| # taz.de -- Polarisierung der Gesellschaft: Spaltung? Ja, bitte! | |
| > Die Proteste gegen den Rechtsruck, aber auch der Umgang mit Klimakrise | |
| > und Ungleichheit zeigen: Damit es Veränderungen gibt, brauchen wir | |
| > Konflikte. | |
| Ein Mann, der nachts alleine durch Villenviertel schleicht und die Luft | |
| [1][aus den Reifen der dort geparkten SUVs lässt] – so einer polarisiert. | |
| Das habe ich festgestellt, als ich vor ein paar Wochen einen Artikel über | |
| Stefan schrieb, der genau das tut. Selten habe ich so viele Zuschriften von | |
| Leserinnen und Lesern bekommen wie zu diesem Artikel. | |
| Mehr waren es nur bei einem Text, den ich vor vielen Jahren schrieb, ein | |
| kurzer, schnell verfasster Kommentar. Anlass war damals, dass für einen | |
| bestimmten Berliner Badesee ein Hundeverbot diskutiert wurde. Ich fand das | |
| gut, ich bin kein Fan von Hunden, schon gar nicht, wenn sie nass sind. Sehr | |
| viele Menschen sahen das anders und ließen es mich per Mail und die | |
| Öffentlichkeit per Kommentar unter dem Artikel wissen – „taz, Augen auf bei | |
| der Mitarbeiterwahl!“, lautete mein Favorit. | |
| Ich war überrascht von den Reaktionen und lernte, dass Hunde ein | |
| „Triggerthema“ sind. Es löst Emotionen aus, Affekte. Menschen, die Hunde | |
| lieben, reagieren oft mit Wut und Empörung darauf, wenn jemand leichthin | |
| über seinen Hundeabscheu spricht, sie fühlen sich provoziert, persönlich | |
| getroffen. Hunde polarisieren. | |
| Was Stefan und die SUVs angeht, habe ich nicht nur negative Zuschriften | |
| bekommen, manche Leser:innen waren voller Lob für seine Aktionen. Eine | |
| bat mich sogar, ihm 100 Euro zukommen zu lassen. Doch auch hier erreichte | |
| mich viel Post voller Wut, Empörung und persönlicher Betroffenheit. Einige, | |
| aber nicht alle der Absender:innen waren SUV-Fans. Manche regte auf, | |
| dass Stefan seine Aktionen alleine durchzieht, dass er kein Teamplayer sei, | |
| und wieder andere fanden, dass Gewalt, auch gegen Gegenstände, niemals ein | |
| legitimes politisches Mittel sein dürfe. | |
| Eine Sorge trieb gleich mehrere Leser:innen um. Sie fürchteten, dass | |
| Stefans Aktionen zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Er selbst | |
| sei kein Fan von übergroßen Autos, schrieb mir ein Leser, aber SUV-Fahrer | |
| auf diese Art zu provozieren, werde nur dazu führen, „dass die Spaltung | |
| unserer Gesellschaft immer größer wird, und das kann kein Demokrat wollen.“ | |
| Aber ist Polarisierung wirklich immer schlecht, kontraproduktiv, | |
| antidemokratisch? | |
| ## Manchmal ist es richtig, das zu betonen, was trennt | |
| Nehmen wir die [2][Demonstrationen gegen den Rechtsruck], die gerade jedes | |
| Wochenende Hunderttausende auf die Straße bringen. Diese Proteste markieren | |
| eine Linie der Polarisierung. Sie sagen: Wenn ihr in diesem Land eine | |
| Stimmung schaffen wollt, die für alle, die ihr für nicht ausreichend | |
| deutsch haltet, so unerträglich wird, dass sie gehen müssen – dann gehört | |
| ihr nicht zu uns, dann seid ihr unsere Feinde. Das ist Polarisierung. | |
| Ob sie der AfD schadet oder nützt, ist eine strategische Frage, die extrem | |
| schwer zu beantworten ist. Ein direkter Zusammenhang zwischen gesunkenen | |
| Umfragewerten für die Partei und den Demonstrationen ist wissenschaftlich | |
| schwierig zu untersuchen und empirisch nicht exakt zu beantworten. Es gibt | |
| Anhaltspunkte dafür, dass die Proteste unter bestimmten Voraussetzungen | |
| sehr wohl dazu führen könnten, dass die AfD schwächer wird. Aber sicher ist | |
| das nicht. | |
| Es stellt sich neben der strategischen Frage aber auch eine der Haltung: | |
| Finden wir es richtig, mit Menschen, die die politischen Ziele eines | |
| Rechtsextremen wie [3][Martin Sellner] vertreten, nicht das Gemeinsame zu | |
| suchen, sondern das Trennende zu betonen? Zu sagen: Wenn das eure Position | |
| ist, dann könnt ihr mit uns kein Wir bilden, niemals? Ich finde schon. | |
| Nun sind Rechtsextreme ganz und gar nicht das Gleiche wie SUV-Fahrer*innen. | |
| Trotzdem halte ich die These, dass Polarisierung per se | |
