# taz.de -- Checkpoint Charlie in Berlin: Erinnerung to go | |
> Einst ein Ort der Weltgeschichte, heute ein Rummelplatz: Wie der | |
> Checkpoint Charlie wurde, was er ist. | |
Bild: Rund 4 Millionen Menschen besuchen jährlich den ehemaligen Grenzübergan… | |
BERLIN taz | Wie selbstverständlich steht sie plötzlich da, eine | |
orangefarbene Hütte am Checkpoint Charlie, gerade groß genug für eine | |
Person. „Sharepoint Charlie“ kann man auf ihrer Seite lesen. Aufgebaut ist | |
sie vor der Nachbildung des U.S. Army Checkpoints und den aufgetürmten | |
Sandsäcken, hinter denen jeden Tag Touristen aus aller Welt posieren. Ein | |
Kameramann macht sich bereit, ein Mann in Soldatenuniform und einer mit | |
Klemmbrett nehmen Positionen ein. Ein Werbespot für eine | |
Autovermietungsfirma soll hier gedreht werden. | |
Aber bevor die erste Einstellung aufgenommen wird, kommen zwei Polizisten | |
und erklären den Männern, dass sie hier nicht drehen dürfen. Sie hätten | |
eine Drehgenehmigung für ganz Berlin, behaupten die Werbefilmer, nur gerade | |
nicht dabei. Allgemeine Genehmigungen hätten hier keine Gültigkeit, für den | |
Checkpoint Charlie bräuchten sie eine Sondernutzungserlaubnis, referiert | |
ein Polizist. Aus dem Dreh wird nichts. | |
Die Szene erzählt von dem besonderen Status dieses Ortes – und seinen | |
heutigen Problemen. Der Checkpoint Charlie ist ein Stück Weltgeschichte. | |
Das Schwarzweißfoto, auf dem sich am 27. Oktober 1961 genau hier | |
[1][gefechtsbereite Panzer der zwei Supermächte] gegenüberstanden, ihre | |
Geschütze aufeinander gerichtet, gehört zum globalen Bildergedächtnis. Am | |
Checkpoint Charlie trafen Ost und West aufeinander, Kapitalismus und | |
Kommunismus, GIs und rote Armee, getrennt durch eine weiße Linie, die die | |
Grenze zwischen den Berliner Bezirken Mitte und Kreuzberg markierte. | |
Heute besuchen den Ort jedes Jahr rund 4 Millionen Menschen. Und viele | |
versuchen den Mythos für sich auszuschlachten, ein Geschäft damit zu machen | |
– da sind die Straßenhändler, die Sowjetuniformen, Pelzmützen und Gasmasken | |
anbieten, daneben die vollgestopften Souvenirläden mit ihren bunten | |
Mauerbröckchen, DDR-Fahnen und Miniatur-Trabis. | |
Fastfoodketten und Würstchenbuden rangeln um Kundschaft, Sightseeingbusse | |
rollen im Schritttempo über die einstige Grenzlinie, Hütchenspieler und | |
Bettlergruppen tauchen plötzlich auf und verschwinden wieder. Das zügige | |
Tempo, mit dem sich die Menschen sonst in dieser Gegend bewegen, kommt hier | |
fast völlig zum Stillstand. Schulklassen blockieren die Gehwege, Touristen | |
stehen auf der Straße herum. | |
Wer heute nur einige Minuten am Checkpoint Charlie herumläuft, hat das | |
Gefühl, über einen großen Rummelplatz zu gehen. Geboten wird historische | |
Erinnerung to go, hier schnell ein Selfie, da schnell eine Bratwurst. Wie | |
hat sich der Ort, an dem einmal Menschen bei Fluchtversuchen starben und | |
die Angst vor einem Dritten Weltkrieg ständig präsent war, in eine schäbige | |
Flaniermeile verwandelt? Wie wurde der Checkpoint Charlie, was er heute | |
ist? Und was erzählt das über unseren Umgang mit historischer Erinnerung? | |
Im Hinterzimmer des Cafés Einstein, direkt am ehemaligen Grenzverlauf, | |
hängen Schwarzweißbilder aus den 60er Jahren, darauf Stacheldraht, Brachen | |
und Soldaten in Wintermänteln. Darunter sitzt Smiley Baldwin und macht | |
