# taz.de -- Armin Nassehi über Konservative: „Dieses Eifernde gehört nicht … | |
> Die Union hat die Wahlen in Bayern und Hessen gewonnen. Warum sie | |
> trotzdem in der Krise steckt, erklärt der Soziologe Armin Nassehi. | |
Bild: Der Soziologe Armin Nassehi nimmt die Konservativen in den Blick | |
wochentaz: Herr Nassehi, reden wir über die Krise der konservativen | |
Parteien. Die CSU in Bayern hat massiv Stimmen an die AfD abgegeben, die | |
CDU in Hessen setzte auf Abgrenzung zu dieser Partei und gewann stark | |
hinzu. Wie erklären Sie sich diese unterschiedlichen Ergebnisse? | |
Armin Nassehi: Es ist auffällig, dass es in der Bundesrepublik noch eine | |
Mitte-rechts-Partei gibt – in Italien erinnert sich fast niemand mehr an | |
die Democrazia Christiana, in Frankreich vielleicht noch an die | |
Konservativen Nicolas Sarkozys. Sie sind faktisch nicht mehr am Leben – in | |
Italien regiert eine erstaunlich gemäßigt agierende Postfaschistin wie | |
Giorgia Meloni, in Frankreich ist Marine Le Pen auf dem Weg, zur | |
Präsidentin gewählt werden zu können. Deutschland mit der Union ist die | |
Ausnahme – noch. | |
Die CSU eiferte rhetorisch den Rechtspopulisten nach, die CDU in Hessen | |
nicht. | |
Man kann, darauf hat der [1][Politikwissenschaftler Thomas Biebricher] | |
hingewiesen, ein Muster erkennen. Wo die Mitte-rechts-Parteien denken, die | |
eindeutig rechten Parteien rechts überholen zu sollen, verlieren sie. | |
Offenbar stellt die Union in Deutschland das nicht in Rechnung. Sie wird | |
getäuscht von den eigenen Wahlergebnissen und sieht nicht, dass die rechten | |
die unzufriedenen Nichtwähler abgreifen. | |
Friedrich Merz hat dies offenbar nicht auf dem Zettel – etwa mit | |
Bemerkungen zu „Kleinen Paschas“ nach der Silvesternacht in Berlin-Neukölln | |
oder aktuell mit der Äußerung zu [2][Zahnersatzleistungen für Flüchtlinge]. | |
Es ließen sich viele Dinge über die Person Friedrich Merz' erklären, der | |
scheint manchmal seine Impulskontrolle nicht im Griff zu haben. Dabei würde | |
eine konservative Perspektive auf die Aufregerthemen diese mit einem | |
Kontinuitätsversprechen versehen. Wo das fehlt, gibt es ein Problem. | |
Warum? | |
Weil eine Demokratie wie die unsere die Perspektive einer | |
Mitte-rechts-Partei braucht. Sie hatte einmal die Fähigkeit, die | |
Unzufriedenheit mit dem sozialen Wandel, die Furcht vor schneller | |
Veränderung, aber auch die Herausforderung von Pluralität nicht nur | |
abzumildern, sondern auch zu moderieren. Das darf man nicht unterschätzen. | |
Vielleicht haben dabei die Konservativen die viel dramatischeren | |
Lernprozesse gemacht. | |
Selbst klügere Linke wünschen sich die Union am Leben, eine, die stärker | |
als die AfD bleibt. | |
Lob von der falschen Seite ist immer auch vergiftet. Linke schätzten auch | |
Angela Merkel – mehr als diese manchmal von ihren Leuten geliebt oder | |
anerkannt wurde. Mein Blick auf die CDU rührt aus einer Erfahrung, die ich | |
ein Jahr lang als Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung gewinnen konnte. Es | |
erstaunte mich nicht, vielleicht viele andere, die nicht der Union | |
zuneigen, aber dort habe ich sehr viele interessante und kluge Leute | |
kennengelernt, die ernsthaft üner die Funktion und Bedeutung eines modernen | |
Konservatismus nachgedacht haben. Ich habe dort viel gelernt. | |
Was war es, beispielsweise? | |
