# taz.de -- Die These: Spaltung der Gesellschaft? Quatsch! | |
> Das Geplapper von der „Spaltung der Gesellschaft“ erklärt gar nichts. Wer | |
> davon spricht, will nicht über Interessenunterschiede oder Macht reden. | |
Bild: Menschen in einer Einkaufsstraße in Frankfurt am Main | |
Bitte spreche niemand mehr von der „Spaltung der Gesellschaft“. Man hört | |
davon derzeit rund um die Uhr. Keine andere Wendung wird, als sei sie ein | |
Geschütz, um Offenkundiges zu markieren, so oft in Stellung gebracht. Ich | |
nenne sie hier nur SdG, das verschwendet weniger Platz. | |
Eine simple Google-Suche besagt: SdG bringt es auf 8,6 Millionen | |
Ergebnisse. Es wird etwa der US-amerikanische | |
[1][Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz] angezeigt, er hält die SdG | |
im Zusammenhang mit der „Ungleichheit“ für besonders auffällig. Aber die | |
ökonomischen Wissensdisziplinen sind nicht die einzigen Bereiche, in denen | |
diese Chiffre wie aus einem Zauberkasten hervorgekramt wird. Die digitale | |
SdG hat [2][die Bertelsmann Stiftung im Blick], in der Frankfurter | |
Rundschau hingegen wird die Coronaberichterstattung [3][mit der Warnung vor | |
der SdG aufgepeppt]. | |
Der TV-Sender Sat.1 [4][fragt aktuell]: „2G: Spaltung der Gesellschaft oder | |
Notbremse in der Pandemie?“ Ebenfalls sehr gern taucht die SdG auf in den | |
kultur- und politikreligiösen Sendungen von Deutschlandfunk und | |
Deutschlandradio Kultur, sehr oft im Expert*innengespräch. Gefühlt jeden | |
Tag und stündlich warnt irgendeine berufene (oder unberufene: in Form von | |
Hörer*innenbeiträgen) Person vor ihr. | |
Aber die SdG erklärt nichts, gar nichts, niemals. Denn davon abgesehen, | |
dass „Gesellschaft“ kein Subjekt ist, kein Mensch, sondern ein gedachtes | |
Ganzes, die Kategorie schlechthin in der Soziologie, kann niemand | |
Gesellschaft ermessen. Es gibt keine Beobachtungsposition, keinen Hochsitz | |
im Wald beim Ausspähen von Getier und Geschehen, von der aus auch nur | |
irgendeiner von uns einen Überblick zum oder gar vom Ganzen, | |
Gesellschaftlichen hat. | |
Maßgrößen existieren nicht, niemand könnte sagen, beispielsweise und nur | |
fiktiv: 31,3 Prozent aller Irgendwermenschen möchten dies & das und handeln | |
so oder so. Denn das große Gewusel namens Gesellschaft ist ein Objekt, das | |
stets beobachtbar wirkt – und doch nie sein kann. Trotzdem rattert die | |
Diskursmaschine weiter (aus Büchern und Aufsätzen, Texten wie diesem hier | |
natürlich auch), lebt eine ganze Deutungsindustrie von der nur | |
eingebildeten Kraft, so etwas wie Gesellschaft vollumfänglich erklären zu | |
können. | |
## Schlager der Plapperei | |
Dabei sind Gesellschaftsdiagnosen immer nur von Wert, werden sie in | |
Smalltalk-Gewittern in der Bahn, im Kolleg*innenkreis oder auf Partys | |
geäußert. „Finden Sie nicht auch, dass wir in einer erschöpften | |
Gesellschaft leben?“ Oder, um mal ein paar magische Worte, allesamt | |
Schlager der Plapperei, zusammenzupappen: „Die spätkapitalistische | |
Gesellschaft findet wirklich nicht mehr aus dem Burn-out heraus, uns droht | |
eine depressive Zeit.“ Der Top-Hit unserer Zeit bleibt indes die Rede von | |
der „Spaltung der Gesellschaft“, um diese opulente Formel dann doch noch | |
mal auszuschreiben. | |
Meist folgen auf den Befund noch gute oder weniger gute Ratschläge: „Wir | |
