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# taz.de -- Thierry Noir über Kunst an der Mauer: „Eine Mutation der Kultur�…
> Thierry Noir malte unter Gefahr Gesichter mit großen Mündern auf die
> Berliner Mauer. Heute malt er auch, um vor neuen Grenzen zu warnen.
Bild: Die großen, aus dem Gesicht hervorragenden Münder sind das Markenzeiche…
Thierry Noir will sich am Leipziger Platz treffen. Dort stehen, verteilt in
der Touristenhölle, insgesamt sechs Mauersegmente. Auf allen die berühmten
Köpfe, die er einst gemalt hat. Vor ein paar Monaten hat er sie renoviert.
Es war seine eigene Idee und gar nicht einfach, die Genehmigung vom
Denkmalschutz zu bekommen: „Ich musste Druck machen und mich bis zum Chef
durchtelefonieren.“ Am Ende durften er und Kiddy Citny ihre Gemälde
wiederherstellen. Die Farbe haben sie selbst bezahlt.
taz am wochenende: Herr Noir, Sie kommen gerade aus London zurück?
Thierry Noir: Ja, genau, ich war in London. Da bemale ich für das Imperial
War Museum ein Stück Mauer. Zusammen mit Stik, der malt schwarz-weiße
Figuren mit ganz langen Beinen. Die sind sehr markant, sieht man überall in
Berlin und London. Wir kennen uns schon seit sechs Jahren.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie in London wieder ein Stück Mauer bemalen?
Es ist eine Hommage an die alte Zeit. Es ist anders. Früher haben wir die
Mauer bemalt, damit sie irgendwann verschwindet. Heute bemalen wir sie, um
sie zu erhalten. Das mag absurd sein, ist aber ein Muss für mich.
Warum?
Ich will der jungen Generation, denen, die damals noch gar nicht geboren
waren, zeigen, was die Mauer war. Die Mauer war schließlich kein
Kunstprojekt, sondern eine tödliche Grenze. Ich will den jungen Leuten
sagen: Bitte, wiederholt nicht die Fehler eurer Eltern! Ich will keine
großen Sprüche klopfen, aber das ist meine kleine Botschaft. Und in London
ziehen sie ja auch Vergleiche zwischen damals und heute, zum Brexit. Wenn
ich da male, erzählen sie mir: Wir ziehen jetzt eine neue Mauer hoch.
Damals haben wir doch geglaubt: Jetzt ist der Kalte Krieg zu Ende, jetzt
wird alles besser. Stattdessen gibt es heute viel mehr Mauern als vor 30
Jahren.
Was fühlen Sie heute, wenn Sie ein Stück Mauer bemalen?
Das Adrenalin ist nicht mehr dabei. Das war damals natürlich ganz anders.
Da musste man sich ständig fragen: Wo stehen die Grenzpolizisten? Hört man
etwas von der anderen Seite? Eigentlich war das ja lebensgefährlich. Denn
die Mauer stand ja nicht direkt auf der Grenze, sondern war fünf Meter
zurück gebaut. Beim Malen der Mauer war ich offiziell in Ostberlin.
Sie haben fünf Jahre lang die Mauer bemalt …
Ja, fast täglich, das hing vom Wetter ab. Von 1984 bis 1989 vom Westen aus.
Und nach 89 von der anderen Seite.
Sie sind trotzdem nie verhaftet worden.
Nein, ich war ja auch noch jung damals und schneller, die fünf Meter hätte
ich immer hüpfen können. Meistens haben wir auch in Kreuzberg gemalt, wo
wir wussten, dass die Gefahr gering war. Am Checkpoint Charlie zum
Beispiel, wo es viel mehr Grenzpolizisten gab, haben wir nur einmal gemalt,
das war 1986.
Sie kamen nie in eine wirklich schwierige Situation?
Doch, ein Mal. Da waren wir mit dem Fernsehen unterwegs, die wollten was
richtig Spektakuläres filmen. Wir hatten schon mal Schuhe an die Mauer
genagelt. Und ein Pissoir hatten wir auch dran gedübelt, eine Hommage an
Marcel Duchamp. Diesmal wollten wir gleich eine Tür an die Mauer schrauben.
