# taz.de -- NS-Forscher zur „Bundeskristallnacht“: „Vergleich völlig ina… | |
> Sachsens Gedenkstätten-Chef vergleicht die Stuttgarter Krawalle mit der | |
> „Reichskristallnacht“. NS-Forscher Harald Schmid fordert seinen | |
> Rücktritt. | |
Bild: Die Pogrome von 1938 waren zentral angeordnet und durch solch antisemitis… | |
taz: Herr Schmid, in welcher Tradition steht Sachsens Gedenkstätten-Chef | |
Reiprich, wenn er die Stuttgarter Krawalle „Bundeskristallnacht“ nennt? | |
Harald Schmid: Er befindet sich damit in einer langen Geschichte der | |
Bagatellisierung der Pogrome vom November 1938. Diese Ereignisse wurden auf | |
Text- und Fotoebene jahrzehntelang weißgewaschen. Noch heute taucht in | |
Texten oft nicht auf, dass damals auch Menschen ermordet wurden. Über 1.000 | |
Juden starben im Kontext der [1][Pogrome.] | |
Warum wird das verschwiegen? | |
Heute ist das ja breiter bekannt. Aber es handelt sich um eine lange | |
Deutungslinie. Sprachlich beginnt sie bei der bis heute benutzten Formel: | |
„als die Synagogen brannten“. Zudem wurde über Jahrzehnte kaum mehr als ein | |
halbes Dutzend Fotomotive verbreitet: brennende Synagogen, zerstörte | |
Scheiben von Läden in Berlin – von Ermordeten und Tätern keine Spur. Aber | |
der Kern der Gewalt – dass das deutsche Judentum 1938 sozio-kulturell quasi | |
enthauptet, dass ein großer Teil der Infrastruktur zerstört wurde: Das | |
wurde lange nicht in der ganzen historischen Dimension zur Kenntnis | |
genommen. Denn es wurden reichsweit auch Tausende Wohnungen, Geschäfte, | |
Friedhöfe, Schulen und Heime verwüstet und geplündert. | |
Alles in einer Nacht? | |
Nein – gerade nicht! Polemisch könnte man sagen: Wäre es doch nur diese | |
eine Nacht gewesen! Aber so war es nicht. Die landesweite Gewaltwelle wurde | |
zwar in dieser Nacht ausgelöst; der Zusammenhang mit dem Attentat des Juden | |
Herschel Grynszpan in Paris auf den Diplomaten Ernst vom Rath am 7. | |
November 1938 ist ja belegt. Noch am selben Abend begingen NS-Verbände – | |
ohne zentrale Steuerung – in Hessen erste Gewalttaten gegen Juden. Am 8. | |
November – 24 Stunden, bevor NS-Propagandaminister Goebbels die Pogrome | |
zentral anordnete – wurde in Hessen der erste Jude umgebracht, Robert | |
Weinstein. | |
Der Beginn einer Pogromwelle. | |
Ja. Sie dauerte, trotz Stopp-Appellen über Rundfunk und den „Völkischen | |
Beobachter“, oft tagelang, mitunter bis zu einer Woche – wie in Leipzig und | |
Wien. Da waren schon 30.000 jüdische Männer verhaftet und für Wochen und | |
Monate in KZ deportiert. Sie wurden von heute auf morgen aus einer | |
bürgerlichen, noch halbwegs geschützten Welt – obwohl der | |
Ausgrenzungsprozess weit fortgeschritten war – in eine barbarische | |
Parallelwelt gebracht. Von den Überlebenden kehrten viele tief verstört, | |
einige traumatisiert zurück. | |
Wie konnte angesichts dessen der fast poetische Begriff | |
„Reichskristallnacht“ entstehen? | |
Schwer zu sagen. Die erste Verwendung lässt sich für Juni 1939 auf einer | |
Gauversammlung der NSDAP in Lüneburg nachweisen. Wie der Begriff entstand, | |
ist unklar. Lange wurde kolportiert, er entstamme dem Berliner Volksmund | |
und beziehe sich auf die Scherben auf Straßen und Trottoirs. Ein Ostpreuße, | |
der das Kriegsende in Hamburg erlebte, hat die Ereignisse | |
„Reichsscherbenwoche“ genannt. Es gab noch etliche weitere Begriffe. | |
Welcher Ausdruck wäre adäquat? | |
„Novemberpogrome“. Das ist politisch korrekt, historisch exakt und | |
bezeichnet eine wichtige Zäsur. Nicht in puncto Ausgrenzung; die ja schon | |
seit 1933 im Gange war. Aber im November 1938 begann die – über punktuelle | |
