# taz.de -- 30 Jahre Mauerfall: Geschichte wird erzählt | |
> Die Berliner Festivalwoche zu 30 Jahren Mauerfall hat begonnen. Schon ein | |
> kurzer Besuch am Brandenburger Tor lässt ahnen, dass es interessant wird. | |
Bild: Rauschen wie im Pappelwald: Die Kunstinstallation „Visions in Motion“… | |
BERLIN taz | Hunderte Male hat man sie gesehen, bei jedem Jahrestag in der | |
„Tagesschau“, bei jeder Doku über den Niedergang der DDR – die Bilder vom | |
Brandenburger Tor am Tag des Mauerfalls vor 30 Jahren: Dauergewellte | |
Menschen in komischen Jeans, die auf der Mauer sitzen, Händchen halten, | |
Korken knallen lassen. Und doch geht an diesem ersten Tag der | |
[1][Festivalwoche] zum Mauerfall in Berlin am Brandenburger Tor, als einem | |
von sieben Orten in der Stadt, wo gefeiert wird, noch einmal eine ganz | |
besondere Stimmung aus. | |
Vielleicht liegt es auch am Schmuddelwetter, dass am Montag gegen Mittag | |
nur wenige Menschen unter der rund 150 Meter langen Installation „Visions | |
in Motion“ unterwegs sind, unter diesem Teppich aus Erinnerungen, der seit | |
Samstag über der Straße des 17. Juni schwebt. | |
Auf 30.000 der insgesamt 100.000 bunten Stoffstreifen hat der Künstler | |
Patrick Shearn Menschen gebeten, ihre Wünsche und Erinnerungen zum | |
Mauerfall zu notieren. Die Installation erinnert an die flatternde Deko von | |
Gebrauchtwagenhändlern, wie sie Anfang der 1990er Jahre so manche Brache in | |
Berlin schmückte. Oder wahlweise, wenn der Wind durch die Zettel fährt, an | |
einen rauschenden Pappelwald. | |
Eine Gruppe von RentnerInnen aus Lichtenberg ist geradezu euphorisch, ein | |
amerikanisches Pärchen findet die Zettel ebenfalls „amazing“. Und auch ein | |
Mann mit Mütze und Bart, der angibt, Ostberliner und heute 46 Jahre alt | |
geworden zu sein, scheint sehr angetan. | |
„Da stehen gute Wünsche drauf“, sagt er. Auf einem habe er das Wort | |
„Frieden“ entziffert, auf einem anderen „Sicherer Hafen“. Eine aufregen… | |
Zeit sei das für ihn gewesen, als die Mauer fiel, kommt er sofort ins | |
Erzählen. Erst mal sei er zwei Jahre lang quasi verlorengegangen, seine | |
Mutter habe ihn gesucht, dabei habe er sich nur durch die Stadt treiben | |
lassen. | |
Noch ist nicht viel los am Brandenburger Tor, die Bühne für die großen | |
Konzerte wird gerade erst aufgebaut, aber schon jetzt zeichnet sich ab, | |
dass das Festival nicht so sehr von den großen Events zehren wird wie von | |
den kleinen, plastischen, alltäglichen Geschichten vom Mauerfall, die die | |
involvierten Künstler vor Ort versammelt haben. | |
## Mauer für Chor und Bläser | |
Ein paar Schritte weiter, im Infopavillon am Brandenburger Tor, laufen | |
gerade die Vorbereitungen für eine Kunstaktion, die ebenfalls so vorgeht. | |
„Mauer Broadcast“ wird heute wieder um 14 und am Sonntag noch einmal um | |
12.30 Uhr und um 14 Uhr aufgeführt. Die Komponistin, Sängerin und | |
Produzentin Lisa Bielawa hat ein 15-minütiges Stück für Chor und Bläser | |
geschrieben, bei dem Profis, aber auch alle, die zufällig vorbeikommen, | |
eingeladen sind mitzuwirken. | |
Die Texte beruhen auf Erinnerungen an den Mauerfall, welche die Künstlerin | |
Sheryl Oring vor fünf Jahren am Checkpoint Charlie gesammelt und | |
mitgeschrieben hat. Die Musik variiert Frage-und-Antwort-Spiele, immer | |
wieder werden Themen aufgebracht und dann nachgesungen, was durchaus Sinn | |
macht bei einer solchen Zusammenarbeit von Laien und Routiniers. | |
Vielleicht aber ist es an diesem grauen Montagmittag auch am schönsten am | |
Brandenburger Tor, wenn man mithilfe eines Handys oder eines der kostenlos | |
ausleihbaren Tablets eine App herunterlädt und dann mit dieser einen | |
virtuellen Spaziergang unternimmt. Während sich über den Bildern vom | |
Brandenburger Tor hier und heute beispielsweise die Mauer aufbaut, wie sie | |
kurz nach ihrem Bau aussah, erzählen drei fiktive Charaktere im Osten und | |
Westen der Stadt ihre persönlichen Mauer-Geschichten. | |
Auch, wenn es reizvoller gewesen wäre, wenn diese Geschichten echt gewesen | |
wären: Es hat seinen Reiz, wenn sich plötzlich auf dem Bildschirm ein | |
russischer Panzer ins Bild schiebt, während dahinter die realen japanischen | |
Touristinnen mit den lustigen Schirmmützen durchs Szenario laufen. | |
Man kann sich darüber streiten, ob es wirklich unverzichtbar ist, dass sich | |
Berlin alle fünf Jahre etwas Neues zum Mauerfall ausdenken muss, ob der | |
Mauerfall nicht langsam auserzählt ist. Man kann es aber auch interessant | |
finden, wie der zentrale Blick von oben auf dieses Ereignis im Laufe der | |
Jahre immer weiter aufgeweicht ist, wie divers er heute ist. | |
4 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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