seinem Vornamen alle Ehre – er lächelt, während er sich zu erinnern | |
versucht, wie das damals war, als er als amerikanischer Soldat Dienst am | |
Checkpoint Charlie tat. | |
Baldwin kam 1987 als Militärpolizist nach Berlin, zuvor war er zwei Jahre | |
bei Frankfurt stationiert. „Dort war die Studentenszene in den | |
Reagan-Jahren gegenüber US-Soldaten sehr ablehnend. In Westberlin waren die | |
Leute so nett zu uns – sie waren dankbar, dass wir da waren.“ Als | |
Militärpolizist fuhr er zusammen mit Berliner Polizisten Patrouille. Er | |
interessierte sich für die Geschichte der Stadt, lernte Deutsch. | |
Abwechselnd wurde er am Checkpoint Bravo an der Transitautobahn zur BRD und | |
am Checkpoint Charlie eingesetzt. | |
In dem Kontrollhäuschen arbeitete er als Assistent des Non-Commissioned | |
Officer in Charge, des verantwortlichen Unteroffiziers. „Ich habe ihm beim | |
Papierkram geholfen oder auch mal den Müll rausgebracht.“ Eigentlich sei | |
das ein Bürojob gewesen. Die Russen wollten genau wissen, wer, wann, wieso | |
in den Ostteil wollte, dafür galt es unzählige Formulare auszufüllen. | |
Aber wichtiger als die Bürokratie sei etwas anderes gewesen: „Es ging um | |
Ästhetik. Es musste alles gut aussehen. Vor allem große, sportliche Jungs | |
wurden hier eingesetzt“, erzählt Baldwin. „Meine Uniform konnte allein | |
stehen, so steif war sie, damit sie keine Falten warf. Die Schuhe blitzten. | |
Das Häuschen roch ganz neu und nach Putzmittel.“ | |
Der Kontrollposten und die GIs gehörten zum „Schaufenster des Westens“, als | |
das die Amerikaner Westberlin verstanden. „Wir mussten unserem Gegner | |
zeigen, wie wir aussehen – und zwar tiptop“, sagt Baldwin. | |
„Militärstrategisch waren wir ja tot.“ Es gab zwar Szenarien, wie sich die | |
Soldaten der Westalliierten im Kriegsfall auf das Gebiet der BRD hätten | |
zurückziehen sollen. „Aber jeder wusste, dass das bei der Übermacht der | |
Sowjets und NVA-Soldaten völlig aussichtslos gewesen wäre.“ | |
## Das Schaufenster des Westens | |
Er erinnert sich an eine Situation am Checkpoint, die ihm gezeigt habe, was | |
das eigentlich bedeutete: Kalter Krieg. „Ich stand hier und sah jemand, der | |
von der anderen Seite auf uns zurannte. Fünf Meter vor der weißen Linie ist | |
der Mann gestolpert. Wir durften ihm nicht helfen. Wenn einer von uns nur | |
einen Schritt über diese Linie gemacht hätte, wäre die Welt in der nächsten | |
Minute nicht mehr in Ordnung gewesen.“ In dem Moment war der Kalte Krieg | |
kein abstraktes Konzept mehr, kein komischer Arbeitsplatz in einem fernen | |
Land, sagt Baldwin. „Es war plötzlich sehr ernst. Wir haben zugeschaut, wie | |
der Mann abgeführt wurde.“ | |
1992 scheidet er aus der Armee aus und bleibt in dem nun wiedervereinigten | |
Berlin. Er arbeitet als Türsteher, wird feste Größe des Berliner | |
Nachtlebens, 17 Jahre macht er die Tür des legendären Clubs „Cookies“. Er | |
ist der Einzige aus seiner ehemaligen Einheit, der in Berlin geblieben ist. | |
Wie blickt er heute auf diesen geschichtsträchtigen Ort? „Was mit dem | |
Checkpoint Charlie geschieht, ist allein Sache der Deutschen“, sagt | |
Baldwin. „Mit dem Fall der Mauer und dem Abzug der Soldaten ist unsere | |
Verantwortung dafür vorbei. Und das ist gut so.“ | |
Die Zeit nach 1989 bedeutet für den Checkpoint Charlie erst mal Rückbau. | |
Die Mauer ist durchlässig geworden, jetzt soll sie ganz weg. Zwischen Juli | |
