezahlen, aber die hatten sie nicht …
… während gleichzeitig die Leute ihre Möbel, ihre Waschmaschinen auf die
Straße geschmissen haben.
Genau. Die Leute wollten kaufen, Westwaren kaufen. Und die Treuhand
verschaffte den Betrieben kurzfristig die nötige Liquidität. Innerhalb
weniger Monate wurden 20, 30 Milliarden Mark mit der Gießkanne verteilt.
Das Argument der Politik war: Wenn wir das Geld nicht zahlen, gibt es
Volksaufstände. Die westdeutsche Öffentlichkeit hatte ohnehin große Angst,
dass jetzt Ostdeutsche in Strömen über die offene Grenze nach
Westdeutschland kommen. In den Wohnungsmarkt, in den Arbeitsmarkt und so
weiter. Und die hätte man damals nicht an der Grenze zurückweisen können,
das waren ja Landsleute. Deshalb sagte man, okay, wir müssen den Wohlstand
schnell zu den Leuten bringen. Also: Bleibt da, ihr kriegt die D-Mark. Dann
gibt es auch bei euch sehr bald ein zweites deutsches Wirtschaftswunder.
Aber das hat nicht funktioniert.
Das hat überhaupt nicht funktioniert. Aber man hat im Frühjahr 1990 daran
geglaubt.
Dieser Glaube an ein zweites Wirtschaftswunder – war das Idiotie?
Das würde ich nicht sagen. Ich habe eher den Eindruck, man war
orientierungslos. Überwältigt. In Bonn regierten zu dieser Zeit
wirtschaftsliberale Politiker wie Horst Köhler und Thilo Sarrazin. Deren
zentrale Jugend- und Kindheitserfahrung war der Nachkriegs-Boom, das
Wirtschaftswunder, mit Ludwig Erhard als zentraler Figur. Und diese Leute
standen im Frühjahr 1990 vor einer historischen Situation. Von allen Seiten
kamen Vorschläge: Lasst die DDR erst mal weitermachen, gebt den Kombinaten
Handlungsspielraum, vereinbart internationale Joint Ventures, holt die
Japaner ran. Solche Geschichten. Am Ende griffen die Ministerialbeamten in
Bonn auf Ludwig Erhard zurück. Dessen Credo war: Lasst die Marktkräfte
walten, haltet die Politik da so weit wie möglich raus – dann gibt es das
Wirtschaftswunder.
Hat ja schließlich schon mal funktioniert.
Genau. Wenn man auf einmal achttausend volkswirtschaftliche Betriebe vor
die Tür gekippt bekommt, scheint es sehr attraktiv, den freien Markt walten
zu lassen. Die Westdeutschen empfanden das als Verheißung: Wir wissen was
wir tun, und es wird nichts kosten. Denn das war die Angst, die sie total
umtrieb: wegen der Ossis Wohlstandseinbußen zu haben. Stattdessen hat man
sich selbst beschwichtigt: Da entsteht jetzt ein sich selbst tragender
Aufschwung, die blühenden Landschaften kommen, keiner muss dafür bezahlen.
Und für die Ostdeutschen war die Idee ebenfalls sehr attraktiv. Die
dachten, es gibt so einen Urknall, wenn die westdeutschen
Wirtschaftswunderdoktoren kommen. Da ruckelt das mal ein paar Wochen. Und
dann auf einmal sind die Läden voll, alle haben Arbeit und das Leben geht
weiter. Nur besser.
Sind wir ein naives Volk?
Die Deutschen sind nicht naiv. Mein Eindruck ist: Die Deutschen kennen oft
keine Mittellagen. Sie sind entweder ganz oben oder ganz unten. Ob bei der
Währungsunion, in der Flüchtlingskrise oder zuletzt bei der Fußball-WM: nur
im Himmel oder gleich in der Hölle. Dazwischen gibt es kaum Normaltöne.
1990 schlug das binnen wenigen Monaten komplett um. Von völliger Euphorie
über die Wiedervereinigung hin zu totaler Ernüchterung und Ablehnung. Das
Gleiche hat sich 2015 abgespielt. Ist das naiv? Ich weiß es nicht.
Vielleicht ist es dialektisch.
Sind die Ostdeutschen Opfer der Treuhand? Ist dieses Gefühl berechtigt?
Ich tue mich schwer mit diesem Begriff. Man muss das zeithistorisch
betrachten. Was man sagen kann, ist, dass damals Ostdeutsche nicht in dem
Maße bei den Privatisierungen zum Zuge gekommen sind, wie sich selbst die
Treuhandführung das erhofft hatte. Nur ganz wenige Ostdeutsche konnten
Betriebe übernehmen, schon weil ihnen das Geld dafür fehlte. Und dieses
Gefühl, nicht richtig beteiligt worden zu sein, das bohrt. Stattdessen
bekam man westdeutsche Vorgesetzte, man wurde entlassen, in Kurzarbeit oder
Frührente geschickt. Wer keine Arbeit mehr fand, wurde in oft endlose
Bewerbungstrainings oder sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gesteckt.