Es hat mir geholfen, über das nachzudenken, was ich das konservative | |
Bezugsproblem nenne. Das Konservative kann sich heute nicht mehr | |
ungebrochen über Regionalität, Konfessionalität oder eine Sexualmoral | |
definieren. Das Problem liegt woanders. | |
Wo? | |
Dass Lebensformen ohne permanente Thematisierung, Begründung und Reflexion | |
funktionieren. Das praktische Problem besteht dann aber darin, dass man | |
darüber dann flankierend räsonnieren muss. | |
Ein Beispiel? | |
Am Beispiel von Homosexualität kann man es deutlich zeigen. Kultureller | |
Wandel ermöglicht pluralere Sexualitäten, Konservative können das | |
integrieren, brauchen aber keine permanente Begründung dafür, sondern | |
arrangieren sich damit und erkennen es dadurch an. Linke und Linksliberale | |
wählen eher die explizite und begründende Anerkennung. | |
Es gibt sehr viele schwule oder lesbische Parteimitglieder, auch viele mit | |
nichtweißer Hautfarbe. | |
Ja, und das dürfte auch mit dieser Praxis zu tun haben, all dies weniger | |
explizit zu thematisieren, zumindest mit einer zurückhaltenden Rhetorik. | |
Weshalb schafft es die Union nicht, zu einer Sprechfähigkeit zu den großen | |
Fragen zu kommen – etwa bei der sogenannten Identitätspolitik? | |
Der in Mainz lehrende Historiker Andreas Rödder ist wirklich konservativ, | |
wogegen nichts zu sagen ist. Er hatte, zumal in der Kommission für ein | |
Zukunftsprogramm der Union, ein paar gute Ideen – wie man seine Partei | |
intellektuell öffnen könnte. Ich würde diesen Programmentwürfen nicht in | |
allem zustimmen, aber es ist diskutabel. | |
Rödder aber verlegte sich darauf zu behaupten, dass postkoloniale Theorien, | |
sogenannte Wokeness überhaupt Staatsdoktrin geworden seien. | |
Und das ist blanker Unsinn – ich sehe darin auch ein Zeichen dafür, wie | |
schwer man sich auf konservativer Seite mit expliziten Programmen tut. | |
Vieles an jener sogenannten woken Bewegung und ihrer akademischen | |
Verbrämung ist mehr als gewöhnungsbedürftig, es aber gewissermaßen zum | |
Zentrum aller Probleme aufzublasen, ist ein naives Ausweichmanöver. | |
Verblüffend, dass die Union überhaupt Zukunftsprogramme braucht, oder? | |
Hier sind wir im Zentrum dessen, was das Konservative von anderen Formen | |
unterscheidet, von linken wie von rechten. Die Union brauchte früher nie | |
eine explizite Programmatik, sie war als Regierungspartei, als die sie sich | |
verstand, die pure Inklusion. Es ist ja gerade das Besondere des | |
Konservativen, auf Begründungsprobleme verzichten zu wollen, um mit | |
Kontinuitätsunterstellungen arbeiten zu können. Die Konservativen müssen | |
nach ihrem Selbstverständnis nichts gegen irgend jemanden durchsetzen, weil | |
sie quasi die Kontinuität der Welt verkörpern. | |
Bitte erläutern Sie! | |
Linke haben immer einen konkreten Gegner, nämlich die, die nichts | |
begründen. Deshalb müssen sie alles zu begründen versuchen. Die Linke denkt | |
ja immer von sich selbst, dass sie eigentlich opponieren muss, selbst in | |
der Regierung, obwohl vieles längst Allgemeingut ist. Konservative, besser: | |
Mitte-rechts-Parteien können deshalb leichter mit abweichenden Meinungen in | |
den eigenen Reihen umgehen, schon weil die Linie nicht so eng begründet ist | |
– anders als bei Linken, die immer alles begründen, weil sie etwas wollen, | |
was noch nicht da ist, und deshalb Abweichungen schwer ertragen. | |
Wohlgemerkt, wir reden hier verkürzend idealtypisch. | |