1990 und November 1991 werden in Berlin 155 Kilometer Mauer abgerissen, 302 | |
Beobachtungstürme, 20 Bunkeranlagen, dazu die Grenzübergänge. Den Anfang | |
macht der Checkpoint Charlie. In einer feierlichen Zeremonie mit den | |
Außenministern beider deutscher Staaten, der USA, Frankreichs, | |
Großbritanniens und der Sowjetunion [2][wird die Kontrollbaracke der | |
Amerikaner am 22. Juni 1990 abtransportiert]. Die 298th U.S. Army Band | |
spielt dazu „Berliner Luft“. Die taz, deren Redaktionsgebäude um die Ecke | |
liegt, schreibt: „Letzte Vorstellung für Onkel Charlie“. | |
Und zunächst gibt es keinen Plan, was mit dem ehemaligen Grenzübergang | |
passieren soll. Von einem Ort des Geschehens zu einem Ort des Erinnerns – | |
das geht nicht von heute auf morgen. Was eben noch Gegenwart war, ist nicht | |
gleich Geschichte, und damit ist es auch nicht gleich erinnerungswürdig. | |
## Ganz nah am Unrecht | |
Es gibt aber jemand, der am Checkpoint Charlie praktisch von Anfang an da | |
ist. Jemand, der Räume füllt, die andere offen lassen. Rainer Hildebrandt, | |
ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die Nazis, eröffnet im Juni 1963 am | |
Checkpoint sein Mauermuseum. Weil viele Geschäfte wegen der schlechten Lage | |
nach dem Mauerbau 1961 wegzogen, kann er die Räume eines ehemaligen Cafés | |
übernehmen. Axel Springer, der in der Nähe sein neues Verlagshaus baut, | |
schickt einen Elektriker vorbei, der die Leitungen verlegt. Viele | |
Redaktionen und Bildarchive stellen für die Ausstellung kostenlos Fotos zur | |
Verfügung. | |
„So nahe wie möglich am Unrecht sein, dort entfaltet sich die menschliche | |
Größe am stärksten“, erklärt Hildebrandt zur Eröffnung mit dem Pathos ei… | |
Freiheitskämpfers die Ortswahl. Das letzte Haus vor der Mauer ist damals | |
auch nicht nur Museum. Fluchthelfer beobachten durch ein kleines Fenster | |
alle Bewegungen am Grenzübergang, Geflüchtete werden aufgenommen, | |
Fluchtpläne entwickelt. | |
Nach der Wende wollen Rainer Hildebrandt und seine Frau Alexandra den | |
Checkpoint zu einem Denkmal für die Westalliierten machen, dafür soll auch | |
die ehemalige Kontrollbaracke zurückkehren. Nicht die größere Baracke, die | |
1990 feierlich abtransportiert wurde, sondern eine Nachbildung der ersten | |
Alliiertenbaracke aus den 60er Jahren. Eine winzige Holzhütte mit einem | |
Schild auf dem Dach: US Army Checkpoint. Die Hildebrandts lassen sie anhand | |
von Fotos nachbauen, am 13. August 2000 wird sie enthüllt. | |
2004 stirbt Rainer Hildebrandt. Im Inneren der nachgebauten Baracke | |
erinnern ein Porträtfoto und ein Gedenktext an ihn, am Eingang des | |
Mauermuseums steht eine eiserne Statue des Gründers. Das Museum selbst | |
wirkt heute, als ob ein Messie mit Hang zur Zeitgeschichte sich mal so | |
richtig austoben durfte. | |
Es quillt über von Exponaten, in den verwinkelten Räumen stehen mehrere | |
Fluchtautos, teils mit Einschusslöchern, daneben eine Vitrine mit einem | |
Pullover von Hans-Dietrich Genscher, aber auch eine, in der Sandalen von | |
Mahatma Ghandi zu besichtigen sind. In vielen Räumen laufen Videos von | |
alten Nato-Treffen – und in einer Ecke findet sich auch ein ausgestopfter | |
Dachs, erlegt von Stasi-Chef Erich Mielke. | |
Alexandra Hildebrandt, die Witwe des Gründers und heutige Chefin, empfängt | |
im Vortragsraum zum Gespräch. Es ist ein kalter Tag im Oktober, Hildebrandt | |