Boykotte, Diffamierungen und Attacken weit hinausgehende – bundesweite | |
offene terroristische Gewalt. Das war im engeren Sinne noch nicht der | |
Genozid, aber eine völlig neue Dimension und ein großer Schritt auf dem Weg | |
nach Auschwitz. | |
Und wie beurteilen Sie Herrn Reiprichs Vergleich der Novemberpogrome mit | |
den Stuttgarter Krawallen? | |
Als Politikwissenschaftler und Historiker würde ich sagen, es ist zunächst | |
stets ein methodisches Problem: Wo vergleicht man Ereignisse – | |
differenziert und den eigenen Standort reflektierend – und wo versucht man | |
einfach gleichzusetzen? Wie setzt man Vergangenheit ins Verhältnis zur | |
Gegenwart? Bezüglich dieser Fragen lässt mich Herrn Reiprichs Äußerung aber | |
– freundlich gesagt – ratlos zurück. | |
Er hat seinen Tweet inzwischen als „Ironie“ bezeichnet. | |
Es grenzt an eine intellektuelle Beleidigung, überhaupt argumentieren zu | |
müssen, worin die Unterschiede bestehen. Die Fallhöhe zwischen den | |
Novemberpogromen und dem, was in [2][Stuttgart] geschah, ist extrem. | |
Außerdem agiert Reiprich merkwürdig ambivalent: Einerseits bagatellisiert | |
er die historischen Ereignisse. Andererseits dramatisiert er, indem er von | |
einem Klima der Intoleranz spricht – nur, weil er Kritik für einen | |
historisch völlig inakzeptablen Bezug bekommt. | |
Auch bezüglich der Dimension hinkt der Vergleich. | |
Ja. Erstens waren die Novemberpogrome die zentral gesteuerte, rassistisch | |
motivierte Aktion eines diktatorischen Systems. Zweitens fanden sie | |
reichsweit statt. Dritter Punkt: die Folgen. Natürlich war das in Stuttgart | |
ein heftiger Gewaltausbruch. Aber wir wissen noch wenig über die | |
Motivation. Das ist Lichtjahre entfernt von dem, was 1938 passierte. | |
Herr Reiprich sagt: „Mich in die rechte Ecke zu stellen, ist absurd.“ Ist | |
es das? | |
Ich scheue mich, immer sofort zu sagen: Das ist ein Rechter. Aber jemand, | |
der sich an öffentlichen Debatten beteiligt, muss wissen, dass er sich mit | |
bestimmten Begriffen im einschlägigen Kontext bewegt, hier im | |
rechtspopulistischen Diskurs. Mal angenommen, Herr Reiprich hätte nur den | |
[3][„Bundeskristallnacht“-Tweet] abgesetzt und das andere, was man von ihm | |
liest, nicht gesagt... | |
Sie meinen seine Befürchtung, dass die „Weißen“ aussterben. | |
Ja. Und angenommen, er hätte jetzt nur gesagt: Tut mir leid, ich habe mich | |
vergaloppiert. Dann könnte man vielleicht nach ein paar Tagen | |
kopfschüttelnd zur Tagesordnung übergehen. Aber er hat ja eine Geschichte | |
als Leiter der Gedenkstätten-Stiftung. Während seiner zehnjährigen Amtszeit | |
hat es ständig Kritik gegeben. | |
Etwa für seine Förderpolitik. | |
Ja. In allen ostdeutschen Bundesländern gibt es nicht nur Gedenkstätten zur | |
NS-Zeit, sondern auch solche, die die SED-Diktatur aufarbeiten. Unter Herrn | |
Reiprich gab es Haushaltsjahre, in denen 85 Prozent der Fördermittel in die | |
Aufarbeitung des DDR-Unrechts flossen. Das mag seiner Biographie als Opfer | |
der SED-Verfolgung geschuldet sein. Die Satzung der Gedenkstätten-Stiftung | |
legitimiert das jedenfalls nicht. | |
Fordern Sie seinen Rücktritt? | |
Ja. Herr Reiprichs Äußerungen offenbaren eine Negation historischen | |
Bewusstseins, die in keiner Weise akzeptabel ist. Wenn eine | |
Gedenkstättenstiftung, die ja gerade seriöse historisch-politische Bildung | |
fördern soll, so etwas hinnimmt, dementiert man sich selbst. Das ist die | |
schlimmste Negativwerbung für Gedenkstätten seitens einer Leitung, die ich | |
kenne. | |
7 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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