Man hat hier sehr viele sozialpolitische Instrumente eingesetzt, die aber
das subjektive Entwertungsgefühl vieler Menschen nicht kompensieren
konnten.
Was bleibt davon im gesellschaftlichen Gedächtnis?
Die Selbstwahrnehmung der Ostdeutschen als Opfer, als Bürger zweiter
Klasse. Das ist sehr präsent, und das sollte man auch durchaus ernst
nehmen, ohne es abzutun. Es ist ein Faktum. Man kann natürlich sagen: Warum
jammert ihr? Ihr habt die Transfermilliarden bekommen, im Vergleich zu
anderen Tranformationsländern in Osteuropa seid ihr weich gefallen. Aber es
geht da nicht nur um materielle Fragen, sondern vor allem um symbolische.
Wenn Sie mit Ihrem Buch in Ostdeutschland auftreten, wie sind dann die
Reaktionen?
In Ostdeutschland bekommt man auch in kleineren Städten bei perfektem
Sommerwetter schnell sechzig Leute in einen überhitzten Saal. Die lauschen
andächtig und haben dann ein großes Bedürfnis, darüber zu reden. Die sind
froh, dass sie über ihre Umbrucherfahrungen sprechen dürfen.
Aber das dürfen sie doch.
Natürlich. Und sie tun es auch sehr intensiv im Privaten. Aber in der
Medienöffentlichkeit, auch in der wissenschaftlichen und politischen
Öffentlichkeit spielen diese Ost-West-Themen, diese intensiven
Umbrucherfahrungen kaum eine Rolle. Das fängt bei der Bundesregierung an,
bei der Bundeskanzlerin. Und das setzt sich fort in einem weitgehenden
Desinteresse in Westdeutschland.
Wie ist denn dort die Reaktion auf Ihre Forschungsergebnisse?
Da ist Desinteresse, aber auch viel Unsicherheit und Unwissenheit. Im
Westen weiß man im Prinzip nicht, was eigentlich im Osten in den neunziger
Jahren passiert ist. Man kennt die Schlagworte, aber es scheint so ein
verbrauchtes, verbranntes Thema. Es wird bei Lesungen im Westen viel über
Transfermilliarden gesprochen, über Undankbarkeit und Rechtsextremismus.
Aber insgesamt ist die Treuhand kein Thema, das die Leute im Westen des
Landes mobilisiert. Und das ist Teil des Problems: Jeder bleibt in seiner
Echokammer. Denn es ist klar erkennbar: Dieser Ost-West-Gegensatz ist eine
zentrale gesellschaftliche Konfliktlinie in Deutschland, die keine
politische Repräsentanz findet.
Es gibt einen [1][Ostbeauftragten der Bundesregierung]. Das ist doch was.
Das ist natürlich Symbolpolitik. Fakt ist, die Bundesregierung erkennt das
Ostthema als solches nicht an. Und wenn, wird es immer sehr hysterisch
verhandelt – wenn es um AfD-Erfolge geht oder um Fremdenfeindlichkeit und
Gewalt. Das ist natürlich wichtig, aber eine völlig einseitige Perspektive.
Wenn man Ihnen so zuhört, erscheinen die frühen neunziger Jahre als eine
harte Zeit.
Eine sehr harte Zeit. Es ist keine reine Erfolgsgeschichte, das muss man
ehrlich sagen. Und das macht es natürlich schwierig, damit umzugehen. Man
kann es geschichtspolitisch nicht instrumentalisieren in der Form, dass
man sagt: Wir sind stolz darauf, was da passiert ist. Es sind viele Fehler
gemacht worden. Viele Erwartungen sind massiv enttäuscht worden. Und
deshalb eignet sich das natürlich nicht zur nationalen Mythenbildung, im
Gegenteil. Es bilden sich gesellschaftliche Gegenmythen. Die Bundespolitik
macht bis heute einen Bogen drum. Da wird dann immer formelhaft geredet von
den Anstrengungen, die die Ostdeutschen unternommen haben und so weiter.
Aber was konkret passiert ist, das wurde unter den Teppich gekehrt.
Es hat aber doch irgendwie geklappt.
Ja, hat doch geklappt, und was wollen die Ossis eigentlich? Der Konsum
läuft, sie können reisen, sie können wählen. Aber so einfach ist es eben
nicht. Das eine war das Management, das andere ist das Problembewusstsein.
