# taz.de -- 9. November 1938 und 1989: Die Deutschen wollen nur feiern | |
> Alle reden über 30 Jahre Mauerfall, kaum einer über die Novemberpogrome. | |
> Dass Deutsche sich lieber an glorreiche Momente erinnern, hat Tradition. | |
Bild: Wenn Deutschland sich erinnert, soll bitte alles bunt und lustig sein | |
Gerade werden die Zeitungen ja mit Erinnerungen [1][an den 9. November 1989 | |
geflutet]. Es gibt schließlich Grund zu feiern. 30 Jahre Mauerfall, eine | |
deutsche Erfolgsgeschichte. Willkommen also zum Tag des schönen Erinnerns. | |
Nehmen Sie Platz, Deutschland hat eine großartige Show vorbereitet. Gleich | |
eine ganze Woche wird gefeiert mit Konzerten, Lesungen und großen | |
Lichtinstallationen, die auf Fassaden projiziert werden. Wow! | |
Vielleicht beschleicht Sie ja auch ein mulmiges Gefühl, so als hätten Sie | |
etwas vergessen? Da war doch noch etwas am 9. November, etwas früher in der | |
Geschichte, 1918, 1923 und ja auch 1938. Als in der Nacht zum 10. November | |
der antisemitische Terror einen neuen Höhepunkt erreichte und die | |
Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Deutschland begann. | |
In Deutschland erinnert man sich gerne an die glorreichen Momente, das hat | |
Tradition. Und ist ein Tag doch nicht so glorreich für die Deutschen | |
ausgegangen, deutet man ihn einfach um. Weil am Ende will es ja niemand | |
gewesen sein. | |
## Ein kurzer Auftritt – das war's | |
Zum Gedenken an die Novemberpogrome werden in Deutschland seit Jahren am 9. | |
November Gedenkveranstaltungen, Mahnwachen, Zeitzeug*innengespräche | |
veranstaltet. Die „symbolischen Juden“ treten dann für einen Moment in die | |
Öffentlichkeit, beweinen Seite an Seite mit den Deutschen die ermordeten | |
Juden, dürfen über Antisemitismus klagen, nur um dann wieder zu | |
verschwinden – und auf ihren nächsten Auftritt zu warten, im kommenden | |
Jahr. Gedächtnistheater at its best. | |
Was den 9. November 1938 und den 9. November 1989 deshalb in ihrer Funktion | |
als historische Daten eint, ist, wie mit ihnen deutsche Geschichte | |
verhandelt wird. Man blickt auf das Schöne oder verschweigt die eigene | |
Verantwortung lieber. | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird am Abend des 9. November am | |
Brandenburger Tor in Berlin eine Rede halten, zum 30. Jahrestag des | |
Mauerfalls. Vermutlich wird er über deutsche Erfolge sprechen, an die | |
Menschen erinnern, die sich in den Armen lagen, an die Sektflaschen, die | |
geköpft wurden. Er wird vermutlich nicht daran erinnern, dass als „ein Volk | |
wieder zusammenwuchs“, bestimmte Menschen bewusst ausgeschlossen wurden; | |
wird nicht an die Ängste derer erinnern, die das betraf [2][oder die | |
Nazi-Gewalt erwähnen, die dann folgte.] Deutschland wird strahlen an diesem | |
Tag und sich feiern. Und vielleicht, wer weiß, werden irgendwo auch ein | |
paar Deutschlandfahnen wehen. | |
9 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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