Aber da sind wir zu weit gegangen. Die Grenzpolizisten haben gesagt:
Schluss mit lustig! Wir hatten gerade angefangen, die Löcher mit der
Bohrmaschine in die Mauer zu bohren, da sind sie plötzlich mit
Kalaschnikows über die Mauer gekommen. Wir sind schnell weggerannt, aber
die Scheinwerfer gingen an, immer mehr Soldaten kamen in Lkws angefahren,
ein großes Chaos. Wir dachten schon, wir haben den Dritten Weltkrieg
ausgelöst.
Zum Glück nicht.
Ja, ein Glück. Schlussendlich haben die dann nur die Tür über die Mauer
gehievt und auf der Ostseite auf den Boden fallen lassen. Das hat einen
ziemlichen Krach gemacht.
Sie haben damals die Mauer bemalt, weil Sie den Anblick nicht ertragen
konnten. Warum haben Sie Westberlin denn nicht einfach wieder verlassen?
Das wäre zu einfach gewesen. Es gab die sogenannte Berliner Krankheit, an
der Westberliner litten, die Westberlin nie verlassen haben. In Kreuzberg
lebte die zweite, noch extremere Kategorie: Die haben Kreuzberg nie
verlassen. Es war schon seltsam: Die Mauer war brutal. Sie war hart, viele
haben gelitten, haben Drogen genommen. An dieser Melancholie, dieser
Tristesse, die sich wie ein Kaugummi zieht, war auch die Mauer schuld.
Trotzdem wollten wir nicht raus. Nach Schöneberg zu fahren, das kam uns
schon vor wie eine Weltreise.
Sie lebten damals direkt an der Mauer. Was wussten Sie vom Leben auf der
anderen Seite?
Nicht viel. Ich wusste, dass Kaninchen auf dem Potsdamer Platz lebten, die
konnte man von der Aussichtsplattform aus sehen. Nicht ein oder zwei, es
waren Hunderte Kaninchen, genauso grau wie der Sand auf dem Potsdamer
Platz. Das war eine Mutation der Natur, denn so viel Natur sieht man sonst
nicht mitten in der Stadt. Und wir waren eine Mutation der Kultur, denn so
viel Malerei – 300, 500 Meter bunte Köpfe am Stück – sieht man sonst nicht
mitten in einer Stadt. Das hat mich inspiriert, immer weiter zu malen – nur
für die Kaninchen
Warum empfanden Sie die Mauer als so bedrückend? Ich habe damals auch in
Westberlin gelebt, die Mauer natürlich auch gesehen, aber eigentlich kaum
mehr wahrgenommen …
Mir ging das nicht so. Das, was Sie beschreiben, war eine typische Reaktion
eines Deutschen. Die deutsche Gesellschaft wollte die Mauer ignorieren.
Viele sind sogar Umwege gefahren, um die Mauer nicht mehr zu sehen. Die
anderen haben sie einfach ausgeblendet. Nur wenn man wie ich, direkt an der
Mauer lebte, ging das nicht mehr.
Wenn Sie in diesen fünf Jahren nahezu täglich die Mauer bemalt haben, wovon
haben Sie eigentlich gelebt?
Ich finde zwar, Kunst ist das Gegenteil von Arbeit. Aber ich habe von
meiner Arbeit gelebt. Wenn ich an der Mauer gemalt habe, kamen immer mal
Leute vorbei, die mich gefragt haben: Können Sie mir das in klein malen?
Davon habe ich gelebt. Und ich habe im Rauch-Haus mit 50 Leuten gelebt. Wir
hatten zwar nicht viel Geld, aber wir haben zusammen gegessen, mir hat es
an nichts gefehlt.
Aber die Farben, die Sie tonnenweise an die Mauer gemalt haben, die müssen
doch teuer gewesen sein. Haben Sie eine Idee, wie viel Farbe Sie verbraucht
haben über die Jahre?
Keine Ahnung, das ist auch nicht wichtig. Man kann so viel Farbe an die
Mauer malen, wie man will, die Mauer wird nicht schön.
Woher kam die Farbe?