Und Söder und sein populistischer Wahlkampf? | |
Der geht in [3][die Bierzelte und opponiert gegen Themen], die es gar nicht | |
gibt. Er erfindet eine Oppositionshaltung, die keinen Anschluss an die | |
Wirklichkeit hat. Er sagte, wir sind gegen Fleischverbote und gegen das | |
Gendern. Kein Mensch hat Verbote gefordert und war für gendersprachliche | |
Pflichten. Es ist auch eine Denkfaulheit, eigene Konzepte positiv zu | |
bestimmen. | |
Seine Partei stagnierte, so sagt es das Wahlergebnis. Friedrich Merz | |
kaprizierte sich sogar auf die Grünen als Hauptgegner. | |
Eine große Ehre für die Grünen, einerseits. Andererseits ist es ein | |
Zeichen, wie bedrohlich der Veränderungsdruck gerade für eine konservative | |
Partei sein muss. Wenn die Diagnose stimmt, dass das konservative | |
Bezugsproblem vor expliziten Begründungen zurückweicht, dann ist | |
Transformationsdruck natürlich das Schlimmste. Es muss dann schlicht alles | |
auf den Prüfstand, die Fragilität der funktionierenden Praxis wird | |
sichtbar. Und die Grünen sind dafür das sichtbare Symbol. Und das hat gar | |
nichts mit grüner Politik zu tun oder ihrer Bewertung, aber „Grün“ markie… | |
diese Herausforderung. Der Union reichte jahrzehntelang, dass eine gut | |
funktionierende Gesellschaft eine ist, bei der die Leute einigermaßen gut | |
versorgt sind, man miteinander auskommt und sich nicht dauernd nervt. | |
Ein, so sagen manche, gesellschaftliches „Wir“? | |
Da bin ich skeptisch. Dieses „Wir“ ist immer zu streng formuliert, das ging | |
zu oft auf Kosten von Minderheiten. Wir brauchen eine Form von Indifferenz. | |
Sich gegenseitig in Ruhe lassen zu können, das wäre eine zivilisatorische | |
Errungenschaft, ob es ums Geschlecht, um Sexualität, um Ethnizität, um | |
Hautfarbe geht. Konservative klassischer Prägung wissen das gut. | |
Was wissen die heutigen Konservative nicht mehr? | |
Dass von Wärmepumpen die Welt nicht untergeht – ich war gerade in Kanada | |
und habe sie dort zuhauf gesehen. Und dass eine Mitte-rechts-Partei | |
moderieren muss, zuspitzen bestimmt auch, aber sich nicht den Sprechformen | |
etwa der AfD anschließt, niemals. | |
Also Ruhe und Ordnung bewahren? | |
Zur Bürgerlichkeit gehört jedenfalls nicht dieses Eifernde. Zu ihr gehört, | |
wie gesagt, das Privileg, in Ruhe gelassen zu werden. Vielleicht ist ein | |
Pluralismus, der nicht permanent kommunikativ eingeholt und begleitet | |
werden muss, viel attraktiver. | |
Das Bewahrende, also das zu Konservierende, gibt es das überhaupt noch in | |
Zeiten der Klimakrise? | |
Das ist das Dilemma: Zum einen ist der Veränderungsdruck hoch, zum anderen | |
erzeugt gerade das permanente Begründungsprobleme und macht die Fragilität | |
aller Verhältnisse sichtbar, und schließlich erzeugt gerade das ein | |
Bedürfnis nach Bewahrung, nach Lösung des konservativen Bezugsproblems, das | |
am besten auf Unsichtbarkeit und wenig Begründbarkeit setzt. Das macht es | |
schwierig. Aber in manchen Milieus, womöglich in eher konservativen, gibt | |
es in sich stabile Lebensformen, die damit vielleicht resilienter umgehen | |
können, wenn ein bewahrender, ein routinierter, ein gewohnter Alltag | |
bleibt. | |
Wobei es einen ökonomischen Rahmen braucht, um sich die Ruhe leisten zu | |
können. | |
Die ökonomischen Folgen für Privathaushalte verdienen ohnehin viel mehr | |
Beachtung. All das wären die Themen, an die Konservative ansetzen könnten, | |