brauchen mehr Entschleunigung“ oder „Wir brauchen bessere Kommunikation“. | |
Was aber nicht gesagt wird, wenn die SdG zur Sprache kommt, ist das | |
soziologisch Banalste: Dass Menschen verschieden sind, dass sie divers | |
ticken und im Übrigen auch sehr gern irrtumsanfällig, erratisch sind. Sie | |
haben nämlich Interessen, eigene. Die zu ermitteln wäre wichtig, sie zur | |
Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu müssen, darauf käme es an. | |
SdG – das ist die Formel des explorierten Nichts und Alles, und vermag | |
nicht damit umzugehen, wenn Menschen einfach ihre (gemeinsame) Kraft | |
einsetzen, um etwas gegen andere durchzusetzen. Wie etwa, klassisch aus der | |
Arbeiter*innenbewegung, mit einem Streik: Lohnabhängig Beschäftigte wollen | |
etwas durchsetzen und ihr Arbeitgeber muss sich dem stellen, ob mit dem | |
Streik nun eine Spaltung des Betriebes attestiert werden muss oder nicht. | |
Ein Streik, bei dem es ums Eingemachte, mithin um Geld und Zeit, geht, ist | |
immer eine spalterische Angelegenheit – und das ist auch richtig so. | |
Das aber ist dann kein Partygeplauder mehr, in der kommunikative und | |
kritisch gesinnte Besorgnis der wohlfeilsten Sorte geäußert wird, sondern | |
eben eine Interessenkollision, die entweder in einen Kompromiss mündet, in | |
der Zerschlagung der Aktion (mit womöglich krassen Folgen für die | |
Rädelsführer*innen) oder im Erfolg dessen, was eben ein Streik vermag: eine | |
Lohnerhöhung, die Gründung eines Betriebsrats oder kürzere Arbeitszeiten. | |
## Antipolitische Wendung | |
Entsprechend charakterisieren Klimastreiks ebenfalls keine SdG, sondern den | |
Aufbruch der jugendlichen Generationen gegen die Folgen der Klimakrise. | |
Doch, so oder so: Eine SdG ist das alles nicht, sondern ein Zeichengewitter | |
an neuer gesellschaftlicher Bewegung. | |
Mit anderen Worten: Da „Gesellschaft“ ein hochkompliziertes Gebilde ist, da | |
sie eben keine „Gemeinschaft“ ist, kein familiäres Konstrukt, sondern | |
arbeitsteilig, kommunikativ verwirrend uneinheitlich, multikulturell und | |
multischichtenartig strukturiert, ist die Rede von ihrer Spaltung | |
antipolitisch. Wer von SdG spricht, will über Interessengegensätze, möchte | |
über Macht nicht reden. | |
Ein demokratischer Staat kann, ja darf sich in puncto Corona nicht auf | |
hochempfindsame Überlegungen und zeitlästige Dauergrübeleien verlegen, wie | |
man die aktuell explodierenden Inzidenzziffern möglichst ohne SdG | |
moderiert. Sein Job ist nicht der einer Moderation, sondern der einer | |
ethischen Güterabwägung – und bei dieser darf in der Tat von einer | |
„Tyrannei der Ungeimpften“ gesprochen werden. Diese blockieren mit ihren | |
Impfunwilligkeiten Versorgungspotenziale in Krankenhäusern. Wichtige, | |
lebenserhaltende Operationen können nicht ausgeführt werden, weil die | |
Bettenkapazitäten von den Impfunwilligen in Beschlag genommen werden. | |
## Das Geschwätz von Spaltung behindert gute Coronapolitik | |
Und die Politik, die neue Regierung? Verhält sich wie auf einer Party, auf | |
der sich alle einig sind, dass man eine SdG doch auf keinen Fall riskieren | |
wolle. Und genau das ist falsch, weil Rücksicht genommen wird, hinter der | |
sich Entscheidungsschwäche verbirgt. Wenn schon keine Impfpflicht | |
durchgesetzt werden kann – obwohl diese so populär wie ein Tempolimit auf | |