Die haben wir aus den Recycling-Containern gefischt. Damals liefen die
Vorbereitungen für die 750-Jahr-Feier von Berlin, und das Motto war:
Schnell, schnell, wir müssen fertig werden! Und um schneller zu sein, haben
die Firmen, die die Fassaden renoviert haben, aus den riesigen Farbeimern
die Farbe nicht bis zum Ende rausgekratzt. Also sind Christophe Bouchet und
ich jeden Abend rumgefahren mit meinem kleinen R4 und haben in die
Container geguckt. Irgendwann hatten wir einen riesigen Vorrat im
Rauch-Haus. Deshalb haben wir unsere Kunst auch Recycling Art genannt.
Nicht alle waren von Anfang an begeistert.
Nein, es gab Leute, die vorbeikamen, während ich malte, und haben mich
angeschrien: Warum malst du die Mauer an? Wer bezahlt dich? Wer steckt
dahinter? Warum kommst du extra aus Frankreich, um die Mauer zu bemalen?
Bist du ein Spion? Um ehrlich zu sein: Ich war auf diesen Hurrikan aus
Fragen gar nicht vorbereitet. Ich wusste ja eigentlich nichts über die
Mauer, ich hatte in Frankreich in der Schule nichts über die Mauer gelernt.
Und es gab ja noch kein Internet, kein Google. Da habe ich erst gemerkt,
dass ich ein Tabu gebrochen hatte: Es hat ja niemand die Mauer bemalt. Es
gab ein paar aufgemalte Sprüche, ja. Und zwei Künstler haben die Mauer auch
mal angezündet, aber das war nur eine einmalige Aktion.
Sie hatten den Plan, die Mauer in ihrer gesamten Länge zu bemalen. Warum
setzt man sich so ein Ziel?
Es war eine Aufgabe. Vielleicht eine Mission.
Eine größenwahnsinnige.
Ich habe das nie so ernst genommen. Wir waren jung und hatten sonst nichts
zu tun.
Und warum haben Sie die mittlerweile berühmten Köpfe gemalt?
Die waren einfach und schnell zu malen. Irgendwann wurde das mein Stil. Ich
wollte auch keine politischen Motive malen, denn schon allein das Bemalen
der Mauer war ja ein politischer Akt. Indem wir die Mauer bemalten, haben
wir gesagt: Die Mauer muss weg! Heutzutage heißt das Border Art – man macht
eine Grenze sichtbar, obwohl die Regierung, die sie gebaut hat, sie
verniedlichend Separation Border oder Friedensgrenze oder
antifaschistischer Schutzwall nennt. Ich war ein Border Artist, ohne es zu
wissen
Aber warum ausgerechnet Köpfe? Was bedeuten die?
Das weiß ich auch nicht. Keith Haring gab es damals schon, aber es wäre
doof gewesen, jemanden zu imitieren. Imitation führt in eine Sackgasse, hat
ja auch Andy Warhol gesagt. Also habe ich versucht, niemanden zu imitieren.
Und dann sind diese Köpfe aus mir rausgeklickert. Einfach so. Witzigerweise
erkennen sich Leute manchmal selber. Kleine Kinder erkennen immer ihre
Großmutter. Dreijährige im Kinderwagen deuten auf die Köpfe und sagen: Oma,
Oma!
30 Jahre nach dem Mauerfall malen Sie immer noch dieselben Köpfe. Warum
sind Sie diesem Stil treu geblieben?
Das ist mein Stil, mein Leben. Die Mauer ist gefallen, aber die Mauerkunst
lebt weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt plötzlich Bäume zu
bemalen. Oder Bäume zu malen. Diese Jahre, die ich die Mauer bemalt habe,
die haben mich nun mal sehr geprägt. Die Leute, die mich beschimpft haben,
die Leute, die gesagt haben: Das kann mein Fünfjähriger auch! Viele haben
auch gesagt: Ach, das mal ich mir selber. Typisch Berlin!
Dann ist es Trotz, dass Sie immer noch so malen?
Ja, wahrscheinlich.
Wird das nach mehr als 35 Jahre nicht langweilig? Noch mal ein Kopf!
Nein, auf keinen Fall. Diese Köpfe haben die Stadt tief geprägt. Mich auch.
Sehen Sie die Mauer und die Köpfe als Fluch? Oder als großen Glücksfall?
