| # taz.de -- 30 Jahre Mauerfall: Zoom in die Vergangenheit | |
| > Keine Lichtgrenze, keine Dominosteine, stattdessen eine Vielzahl von | |
| > Veranstaltungen und eine „Route der Revolution“. Schwierige Themen | |
| > ausgeklammert. | |
| Bild: Der Palast der Republik auf dem Stadtschloss | |
| Es ist nicht zu übersehen, dass der Mauerfall zu den Ereignissen gehört, | |
| die Michael Müller noch immer bewegen. „Der 9. November 1989 hat uns | |
| gezeigt, was aus einem Freiheitsgedanken heraus entstehen kann“, sagt der | |
| Regierende Bürgermeister und blickt am Montag durch die weite Halle der | |
| Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg. Dann schlägt er den Bogen in die | |
| Gegenwart. „Heute haben wir wieder wichtige Diskussionen zu bestehen, mit | |
| Menschen und Parteien, die sich auf den Mauerfall berufen, aber etwas | |
| anderes wollen.“ | |
| 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat das Ringen um das Erbe der friedlichen | |
| Revolution begonnen. „Vollende die Wende“, plakatiert die AfD in | |
| Brandenburg. Demgegenüber steht das Gedenken des rot-rot-grünen Senats an | |
| den Mauerfall, dessen Programm am Montag in der Gethsemanekirche | |
| vorgestellt wurde. | |
| Schon im Vorfeld hatten sich der Senat und die landeseigenen Kulturprojekte | |
| als Veranstalter darauf geeinigt, anders zu feiern als 2009 oder 2014. „Wir | |
| wollen keine Dominosteine mehr fallen lassen und auch keine Lichtgrenze | |
| mehr installieren“, hatte Kulturprojekte-Chef Moritz van Dülmen bereits | |
| durchsickern lassen. Massenevents seien nach dem Anschlag am | |
| Breitscheidplatz ohnehin nur noch schwer zu organisieren. Außerdem wolle | |
| man nicht nur feiern, sondern auch thematisieren, was nach dem Fall der | |
| Mauer nicht so gut gelaufen sei. | |
| Kein „Friede-Freude-Eierkuchen“, bekräftigte van Dülmen seinen Wunsch an | |
| ein Erinnern an den Mauerfall in Zeiten von Pegida, AfD-Erfolgen und einem | |
| Anwachsen des Rechtspopulismus in ganz Europa. Das klingt, als wolle der | |
| Senat auch diejenigen für Demokratie und Freiheit zurückgewinnen wollen, | |
| die in der Zeit nach der Wende Enttäuschungen erlebt und sich von der | |
| Demokratie entfernt haben. | |
| Herausgekommen ist am Ende ein Programm, das tatsächlich auf das eine, | |
| große Ereignis verzichtet und stattdessen in die Breite geht. Im | |
| öffentlichen Raum der Stadt wird vom 4. bis 10. November eine „Route der | |
| Revolution“ entstehen, die an sieben Orten die Geschichte des Herbstes 1989 | |
| bis zu den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 erzählt. | |
| So steht der Alexanderplatz für die größte Demo der DDR am 4. November | |
| 1989, das Brandenburger Tor für die Maueröffnung, der Kurfürstendamm für | |
| die Sehnsucht nach Freiheit und Wohlstand, der Schlossplatz für die frei | |
| gewählte Volkskammer im Palast der Republik, die Stasi-Zentrale für den | |
| Versuch, die Akten zu vernichten, die East Side Gallery für die kulturelle | |
| Aneignung der Mauer, und die Gethsemanekirche dafür, wo und wie alles | |
| begonnen hatte. | |
| „Es war der Mut der Menschen, die ihre Angst überwunden haben“, beschwört | |
| van Dülmen den Geist dieser Wochen, dem 30 Jahre danach nachgespürt werden | |
| soll, „auch wenn die Hälfte der Berlinerinnen und Berliner die Mauer nie | |
| gesehen haben.“ Visuell wird dabei etwa die Schlossfassade des Humboldt | |
| Forums per 3-D-Videoporojektion wieder in den Palast der Republik | |
| verwandelt. Die Transparente der Demo vom 4. November sind der Anlass, auch | |
| heute wieder Wünsche und Hoffnungen aufzuschreiben. 30.000 von ihnen sollen | |
| dann, in einer Art gewebtem Transparent, über dem Brandenburger Tor | |
| schweben. | |
| Und was ist mit dem Anspruch, diesmal anders auf den Mauerfall zu schauen? | |
| Wo wird die Ernüchterung thematisiert, die auf die Euphorie folgte? Warum | |
| gibt es zum Beispiel keine 3-D-Projektion auf das Finanzministerium in der | |
| Wilhelmstraße, in dem bis 1994 die Treuhand-Zentrale untergebracht war, ein | |
| Ort zahlloser Demonstrationen von Menschen, die gegen ihre Abwicklung | |
| demonstrierten? | |
| Tom Sello, Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, erklärt | |
| das mit der zeitlichen Begrenzung der Feierlichkeiten. „Alleine bis zum | |
| März 1990 haben sich die Wünsche und Hoffnungen der Menschen mehrfach | |
| geändert“, erklärt er der taz. Die Zeit danach, die Währungsunion zum | |
| Beispiel, die Wiedervereinigung und die Treuhand sind wohl eher ein Thema | |
| für den Tag der Deutschen Einheit 2020 als für 30 Jahre Mauerfall. | |
| Oder sie werden in den Veranstaltungen im Begleitprogramm zur Sprache | |
| kommen. Mehr als hundert davon gibt es, etwa ein Punkkonzert in der | |
| Stasi-Zentrale, eine Lesung von Jakob Hein als „Audition for Democracy“ | |
| oder ein Konzert von Patti Smith. Höhepunkt ist dann der zentrale Festakt | |
| am Brandenburger Tor, bei dem unter anderem DJ Westbam den „Soundtrack“ von | |
| 1989 in Erinnerung rufen soll. | |
| Welche große Kraft die erzählte Erinnerung noch immer hat, zeigte die | |
| Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, die am Montag die Ereignisse rund um | |
| die Gethsemanekirche ins Gedächtnis rief. „Als wir hörten, dass am 9. | |
| Oktober in Leipzig 70.000 auf der Straße waren, gingen wir hinaus aus der | |
| Kirche und hatten das Gefühl: Wir haben es geschafft.“ | |
| 19 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
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