friert trotz dicken Schals. Aber sie schüttelt sich nicht nur deshalb. Sie | |
ist nicht glücklich damit, was sich vor ihrer Haustür abspielt: „Das ist | |
kein Ort zur Belustigung, sondern zum Erinnern und Gedenken.“ | |
Von ihrem Büro aus habe sie gerade verfolgt, wie die Werbefilmer die | |
orangefarbene Hütte aufgestellt hätten. Sie habe gewusst, dass es nicht | |
lange dauern werde, bis die Polizei einschreite. Endlich werde da genauer | |
hingeschaut. | |
Hildebrandt, die in der Ukraine geboren wurde und nach der Wende nach | |
Berlin kam, wacht streng über das Erbe ihres Mannes. Mit dem Mauermuseum | |
erhebt sie den Anspruch zu definieren, was der Checkpoint ist – und wer | |
Teil seiner Geschichte sein darf, wer nicht. | |
Nicht nur der Soldat der Werbefilmer hat hier Probleme mit der Polizei. | |
Seit August patrouillieren auch keine Soldatenschauspieler mehr vor dem | |
rekonstruierten Kontrollhäuschen. Die Männer in Retro-Uniformen waren dort | |
jahrelang ein vertrauter Anblick. Morgens schoben sie, bereits in Uniform, | |
mit einem Supermarkteinkaufswagen US-Fahnen und andere Utensilien zu ihrer | |
Arbeitsstelle. Dort posierten sie den ganzen Tag für Geld mit Touristen vor | |
den Sandsäcken. | |
Immer mehr Menschen hätten sich aber beschwert, erklärt das Bezirksamt | |
Friedrichshain-Kreuzberg. Die „unerlaubte Sondernutzung“ durch die Soldaten | |
sei über Jahre geduldet worden. „Da die Beschwerden in den vergangenen | |
Monaten wieder zunahmen, wurde nunmehr dem Betreiber mitgeteilt, dass es | |
keine Duldung mehr geben wird.“ Die Touristen seien regelrecht genötigt | |
worden, mit den Soldaten Fotos zu machen, für die diese drei bis vier Euro | |
verlangt hätten. | |
Dieses Spektakel all die Jahre, es habe sie angewidert, sagt Alexandra | |
Hildebrandt. Die Schauspieler hätten diesen Ort zu einem Disneyland | |
gemacht. Von Anfang an seien sie und ihr Mann dagegen vorgegangen. „Aber | |
Herr Wowereit hat ja nicht reagiert, und da konnten wir nichts mehr | |
machen.“ Sie zieht ihren Schal zurecht, sie friert noch immer. „Das gehört | |
sich einfach nicht.“ | |
## Der Chef der Soldatenschauspieler | |
An dem Wochenende vor dem Mauerfall-Jubiläum [3][berichtet auch die | |
Berliner Lokalpresse] von den verschwundenen Soldaten. Das Treffen zwischen | |
der taz und Tom Luszeit, Chef der Soldatendarsteller, ist schon länger | |
verabredet, aber an diesem Montag hat Luszeit nun viel zu tun. Kaum am | |
Checkpoint Charlie angekommen, läuft er herum, spricht mit Touristen und | |
anderen Journalisten, die sich freuen, ihn zufällig zu treffen. | |
Er lädt mehrere von ihnen ins Café Einstein ein, es wird eine improvisierte | |
Pressekonferenz. Luszeit rückt seine Mütze mit goldenem US-Air-Force-Emblem | |
zurecht. 17 Jahre war er der Chef der Soldatenschauspieler, die Männer bei | |
ihm angestellt, vier Jahre stand er selbst verkleidet am Checkpoint. All | |
die Jahre hätten die Menschen sich an ihnen erfreut, niemand habe sich je | |
beschwert, sagt er. | |
Luszeit zeigt ein Schreiben der Stadt Berlin vom 28. Oktober 2003. Darin | |
wird die Idee, als Soldaten verkleidete Schauspieler am Checkpoint | |
patrouillieren zu lassen, begrüßt und als „erlaubnisfreier Gemeingebrauch“ | |
genehmigt. | |
„Nun soll das alles vorbei sein?“, fragt er. „Wir sind längst eine | |
Institution, ein Kulturgut gewissermaßen. Uns gibt es auf Memory-Karten und | |