Es hätte gerade auch eine kulturelle Begleitung gebraucht. Man hätte die
Menschen mitnehmen müssen, ihnen erklären, was mit ihnen passiert, wo man
letztlich auch gemeinsam in Ost und West hinmöchte.
Das klingt, als seien die Ostdeutschen eine schützenswerte Spezies.
Es gibt eine Reihe von Autoren, die sagen, die Ostdeutschen sind bis heute
eine große Minderheit in Deutschland, so wie auch Menschen mit
Migrationshintergrund oder andere Gruppen. Dieser Vergleich ist sehr
unscharf, weil Ostdeutsche schon mal andere Startvorteile hatten, etwa beim
Wahlrecht. Aber von der Grundfrage her lohnt es, das mal so zu betrachten.
Man kann durchaus sagen: Deutschland ist ein Land, das immer große Probleme
hat mit seinen Minderheiten.
Die Ossis als Minderheit – ist das nicht übertrieben?
Man muss das ernst nehmen. Viele Ostdeutsche, das ist jetzt ein bisschen
Küchenpsychologie, leiden ganz massiv unter diesem Gefühl der
Unterlegenheit. Anfang der neunziger Jahre war es vereinfacht gesagt so:
Ein Westdeutscher wird dein Chef und erklärt, wie du was zu machen hast.
Und alles, was du vorher konntest, ist wertlos; du lernst das jetzt schön
neu, so wie ich dir das erkläre. Ostdeutsche haben hautnah erlebt, wie
Deutsche insgesamt mit anderen Kulturen umgehen. Immer von oben und
erklären, wie es richtig, ordentlich gemacht wird. Und unter dieser
Erfahrung haben sie natürlich sehr gelitten.
Was meinen Sie, wäre das heute nachholbar, heilbar? Als gesamtdeutsches
Projekt?
Das ist die Frage. Ich denke, dass wir mehr darüber sprechen sollten, was
die Wende für das ganze Land bedeutet hat, für das Miteinander. Ohne
direkte Schuldzuschreibungen, sondern ganz offen. Und zwar von beiden
Seiten. Wenn nicht, fliegt uns das Unausgesprochene, das Verdruckste
politisch am Ende womöglich um die Ohren.
15 Jul 2018
## LINKS
[1] /Christian-Hirte-wird-Ost-Beauftragter/!5488167
## AUTOREN
Anja Maier
## TAGS
DDR
Treuhandanstalt
Treuhand
Schwerpunkt Ostdeutschland
Gespräche
taz Plan
30 Jahre friedliche Revolution
Expo
Schwerpunkt Thüringen
Schwerpunkt Ostdeutsche und Migranten
Lesestück Interview
Privatisierung
DDR
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kinotipp der Woche: Hüten versus Horten
Mit politischen Dokus wie „Patrol“ und „Goldrausch–Die Geschichte der
Treuhand“ machen die Dokumentarfilmtage Let’s Dok Halt in Berlin und
Brandenburg.
TV-Film zur Wende: DDR auf kaltem Entzug
Der ZDF-Dreiteiler „Preis der Freiheit“ will viel über die Wende erzählen.
Dabei verkommt er leider zu arg konstruierter Volkspädagogik.
Ausstellung in Hannover: Im Wohnzimmer der erodierten Werte
Von der Expo bis zum NSU: Die Künstlerin Henrike Naumann setzt sich mit den
Täuschungen und Enttäuschungen der Wiedervereinigung auseinander.
Debatte um Lohnungleichheit: Ost-West-Abstand wird kleiner
Sind die Lebensbedingungen zwischen Ost- und Westdeutschland noch immer
ungleich verteilt? Die Meinungen darüber gehen auseinander.
Debatte Ostdeutsche und Migranten: Wie eine weitere Migration
Ja, das Ende der DDR verursachte Erfahrungen, die in mancher Hinsicht denen
einer Migration ähneln. Diese Analogie hat allerdings auch ihre Grenzen.
Professorin über Identitäten: „Ostdeutsche sind auch Migranten“
Ostdeutsche und Migranten erleben Stigmatisierung gleichermaßen, sagt Naika
Foroutan. Unser Autor, in der DDR geboren, hat mit ihr diskutiert.
Neue Studie zur Treuhandanstalt: Traumatisierungsanstalt Treuhand
Der radikale Privatisierungskurs kurz nach der Wende hat ein Trauma im
Osten hinterlassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie.
Privatisierung der DDR-Wirtschaft: Was vom Kombinat übrig blieb
Die Treuhand kümmerte sich nach der Wende um die Umwandlung der Wirtschaft
der DDR. Sie war eine undemokratische Nebenregierung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.