| demokratiegefährdend sei, für nicht haltbar. | |
| ## Sichtbare Polarisierung | |
| „Triggerpunkte“, die im Herbst erschienene [4][Studie von Steffen Mau, | |
| Thomas Lux und Linus Westheuser], wurde zu Recht viel gelobt. Die Arbeit | |
| geht der Frage nach, warum manche Themen mehr „triggern“, also für Empöru… | |
| und Aufregung sorgen, als andere. Die Ergebnisse sind aufschlussreich, doch | |
| auch in diesem Buch klingt immer wieder die implizite Annahme an, dass zu | |
| viel Polarisierung, zu viele Konflikte der Gesellschaft und letztlich der | |
| Demokratie schaden. | |
| Dabei liefern die Forscher:innen selbst Anhaltspunkte dafür, dass das so | |
| pauschal nicht stimmen kann. Ein Ergebnis ihrer Arbeit ist, dass Themen aus | |
| dem Feld der sozialen Ungleichheit vergleichsweise wenig Empörung auslösen. | |
| Vereinfacht gesagt: Es regt Menschen deutlich mehr auf, wenn zwei Stunden | |
| die Woche das Schwimmbad für trans Personen reserviert ist, als wenn ihr | |
| Vermieter, der sich von seinem Erbe ein Haus gekauft hat, jeden Monat durch | |
| Mieteinnahmen reicher wird, die sie sich mühsam von ihrem Lohn abknapsen. | |
| Nun ist es so, dass nicht nur der Anteil armer Menschen in Deutschland | |
| gestiegen ist, sondern auch [5][der Reichtum reicher Menschen, und zwar | |
| stärker als im globalen Durchschnitt]. Die Ungleichheit nimmt zu. Da liegt | |
| es auf der Hand, zu fragen: Wäre es nicht gut, wenn das mehr Leute aufregen | |
| würde? Wenn sich mehr Leute darüber empörten und öffentlich aufregten, dass | |
| Reiche mitten in der Klimakrise mit ihren SUVs, Villen und Flugreisen | |
| [6][ein Vielfaches an Umweltschäden anrichten]? | |
| Wäre es so, hätten wir eine sichtbare Polarisierung, denn dann wären die | |
| Stimmen derjenigen, die diese Ungleichheit nicht in Ordnung finden, in der | |
| Debatte ebenso laut wie jene, die damit völlig einverstanden sind, und es | |
| stünden sich zwei verschiedene Lager in der Diskussion gegenüber. | |
| ## Ohne Polarisierung keine Vermögenssteuer | |
| Fehlt eines der Lager in der Wahrnehmung und wirkt die Diskussion deshalb | |
| konsensualer, heißt das nicht, dass es keine Polarisierung gibt. Die | |
| soziale Ungleichheit und auch die [7][extremen Unterschiede bei den | |
| CO₂-Emissionen von reichen und armen Menschen] sind trotzdem da. Diese | |
| materiellen Polarisierungen sind nur unsichtbar gemacht, sie sind im | |
| Diskurs nicht abgebildet, sobald eines der Lager in der Debatte | |
| unterrepräsentiert ist. | |
| Ein bundesweiter Mietendeckel in Großstädten, die Wiedereinführung der | |
| Vermögenssteuer oder auch höhere Steuern auf SUVs, wie es sie in Frankreich | |
| schon gibt – das alles sind politische Maßnahmen, die ohne Konflikt, also | |
| ohne Sichtbarwerden der Polarisierung, niemals kommen werden. | |
| Veränderung passiert nicht ohne Konflikt und Polarisierung. Wichtig ist, | |
| die Linie an der richtigen Stelle zu ziehen. Ich würde sie zwischen mir und | |
| Martin Sellner ziehen, aber nicht zwischen mir und absolut jeder | |
| AfD-Wählerin. Und ich denke auch nicht, dass es zielführend wäre, wenn die | |
| stärkste gesellschaftliche Polarisierungslinie die Frage nach der Größe des | |
| eigenen Autos wird. Nicht nur, weil man fairerweise den auch in | |
| SUV-Hasser-Kreisen verbreiteten Winterurlaub auf den Kanaren mit | |
| einbeziehen müsste, sondern auch, weil individuelle Konsumentscheidungen | |
| ein Teil des Problems, aber nicht seine Ursache sind. | |
| Trotzdem: Es ist besser, sich wegen der richtigen Dinge zu streiten, als | |
| sich bei den falschen Dingen einig zu sein. Was Hunde angeht, halte ich | |
| friedliche Koexistenz durchaus für denkbar. Gegen Rechtsextreme, die | |
| Migrationspolitik der Ampelregierung oder soziale Ungleichheit, und auch in | |
| Bezug auf überdimensionierte Autos in Städten, wünsche ich mir Protest. | |
| Nicht obwohl, sondern gerade weil das Gegenhalten immer Polarisierung | |
| bedeuten wird. | |
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| 18 Feb 2024 | |
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