bei Monopoly. Tourist erwarten, dass wir dort stehen.“ Niemand sei genötigt | |
worden, mit ihnen Fotos zu machen. „Wenn jemand ein Bild mit uns gemacht | |
hat, haben wir im Anschluss ein Schild hingehalten, auf dem wir um eine | |
Spende von drei Euro baten. Aber das hat längst nicht jeder bezahlt, manche | |
haben 20 Cent gegeben, andere einen Euro.“ | |
Dass sie an guten Tagen bis zu 5.000 Euro verdient hätten, wie die | |
Bild-Zeitung berichtet hatte, sei völlig aus der Luft gegriffen. Mehr als | |
700 Euro seien es auch an den besten Sommertagen nicht gewesen. Die Jungs, | |
die die Soldaten spielten, habe er zum Teil beim Arbeitsamt gefunden, | |
manche seien auch zu ihm gekommen. Er habe Menschen mit Handicap | |
beschäftigt, genauso Geflüchtete. „Und ich habe bei jedem Einzelnen darauf | |
geachtet, dass er geschult ist. Dass er den Menschen sagen kann, was an | |
diesem Ort passiert ist, wo Osten und wo Westen war.“ | |
Zugegeben, dass sie [4][anfangs als DDR-Volkspolizisten aufgetreten] sind, | |
das sei vielleicht geschmacklos gewesen, räumt Luszeit ein. Opfer der | |
DDR-Diktatur protestierten damals scharf. Luszeit sagt: „Da hat auch Frau | |
Hildebrandt gesagt, dass sie solche Uniformen nicht am Checkpoint Charlie | |
sehen möchte. Das habe ich verstanden. Als ich ihr angeboten habe, dass wir | |
stattdessen Alliierten-Uniformen tragen, war sie zufrieden.“ | |
Er selbst habe auch eine persönliche Verbindung zum Checkpoint Charlie, | |
sagt Luszeit. Sein Vater sei in Berlin als amerikanischer GI stationiert | |
gewesen, er habe seine Kindheit hier verbracht. Er und seine Jungs seien | |
„Geschichte zum Anfassen“ gewesen, sagt er. „Nur so kann Geschichte | |
funktionieren. Wenn nichts da ist, worüber sich Menschen Gedanken machen | |
können, bleibt der Kopf leer.“ | |
## Kampf um die Erinnerung | |
Wenn man Smiley Baldwin fragt, der als echter GI am Checkpoint stand, | |
erzählt er, dass viele seiner ehemaligen Kameraden heute richtig sauer | |
seien, wenn sie den Checkpoint besuchen würden. „Das sind Jungs, die dieses | |
Berlin-Ding richtig ernst genommen haben. Für die ist das ein quasiheiliger | |
Ort.“ Den ganzen Rummel empfänden sie als würdelos. „In unserer | |
Facebookgruppe haben sie sich vor allem über die Typen in Uniform | |
aufgeregt.“ In den USA ist es verboten, nur zum Spaß eine Uniform mit | |
militärischen Abzeichen zu tragen, es gilt als Entwürdigung echter | |
Soldaten. | |
Die Veteranen waren fassungslos, dass man gerade am Checkpoint Charlie | |
damit keine Probleme sah, sagt Baldwin. „Ich bin vielleicht etwas | |
linksliberaler als der Durchschnittsamerikaner, deshalb hat mich das nicht | |
so gestört.“ | |
Tom Luszeit ist überzeugt, dass die Soldaten zurückkehren müssen. Er ist | |
zurzeit im Gespräch mit dem Bezirksamt. Das wiederum will mit Alexandra | |
Hildebrandt reden. Luszeit und Hildebrandt sind zwei Privatleute, deren | |
Geschichten seit Jahren eng mit dem Ort verwoben sind. Sie teilen das | |
Anliegen, dass er etwas Besonderes bleiben muss und sind doch zutiefst | |
miteinander verfeindet. Sie kämpfen um die erinnerungspolitischen | |
Leerstellen, die die öffentliche Hand hier lässt. | |
Die falschen Soldaten nennt Hildebrandt ein „Mickymaus-theater“ – aber hat | |
sie nicht mit der nachgebauten Baracke entscheidend zur Disneysierung des | |