Glück war, dass die Mauer irgendwann gefallen ist. So wurden die Köpfe zu
einem Symbol für die neue Freiheit. Sie sind auf der ganzen Welt verteilt,
sind in Museen zu sehen. Sogar die deutsche Botschaft in Washington hat ein
Stück Mauer nachgebaut. Allerdings haben sie sich meine Köpfe von
irgendjemand anderem drauf malen lassen. Das muss man sich mal vorstellen!
Das war die Krönung! Nein, das war schon großes Glück. Auch dass ich von
der Malerei leben konnte und nie einen Chef hatte, denn Chefs haben mich
immer gehasst, ich bin ja, bevor ich mit dem Bemalen der Mauer angefangen
habe, überall rausgeflogen.
Haben Sie und Ihre Mauermalerkollegen die Mauer zum Einsturz gebracht?
Nicht wir allein, aber eine kleine Hilfe waren wir schon. Gorbatschow hat
schon auch sehr geholfen. Und die Leute im Osten, die demonstriert haben,
natürlich auch.
Wie haben Sie die Nacht des Mauerfalls erlebt?
An dem Abend war ich mit dem Auto unterwegs und habe mich über den Stau und
die Menschenmassen, die auf den Straßen unterwegs waren, gewundert. Also
habe ich das Auto abgestellt und bin bis zum Checkpoint Charlie gelaufen.
Da war die Hölle los, die Leute schrien, weinten und lachten. Es war ein
unglaubliche Energie. Alle tranken Wodka Gorbatschow direkt aus der
Flasche. Es ist nichts Spektakuläres passiert, aber es war einmalig. Ich
musste dann aber nach Hause, weil meine Tochter damals erst zwei Jahre alt
war.
Haben Sie sich über den Mauerfall denn gefreut?
Natürlich.
Obwohl Ihnen klar war, dass jetzt Ihre Bilder verschwinden würden?
Das war mir im ersten Moment gar nicht bewusst. Aber es dauerte natürlich
nicht lange, die Mauerspechte haben ja sofort angefangen. Aber so ist das
nun mal mit Street Art. Wenn man auf der Straße malt, dann gehört das dazu.
Man kann ja nicht vor der Mauer schlafen und sein Kunstwerk bewachen.
Aber plötzlich drohte vollkommen zu verschwinden, woran Sie fünf Jahre
gearbeitet haben. Wie ging es Ihnen damit?
Ich habe nicht geweint. Ich habe nie gedacht: Oh, meine schöne Mauer. Denn
die Mauer war schlimm, die Mauer war brutal. Es konnte nur besser werden.
Außerdem haben wir ja sofort damit angefangen, die Mauer von der anderen
Seite, vom Osten aus zu bemalen. Ein paar Freunde von mir aus Frankreich
kamen und haben 1.000 Kilo Farbe mitgebracht, um die Mauer am Potsdamer
Platz von der anderen Seite zu bemalen. Die große Euphorie hatte mich
gepackt wie alle anderen auch.
Ein paar Menschen haben mit von Ihnen bemalten Mauerteilen zum Teil viel
Geld verdient. Es gab Skandale. Wie geht es Ihnen damit?
Ein paar Hundert Meter Mauer sind in Monaco für die Charité versteigert
worden. Eine Woche später hat die DDR-Bank pleite gemacht und man hat die
Millionen nie wiedergesehen. Das fand ich besonders schlimm.
Vermissen Sie das alte, überschaubare Westberlin?
Wenn ich damals aus dem Fenster meines Zimmers im Rauch-Haus auf die Mauer
geguckt habe, habe ich mir geschworen: Niemals werde ich diese Zeit
nostalgisch verklären. Ja, ich war jünger, aber sonst hätte man das Leben
in Westberlin auch gar nicht ausgehalten. Das Leben war artifiziell, das
Schlimmste war diese tägliche Melancholie. In Berlin zu leben ist viel
besser geworden. Ich vermisse nichts.
Nicht mal die Kaninchen auf dem Potsdamer Platz?
Nicht mal die Kaninchen, denn die sind noch da. Tagsüber sind sie
versteckt, aber abends habe ich sie hüpfen sehen. Nachts kommen sie raus
und fressen das, was die Touristen fallen lassen. Die Kaninchen gibt es
überall in Berlin noch, die kriegt man nicht weg
8 Nov 2019
## AUTOREN
Thomas Winkler
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Lesestück Recherche und Reportage
9. November 1989
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