# taz.de -- Gedenkdemo an Novemberpogrome: „Erinnern heißt Handeln“ | |
> Eine Leipziger Initiative gedenkt am Donnerstag der Opfer der Pogromnacht | |
> von 1938 – ganz in der Tradition des DDR-Schweigemarsches von 1988. | |
Bild: Bereits vor 30 Jahren wurde in Leipzig in Gedenken an die vertriebenen J�… | |
LEIPZIG taz | Am 9. November 1988 war es ein Flugblatt, das eine der ersten | |
größeren antifaschistischen Demonstrationen der DDR auslöste. Verteilt auf | |
den Bänken der Leipziger Nikolaikirche, stand darauf geschrieben: „Wenn wir | |
das Gedenken an die Pogromnacht für uns annehmen, müssen wir unsere | |
Verantwortung als Mensch wahrnehmen.“ | |
Etwa 200 Teilnehmer folgten darauf einem Schweigemarsch, der zweierlei | |
Ziele verfolgte: Das Gedenken an die 1938 verfolgten Juden und Jüdinnen – | |
verbunden mit der Mahnung an den 1988 erneut aufsteigenden Neonazismus in | |
der Gesellschaft. | |
Heute, 30 Jahre später, erinnert man sich in Leipzig wieder an diese | |
Mahnung und die damit einhergehenden Ereignisse. Anlässlich des 80. | |
Jahrestages der Novemberpogrome hat sich in der Stadt mit dem | |
„Initiativkreis 9. November“ ein breites Bündnis aus jüdischen Initiative… | |
politischen Gruppen, geschichtspolitischen Verbänden und Einzelpersonen | |
gegründet. | |
Gesine Oltmanns gehört dazu. Und sie ist eine derjenigen, die auch 1988 | |
schon den Schweigemarsch organisierten. Sowohl ihr als auch jüngeren | |
Aktivist*innen ist bei der Gründung des Initiativkreises eine gewisse | |
Ähnlichkeit der damaligen politischen Lage zu heute aufgefallen. „Damals | |
wie heute erleben wir, dass rechtsradikale Taten und Strukturen von | |
staatlicher Seite bagatellisiert und nicht benannt werden“, sagt Oltmanns. | |
## Gegen Antisemitismus | |
Mit einer Gedenkdemonstration unter dem Titel „Erinnern – für eine offene | |
Gesellschaft“ will daher der Initiativkreis am Donnerstag an die | |
Novemberpogrome vor 80 Jahren erinnern und gleichsam Position gegen den | |
Antisemitismus und Rassismus heute beziehen – so wie bereits 1988. | |
Der Initiativkreis hat es sich dabei explizit zum Ziel gemacht, jüdisches | |
Leben in Leipzig zu thematisieren. Insgesamt 12.594 jüdische Menschen | |
dokumentierte die Volkszählung im Jahr 1925 in Leipzig – 24 Juden und | |
Jüdinnen waren es nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945. Alle anderen | |
wurden deportiert, ermordet oder flohen. Nicht zuletzt deshalb wird die | |
Demonstration an verschiedenen Orten jüdischen Lebens in Leipzig | |
vorbeiziehen, die zerstört oder vernichtet wurden. | |
„Mit Blick auf eine Zukunft ohne Zeitzeug*innen ist Erinnerung per se als | |
eigenes Handeln zu begreifen“, sagt Jane Wegewitz von ReMembering, einer | |
Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Leipzig, die dazu | |
Installationen erarbeitete. An diversen jüdischen Orten werden nun Audio- | |
und Fotoinstallationen gezeigt. „Diese Installationen mit Erinnerungen von | |
Zeitzeug*innen ermöglichen es uns, Menschen und ihren Erfahrungen zuzuhören | |
und die historischen Ereignisse aus einer Betroffenenperspektive | |
wahrzunehmen“, sagt Rebecca Rahe, die Sprecherin des Initiativkreises. | |
Auch historische Fotos sollen an Hauswände projiziert werden, etwa im | |
Brühl, in dem heute eine massive, gläserne Einkaufs-Mall steht. „Wer weiß | |
denn heute noch, dass dies eine belebte, jüdische Geschäftsstraße war?“, | |
fragt Rahe. | |
Nur an wenigen Orten der Stadt ist jüdisches Leben heute noch sichtbar. | |
Einer davon ist das Ariowitsch-Haus, eine Begegnungsstätte für jüdisches | |
Leben. Ein anderer Ort ist die Brodyer Synagoge. Auch sie wurde in der | |
Pogromnacht vom 9. November 1938 demoliert, entweiht und im Zuge der | |
„Arisierung“ als Seifenfabrik genutzt. Am 28. Oktober 1945 wurde sie | |
schließlich erneut geweiht und ist seitdem – nachdem auch alle anderen | |
Synagogen der Stadt zerstört wurden – das einzige jüdische Gotteshaus der | |
Stadt. | |
Heute ist die Israelitische Gemeinde in Leipzig mit über 1.300 Mitgliedern | |
zwar wieder die größte in Sachsen, dennoch ist das nur ein Zehntel der vor | |
der Schoah ansässigen Juden und Jüdinnen. „Unabhängig davon, wie weit von | |
uns die Pogromnacht entfernt ist, spüren wir immer noch den giftigen Rauch | |
vom damaligen Brand“, sagt Küf Kaufmann, der Vorstandsvorsitzende der | |
Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. | |
Auch an der Synagoge wird die Gedenkdemonstration vorbeiziehen. Sie | |
vereint damit bewusst historische Perspektiven mit aktuellen. „Wir knüpfen | |
an das Anliegen der Leipziger*innen vor 30 Jahren an, der ritualisierten | |
Gedenkpolitik eine aktive Form des Gedenkens an die Seite zu stellen, die | |
gesellschaftliche Entwicklungen benennt“, sagt Rahe. Insbesondere zu einer | |
Zeit, in der Antisemitismus und rechte Tendenzen mehr und mehr den | |
politischen Diskurs beeinflussen. | |
Die Gedenkdemonstration stehe damit in einer historischen Kontinuität. Der | |
Leitsatz: „Erinnern heißt Handeln.“ Ein Ansatz, den schon die bekannte | |
Schoah-Überlebende Esther Bejarano einst formulierte. | |
8 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Sarah Ulrich | |
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