# taz.de -- Diskussion über Zustand der Demokratie: Krise ist doch normal | |
> Ruinieren die sozialen Medien die Demokratie? HistorikerInnen geben in | |
> Bielefeld Entwarnung. Der Soziologe Steffen Mau sieht das anders. | |
Bild: Beschädigtes Wahlplakat: Wut statt Debatte? | |
Die sozialen Medien stehen unter Verdacht, der Demokratie zu schaden. Die | |
Demokratisierung und Öffnung des Diskurses erscheint paradoxerweise als | |
Gefahr für die Demokratie. Ist das ein neues Phänomen? Wie sehen | |
„Öffentlichkeit und Demokratie“ aus historischer Sicht aus, so die Frage | |
[1][der vierten Bielefelder Debatte zur Zeitgeschichte]. | |
Die Historikerin Ute Daniel, [2][Verfasserin einschlägiger Werke zum | |
Verhältnis von Medien und Politik,] gab Entwarnung. Im 18. Jahrhundert | |
hätten Romane als Gefahr für die öffentliche Ordnung gegolten. Immer wenn | |
Medien als Problembär identifiziert würden, seien eher andere als | |
desasterhaft empfundene Phänomene gemeint. | |
Auch in der Weimarer Republik habe es in der Presse schon Shitstorms, | |
Beleidigungen bis hin zum Mordaufruf gegeben. Nichts Neues also. „Die | |
Demokratie geht unter, seit es sie gibt“, so Daniel. Das wurde quasi als | |
Beruhigung intoniert. Nicht nur wegen des bekannten Endes der Weimarer | |
Republik kann man zweifeln, ob der tiefenentspannte historische Rückblick | |
das aktuelle Drama der Demokratie vollständig erfasst. | |
Der Historiker Till van Rahden skizzierte in einem launigen Vortrag die | |
deutsche Demokratiekrise als Ausdruck einer bundesdeutschen | |
Konsensfixierung. Es mangele an Lust an hartem Streit, die es in den | |
angelsächsischen Ländern gebe. Die Demokratiekrise als gefühlte Gefahr nach | |
den stressarmen Merkel-Jahren? | |
## Keine einfachen Analogieschlüsse | |
Auch van Rahden, [3][Autor des lesenswerten Essays „Demokratie als | |
Lebenswelt“,] gab Entwarnung. Die digitale Beschleunigung schrumpfte bei | |
ihm zu einer Variante des Bekannten. Früher habe es eben drei tägliche | |
Ausgaben der großen Zeitungen gegeben. Demokratie sei halt „immer in der | |
Krise“. | |
Das wirkte dann doch etwas salopp. Es ist zwar eine Tugend von | |
HistorikerInnen, Analogieschlüsse mit Ausrufezeichen – 1933! – zu meiden, | |
die als Dramatisierungsmarker taugen, aber wenig von den heutigen | |
Gereiztheiten erklären. Verständlich ist auch, wenn sich | |
Vergangenheitsexperten bei Zukunftsprognosen generell für unzuständig | |
erklären. Aber die Demokratiekrise als Wiederkehr des Immergleichen zu | |
malen, ist etwas unscharf. | |
Die Frage, ob der aktuelle bundesdeutsche Rechtsextremismus in der | |
deutschen Geschichte wurzelt oder eine europäische Normalisierung ist, | |
tauchte erst gar nicht auf. Die Zeitgeschichte wirkte in Bielefeld etwas | |
überfragt. Kein Analogieschluss ist auch keine Lösung. | |
Erfreulicherweise war [4][auch der Soziologe Steffen Mau geladen], der die | |
neuen Widersprüche zwischen sozialen Medien und Demokratie ausmaß. In den | |
Blasen der sozialen Medien gebe es nur „abwertende oder solidarische | |
Kommunikation“. Die algorithmische Prämierung von Polarisierung habe | |
handfeste Folgen. Studien in den USA zeigen, dass Demokraten und | |
Republikaner, die viel im Netz unterwegs sind, die andere Seite besonders | |
inständig verachten. | |
## Affekte ausbeuten | |
Der Effekt: Die Mitte wird im Netz unsichtbar. Das abwägende | |
Sowohl-als-auch ist ja nicht nur Sehnsuchtsort der leidenschaftsskeptischen | |
bundesdeutschen Politik seit 1949, sondern auch nötig, um Kompromisse zu | |
ermöglichen. | |
Zudem geht der Aufstieg digitaler Kommunikation mitsamt der | |
empörungsbereiten, angedockten Ich-AGs einher mit dem Abstieg vermittelnder | |
Kollektivakteure wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften. Dass Medien Affekte | |
ausbeuten und katalysieren, mag nicht völlig neu sein, so Steffen Maus Wink | |
Richtung Zeitgeschichte, ist aber eben stärker als früher. | |
Von Niklas Luhmann stammt die Formel, dass komplexe, arbeitsteilige, | |
hochdifferenzierte Systeme Demokratien als Herrschaftsform brauchen, weil | |
die lernfähiger und flexibler als Diktaturen reagieren können. Auf diesen | |
robusten Modernitätsoptimismus fällt aber ein Schatten. | |
Demokratien brauchen eine funktionsfähige, räsonierende Öffentlichkeit – | |
als Kontrolle und Legitimationsraum. Ohne Rückkopplung von | |
Regierungshandeln mit der Bürgerschaft wird Demokratie zur Fassade. Was | |
aber, wenn alles so komplex ist, dass die aufgeklärte Bürgerschaft nicht | |
mehr durchblickt? | |
## Digitaler Dschungel | |
Ein Beispiel für diese Störung lieferte Thomas Wischmeyer, Jurist und | |
Experte für digitales Recht. Er ratterte alle jene Gesetze und Regeln | |
herunter, mit denen die EU den digitalen Dschungel seit fünf Jahren | |
einzuhegen versucht, von der Free-Flow-of-Data-Verordnung über den Data Act | |
bis zur neuen KI-Verordnung. Von allem dem hatten die Meisten eher vage | |
Vorstellungen. Man schwieg beeindruckt, weil ahnungslos. | |
Dass nur die Experten selbst die dickleibigen Regelwerke, mit denen | |
Plattformen demokratiekompatibel gemacht werden sollen, begreifen, | |
illustriert ein Kernproblem der neuen Demokratiekrise: die Expertokratie. | |
Wenn zentrale Fragen nur noch von Fachleuten verstanden und gelöst werden, | |
bleibt dem räsonierenden Publikum nur der Platz als staunender (oder | |
empörter) Zuschauer. | |
Die optimistische Gleichung, dass die liberale Demokratie die aufgeklärte | |
Öffentlichkeit braucht und umgekehrt, verdampft irgendwo im Nebel des | |
politischen Mehrebenensystems. | |
24 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hsozkult.de/event/id/event-142395 | |
[2] https://www.hamburger-edition.de/buecher-e-books/artikel-detail/beziehungsg… | |
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/till-van-rahden-demokratie-eine-gefaeh… | |
[4] https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/triggerpunkte-soziologe… | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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