statt sich in einen Kulturkampf zu begeben. Der soziale Rahmen muss | |
stimmen, gerade für Zukunftsperspektiven. | |
Und die Grünen? | |
Na ja, einerseits stehen die Grünen für die Drastik des Veränderungsdrucks, | |
andererseits gilt auch für einen großen Teil der eigenen Klientel, dass sie | |
konservativ funktioniert, man hat langfristige Kredite, Berufe, in denen | |
man Karriere machen will, sie haben Kinder. Das verschärft die Differenz | |
zwischen verbalen Bekenntnissen und alltagsrelevanter Umsetzbarkeit. | |
Auch ein, wie Sie es nennen, konservatives Bezugsproblem? | |
Das ist nur die soziologische Perspektive auf das, was die Union eigentlich | |
seit ihrer Gründung Ende der vierziger Jahre weiß: Menschen haben | |
Schwächen, sie sind nicht geradlinig, es folgt nicht alles dem Plan guter | |
Gründe. Das wissen inzwischen auch die Grünen. Von jetzt auf gleich alles | |
ändern wollen – das klappt nicht. Humorig und in eigener Sache gesagt: Ich | |
bin für mein Gewicht zu klein, und ich habe jedes Wissen, wie man dieses | |
Verhältnis ändert, was im Alltag wiederum nicht gelingt. | |
Reden wir über Gillamoos, über Kreuzberg: CDU-Parteichef Friedrich Merz | |
glaubt, nur der bayerische Rummel in Bierzelten sei Deutschland. Das hätte | |
Angela Merkel nie gesagt, auch Helmut Kohl nicht. | |
Ein souveräner Konservativer hätte gesagt: Gillamoos und Kreuzberg sind | |
sehr unterschiedlich, aber es stellen sich sehr ähnliche Fragen: wie in | |
eine volatile Welt Kontinuität eingebaut werden kann und wie man mit den | |
Problemmilieus, die in beiden Orten vorkommen, angemessen umgeht. So könnte | |
übrigens Unterschiedlichkeit auf eine gemeinsame Basis gestellt werden. | |
Aber Merz ging es um das Gegenteil. | |
Und weshalb macht der CDU-Chef das? | |
Weil er ganz offensichtlich kein Konzept für einen modernen Konservatismus | |
hat. Er wollte wohl die Furcht vor dem Unbekannten bedienen. Vielleicht | |
muss man wirklich ernster nehmen, dass die Herausforderung unserer Zeit die | |
Frage der Kontinuität ist, der Herstellung von kalkulierbaren Lebenswelten. | |
Das wäre die Hauptaufgabe von Konservativen, nicht Kulturkampfsimulation. | |
Der Soziologe Max Weber hat einmal von „dumpfer Gewohnheit“ gesprochen. Das | |
Alltagsleben ist von Kontinuität, von Wiederholung, von Trägheit, von | |
Routinen geprägt, und das erzeugt auch Zufriedenheit. Er lebt davon, dass | |
wir nicht alles permanent befragen, dass wir uns an unsere Stereotype | |
gewöhnen. In den räsonnierenden Klassen … | |
… wie der der Medien … | |
… wird sogar das Hinterfragen zu einer Routine, die oft genug folgenlos | |
bleibt. Sicherheit ist eine Funktion von Erwartbarkeit. | |
Diese Sicherheiten scheint die hessische CDU zu verkörpern. | |
Ohne sich rhetorisch an die AfD anzulehnen oder deren Sprechweisen zu | |
kopieren, so geht das Konservative. Der Zufluss zur AfD dort kam zu | |
gleichen Teilen aus der CDU wie aus SPD und Grünen – anders als in Bayern. | |
Konservativen würde ich immer gerne zurufen, dass das größte | |
Wählerpotenzial der AfD die Nichtwähler sind, fast 80.000 in Hessen, | |
130.000 in Bayern. Die wechseln gewissermaßen von der Indifferenz zu den | |
Rechtsradikalen, ein Zeichen für wachsende Unsicherheit. | |
16 Oct 2023 | |
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Jan Feddersen | |
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