Ortes beigetragen? Und was ist mit der nachvollziehbaren Kritik an ihrem | |
Mauermuseum, das den Charme einer Rumpelkammer versprüht? Der Historiker | |
Hanno Hochmuth, der sich am Zentrum für Zeithistorische Forschung in | |
Potsdam mit Erinnerungskultur beschäftigt, urteilte, das Museum lasse | |
„keinen sinnvollen Aufbau“ erkennen. Es verstoße „an allen Ecken und End… | |
gegen heutige museale Standards“. | |
Hildebrandt scheint es sich abgewöhnt zu haben, Zweifel zuzulassen. „Das | |
war nun einmal der Stil meines Mannes, und der wird beibehalten“, sagt sie. | |
Kritik an dem Museum lese sie gar nicht mehr. „Ich weiß, was ich tue, ich | |
mache alles richtig, und die anderen sind schlecht.“ Es klingt nicht | |
ironisch. | |
Der Checkpoint Charlie wird aber nicht nur von der Verkitschung des Kalten | |
Kriegs und Leuten geprägt, die dort Bratwürste oder Erinnerungsfotos | |
verkaufen wollen, sondern auch von jenen, die mit Grundstücken in der | |
besonderen Lage das ganz große Geschäft wittern. | |
Nach dem Mauerfall sollen die Brachen an der Kreuzung schnell bebaut | |
werden. Schließlich hat der Kapitalismus gerade den Wettstreit der Systeme | |
gewonnen. Ronald Lauder, Erbe des Kosmetikkonzerns Estée Lauder und | |
Milliardär, will die Gegend zum „American Business Center“ machen. Der | |
damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen preist das Projekt 1992 als | |
„wichtiges Signal der Hoffnung“. Hunderte von Firmen will Lauder in fünf | |
Gebäuden ansiedeln, 3.500 neue Arbeitsplätze sollen entstehen. | |
Aber das Projekt kommt nicht in Gang. Jüdische Alteigentümer erheben | |
Ansprüche auf ein zentrales Grundstück, zwei Jahre ziehen sich die | |
Verhandlungen hin, das Grundstück muss für viel Geld erworben werden, erst | |
dann beginnen die Bauarbeiten. | |
1997 steigt Lauder aus dem Projekt aus, nur drei Grundstücke werden bebaut, | |
der Rest bleibt Brache. Spötter sagen heute, der Kapitalismus habe sich | |
ausgerechnet an der Stelle, die symbolisch für seinen größten Sieg steht, | |
verhoben. | |
2003 schlittert die Checkpoint Charlie KG als Nachfolgerin des | |
American-Business-Center-Investors in die Insolvenz, die beiden Grundstücke | |
direkt am ehemaligen Mauerstreifen bleiben unbebaut. Sie fallen an die | |
Insolvenzverwalterin BAG Hamm, eine Bad Bank für Problemfälle der Volks- | |
und Raiffeisenbanken. | |
Große Träume platzen, Neues entsteht, im März 2003 errichtet eine Firma auf | |
den Brachen ein paar Bretterbuden und ein Veranstaltungszelt. Das Projekt | |
nennt sich „Drehorgelgasse“ und verströmt den Charme einer tristen | |
Vorstadtkirmes. Der Veranstalter wirbt damals mit einer „nostalgischen | |
Gasse, die mit historischen Wandbildern historische Straßenzüge“ | |
nachstellt, mit „Altberliner Flair“. Die damals zuständige | |
Bezirksstadträtin findet das zwar furchtbar, sagt aber auch: „Mit der | |
Kirmes dort ist jetzt die Toilettenversorgung gesichert, die öffentliche | |
Hand hatte dafür nämlich kein Geld.“ | |
## Städtebaulicher Stillstand | |
[5][Nachdem auch die „Drehorgelgasse“ scheitert], pachtet 2004 Alexandra | |
Hildebrandt die unbebauten Grundstücke. Auf den zwei Brachen lässt sie auf | |
weißem Kies 1.065 schwarze Holzkreuze aufstellen. Jedes einzelne soll ein | |
Todesopfer an der deutsch-deutschen Grenze symbolisieren. Die Aktion sei | |
aber auch ein „Protest gegen die Trivialisierung dieses Ortes durch die | |