Autobahnen von 130 ist –, dann doch bitte ernsthafte 2G-Lösungen. Wer dem | |
nicht folgt, kann nicht in Restaurants innen Platz nehmen, für den sind | |
Partys und andere öffentliche Geselligkeiten unmöglich. | |
Das Geschwätz von SdG hat verhindert, dass man Tacheles redet. Wie | |
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich vom dissidenten | |
Impfskeptiker*innenchor nicht einschüchtern lässt. SdG – das ist die | |
Ausrede an sich, demokratische Entscheidungen zu unterlaufen, wenigstens | |
atmosphärisch. | |
Politisch zu sprechen, darauf käme es an: Dass in den Schulen wahrlich | |
nicht überall Corona gemanagt wird, dass dies besonders die | |
Schüler*innen ohne bildungsaffinen Hintergrund trifft. Dass Pflege- und | |
Krankenhauspersonal einer Impfpflicht unterworfen sein sollte. Und dass, | |
wer in U- und S-Bahnen oder in Zügen keine Maske trägt, nicht mitgenommen | |
werden kann. | |
Das ist zwar im Einzelfall fies und blöd, aber der Preis, den | |
Antiimpfungsmenschen zu zahlen haben. Worauf es ankommt, ist nämlich | |
weniger das Individualistische, das Unbehagen am Camouflierten, | |
Gesichtsbedeckten – sondern Solidarität. | |
Wie das zweckmäßig organisiert wird, und zwar durchaus zum Verdruss vieler, | |
ist in Spanien, Portugal, Israel oder in Italien zu bestaunen. Ein seriöses | |
Coronaregime, das etwa auf Diskursteilnehmer*innen wie etwa die | |
Schriftstellerin Juli Zeh vielleicht freiheitseinschränkend wirkt, aber auf | |
sie kommt es nicht an. | |
Freiheit ist hier nur das Prinzip: sich und andere vor der Erkrankung an | |
Corona zu bewahren. Dass das zu einer Spaltung der Gesellschaft führen | |
kann: Na und? | |
14 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.socialnet.de/rezensionen/14033.php | |
[2] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2021/novem… | |
[3] https://www.fr.de/meinung/kommentare/corona-pandemie-spalterische-angst-910… | |
[4] https://www.sat1.de/news/politik/2g-spaltung-der-gesellschaft-oder-notbrems… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Streik | |
Soziale Spaltung | |
Macht | |
Impfung | |
Gesellschaftskritik | |
wochentaz | |
Journalismus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
FC Bayern München | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Polarisierung der Gesellschaft: Spaltung? Ja, bitte! | |
Die Proteste gegen den Rechtsruck, aber auch der Umgang mit Klimakrise und | |
Ungleichheit zeigen: Damit es Veränderungen gibt, brauchen wir Konflikte. | |
Gefühle statt Handlungen: Wir stellen die falschen Fragen | |
Auch Journalist:innen rennen so manchem Trend hinterher. Die Folge: Sie | |
stellen dämliche Fragen. Eine entledigt gar Politiker ihrer Verantwortung. | |
Kampf gegen die vierte Coronawelle: Alle in die Impfpflicht nehmen | |
Freiwilligkeit ist super. Doch die Befindlichkeiten von Ungeimpften sollten | |
nicht mehr über das Leben anderer Menschen gestellt werden. | |
Der Fall Kimmich: Sag mir, wo du stehst! | |
Die Aufregung um den Impfstatus von Joshua Kimmich ebbt nicht ab. Die | |
Annahme, der Fußballer habe keine Wahl, ist falsch. | |
Ungleichheit in der Coronakrise: Armut ist kein Naturgesetz | |
Die Coronakrise trifft wenig Verdienende stärker als andere. Die Mittel, | |
der sozialen Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, sind bekannt. |