# taz.de -- 9. November 1989 in der taz-Redaktion: Als Schabowski sprach | |
> Taz-Korrespondent Erich Rathfelder erinnert sich an den Abend, als die | |
> Mauer fiel: Angst vor falschen Schlagzeilen, Bier am Checkpoint Charlie | |
> und lächelnde Vopos. | |
Bild: 9. November in Berlin | |
Berlin taz | Es war ein grauer Novemberabend. Um 19 Uhr hatten die meisten | |
Redakteure die taz-Räume nahe des innerstädtischen Grenzübergangs | |
Checkpoint Charlie schon verlassen. Nur einige Leute aus dem Satz und der | |
Redaktion waren noch da, so der Chef vom Dienst Raul Gersson. Die | |
Redakteure Max Thomas Mehr und Erich Rathfelder interessierten sich noch | |
für die letzten Nachrichten. | |
Da stürmte der Mann, der die einlaufenden Ticker von der Telex-Maschine | |
abriss und auf die Fächer der Redakteure zu verteilten hatte, in den Raum | |
und deutete auf einen der Ticker. „Schaut euch das mal an, was bedeutet | |
das?“ Wir versuchten, die verschwurbelte Nachricht des | |
[1][SED-Politbüromitglieds Schabowski] zu entziffern. Was, Reisefreiheit | |
gelte ab Mitternacht, ist jetzt die Mauer offen? | |
Uns blieb die Spucke weg, es blieb aber keine andere Deutungsmöglichkeit. | |
Sofort war klar: Wir mussten die erste Seite des Berlinteils der Zeitung – | |
für die westdeutschen Ausgaben war alles schon zu spät – umschmeißen. Und | |
zwar sehr, sehr schnell. Raul tippte einen kurzen Text. „Die Mauer ist | |
auf“, titelten wir. Und Max Thomas hatte noch die Idee, dem Ganzen einen | |
umweltbewussten Touch zu verpassen: „Kommt alle mit der S-Bahn!“ Also nicht | |
mit umweltschädlichen Trabbis, sollte das ironisch bedeuten – wir witzelten | |
angesichts des erdrückenden historischen Augenblicks. | |
## Mit taz-Titelseiten zum Checkpoint Charlie | |
Ich kopierte noch Hunderte Titelseiten und ging runter zum Checkpoint | |
Charlie. Die Leute dort schauten ungläubig auf die Kopien. Doch schon | |
sammelten sich Leute entlang der Mauer. Es wurden immer mehr. Die damalige | |
Chefredakteurin lud noch ein zu einem Umtrunk zu sich nach Hause. Sie war | |
besorgt. War die Schlagzeile falsch??? Sie bekam Muffensausen. | |
Mich hielt nichts mehr am Checkpoint Charlie. Ich kam noch rechtzeitig zum | |
Grenzübergang Invalidenstraße, andere gingen zum Reichstag oder zu | |
innerstädtischen Grenzübergängen. Punkt 12 Uhr sammelte sich in der | |
Invalidenstraße eine Menschenmenge, unter ihnen der Regierende | |
Bürgermeister Walter Momper, am Schlagbaum. Wir hoben ihn gemeinsam mit | |
anderen Leuten hoch, ich fragte Momper nach seinen Gefühlen. Angesichts der | |
von der anderen Seite strömenden Menge sagte er ruhig und gefasst. „Berlin | |
ist wieder Berlin.“ | |
Alles blieb ruhig. Die meisten Vopos (Volkspolizisten) waren erstarrt, | |
einige lächelten. Sie ließen die Menge aus dem Osten nach Westen und die | |
aus dem Westen nach Osten ziehen. Es gab in diesem Moment keine | |
Sprechchöre, es gab keine aufgewühlten Emotionen. Es war ein ruhiges | |
Aufeinanderzugehen, ein beindruckendes und würdiges Schauspiel. Das ich | |
eine halbe Stunde genießen konnte. | |
## Kein Schnaps in der taz für den Besuch aus dem Osten | |
Von der Invalidenstraße ging ich zu Fuß zur taz zurück. Am Reichstag | |
vorbei. Zum Checkpoint Charlie, dort gab es kein Halten mehr. Offene Freude | |
brach sich Bahn. Alle umliegenden Kneipen wie überall in ganz Westberlin | |
waren offen. Das Bier floss in Strömen. Nicht in der taz allerdings. Da war | |
ja nix vorbereitet, die Besucher aus dem Osten würdig zu empfangen, wer | |
hätte das auch tun sollen? Es blieb es um 4 Uhr morgens bei netten Worten | |
mit jenen Alternativ-Leuten vom Prenzlberg, die gespannt auf taz und die | |
alternative Westzene waren. Und für die das erste Treffen enttäuschend | |
verlief. | |
Es blieb also nur noch, heimzugehen und den müden Knochen eine wenig Ruhe | |
zu gestatten. Berlin was Berlin again. | |
Anmerkung: Wir, die taz, waren eine alternative Zeitung und Flaggschiff der | |
westlichen, damals so genannten Alternativszene. Die östliche | |
Alternativszene war ein bisschen anders gelagert als wir. Später ließen | |
sich beide Seiten vom Mittelschichtsleben verführen. Beide Seiten haben | |
sich das Markenzeichen „alternativ“ von den Rechten klauen lassen. | |
9 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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