Stadt Berlin“. | |
Hildebrandt eröffnet das Mahnmal am 31. Oktober 2004, ihre auf Tafeln | |
gedruckte Erklärung liest sich unmissverständlich: Berlin hat es versäumt, | |
diesen Ort würdevoll zu behandeln und die Erinnerung an die deutsche | |
Teilung wachzuhalten, das mache nun eben sie. | |
Die Aktion löst eine heftige Kontroverse aus, „geschäftstüchtige | |
Geschichtsklitterung“ wird Hildebrandt vorgeworfen – unter anderem, weil | |
die Zahlen und Namen der Todesopfer nicht ausreichend historisch belegt | |
sind. Das Mahnmal wird bald wieder abgebaut, die Aktion aber gibt den | |
Impuls für einen echten Fortschritt. Die genaue Zahl der Mauertoten wird in | |
einem historischen Forschungsprojekt ermittelt, und der Berliner Senat | |
sieht sich veranlasst, ein Gedenkkonzept für die Berliner Mauer zu | |
entwickeln. | |
2006 verabschiedet der Senat das Konzept des damaligen Kultursenators | |
Thomas Flierl, die Bernauer Straße wird zu einem pädagogisch fundierten | |
Erinnerungsort ausgebaut, das Brandenburger Tor steht eh da, die bemalte | |
Mauer der East-Side-Gallery auch. Schwierig wird es wieder am Checkpoint | |
Charlie. Dort herrscht erinnerungsmäßig Chaos. Dazu der städtebauliche | |
Stillstand mit den Brachen. Es gibt aber auch Stimmen, die die Brachen als | |
solche erhalten wollen, als Erinnerung an eine Wunde in einer Stadt, die an | |
der Friedrichstraße im ehemaligen Ostteil gar nicht genug gleichförmige | |
Häuserklötze hinstellen kann. | |
Wenn man heute von dem Kontrollhäuschen in Richtung des ehemaligen Ostteils | |
geht fallen einem die Brachen vielleicht gar nicht als solche auf, weil auf | |
ihnen temporäre Bauten, Buden und Schautafeln stehen. Auf der linken Seite | |
gibt es ein 360-Grad-Panorama, in dem man das Überwältigende des Mauerbaus | |
nachempfinden soll. Rechts hat der Senat eine „Blackbox Kalter Krieg“ | |
aufgestellt, die einen Eindruck davon vermitteln soll, wie | |
museumspädagogisch fundierte Erinnerung aussehen könnte. | |
2016 tritt dann ein neuer Investor namens Trockland auf. Er will die Brache | |
bebauen. Ein Hardrock-Hotel mit 400 Betten, dazu Wohnungen, Büros, ein | |
neues Museum. Der Senat verhandelt mit Trockland, unterzeichnet eine | |
Absichtserklärung, der Inhalt ist geheim. Gegen das Verfahren gibt es wegen | |
mangelnder Transparenz Widerstand, die Hotelpläne stoßen auf Kritik, weil | |
das Gebäude den ganzen Ort bestimmen und das Museum in den Schatten stellen | |
würde, dann lassen Recherchen von Tagesspiegel und Berliner Zeitung | |
Trockland auch noch als dubiosen Partner mit obskuren Hintermännern und | |
Geld in Steueroasen erscheinen. | |
Der rot-rot-grüne Senat wird skeptisch und beginnt zu streiten. Im Dezember | |
2018 kündigt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) die | |
Verabredung mit Trockland auf. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher | |
(Linke) kündigt eine Änderung der Planungsziele an: weniger bebaute Fläche, | |
dort, wo Trockland das Hotel plant, soll das neue Museum gebaut werden. Die | |
Zeit drängt, denn sobald eine Sperre im Frühjahr 2020 für das Areal | |
ausläuft, könnte der Investor eine Bebauung beantragen, die sich in die | |
Umgebung einfügt. Eine Formulierung, die viel Spielraum für den Investor | |
bietet. | |
Mittlerweile hat Katrin Lompscher den Bebauungsplan für die Brachen | |
vorgestellt. Östlich der Friedrichstraße soll das Museum für den Kalten | |
Krieg mit 3.000 Quadratmetern Fläche entstehen, außerdem soll dort Platz | |
für Wohnungen und Gewerbe sein, ein Drittel der Wohnungen sollen | |
Sozialwohnungen sein. Auf dem gegenüberliegenden Grundstück sieht der Plan | |
einen Stadtplatz vor, außerdem 28.000 Quadratmeter für Büros und Wohnungen. | |
Noch ein letztes Treffen im Café Einstein am Checkpoint, diesmal mit Thomas | |
Flierl. Er war 2002 bis 2006 Senator für Wissenschaft, Forschung und | |
Kultur, seine Partei hieß damals noch PDS. Flierl trägt Schwarz und | |
verschickt noch ein paar Nachrichten vom Smartphone. 2011 ist er aus dem | |
Abgeordnetenhaus ausgeschieden, seitdem widmet er sich wieder seiner | |
Leidenschaft und macht sich Gedanken über Städtebau, auch in die Diskussion | |
um den Checkpoint Charlie hat er sich eingemischt. | |
Er sagt dazu: „Die Topografie des Stadtraums ist das eigentliche Medium“, | |
sie müsse erhalten bleiben. Was er damit meint: Die Lücke, die am | |
Checkpoint im Stadtraum entstanden ist, um nach dem Mauerbau Platz für die | |
Grenzanlagen der DDR zu schaffen, sei das, was den Ort präge. Gerade die | |
Lücke erinnere daran, was dort war. | |
## Geschichte aus Sicht der Sieger | |
Flierl nennt den Checkpoint Charlie „ein Dokument der Nichtbearbeitung“, | |
und er teilt das Unbehagen vieler Berliner, die über diesen Ort die Nase | |
rümpfen. Immerhin habe der Senat gegen die Pläne des privaten Investors | |
gegengesteuert, sagt er. Berlin tue sich aber auch deshalb so schwer mit | |
dem Checkpoint Charlie, weil hier die Geschichte nur aus Sicht der Sieger | |
erzählt werde. Vorschnell sei nach der Wende der Anschluss an die | |
amerikanische Führungsmacht gesucht worden, die Aktionen Hildebrandts | |
hätten den Senat unter Druck gesetzt, kritisiert Flierl. | |
Aber was schlägt er selbst vor? Er ist dafür, dass Berlin die Flächen | |
übernimmt und dann genau überlegt, wie viel Museum und in welcher Form es | |
dort geben müsse. „Nüchterne, aufgeklärte sachorientierte Informationen, | |
keine Musealisierung des Grusels, ein Ort, an den auch die Berliner gehen.“ | |
Leider habe sich die Koalition dagegen entschieden, die Fläche | |
zurückzukaufen. „Vielleicht erkennt man ja, dass die Privatisierungsorgie | |
der Nachwendezeit ein Fehler war.“ | |
Die Idealvorstellungen von Thomas Flierl werden sich nicht verwirklichen. | |
Unklar ist im Moment, ob es gelingt, den jetzigen Bebauungsplan der | |
Bausenatorin rechtzeitig vom Abgeordnetenhaus verabschieden zu lassen. | |
Sollte das nicht bis zum Februar 2020 gelingen, hätte der Investor auf den | |
zwei Grundstücken weitgehend freie Hand – Erinnerungen an die einstige | |
Leere an diesem Ort mitten in der Stadt könnten hinter Betonfassaden | |
verschwinden. | |
Es ist die letzte Chance für den Checkpoint Charlie. | |
9 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.welt.de/kultur/history/gallery13678758/Unbekannte-Bilder-der-Pa… | |
[2] https://berlin.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=49668 | |
[3] https://www.bz-berlin.de/berlin/mitte/abmarsch-aus-fuer-die-%C2%ADabzock-so… | |
[4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/echter-streit-um-falschen-checkpoint-cha… | |
[5] /!814615/ | |
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Jan Pfaff | |
Hanna Voß | |
Felix Zimmermann | |
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