# taz.de -- Krise des Konservatismus: Von Leuchtfeuern und Brandmauern | |
> Rechtsextreme Parteien bestimmen zunehmend die Agenda europäischer | |
> Demokratien. Welche Antwort finden konservative Parteien darauf? | |
Bild: Nicht Wurscht: Die Haltung konservativer Parteien gegenüber Rechtsextrem… | |
Vor knapp fünf Jahren veröffentlichte die Konrad-Adenauer-Stiftung eine | |
Studie zu Lage und Zukunftsaussichten der Christdemokratie in Europa. Die | |
Ergebnisse waren ernüchternd. Der Tenor der Untersuchung lautete, dass es | |
zwar einige Lichtblicke gebe, die Entwicklungstendenz insgesamt jedoch | |
einem langsamen, aber stetigen Sinkflug gleiche. | |
Würde man eine solche Studie heute durchführen und das Feld auch auf | |
nicht-christdemokratische Mitte-Rechts-Parteien ausweiten, dann käme man | |
zwar zu einem etwas anderen Ergebnis, das aber nicht minder bedenklich | |
stimmt – und zwar nicht nur aus christdemokratischer Sicht. Drei Muster | |
lassen sich identifizieren, und alle drei können als Krisensymptome des | |
gemäßigten Konservatismus gedeutet werden, der typischerweise in der | |
rechten Mitte des politischen Spektrums positioniert ist. | |
## Marginalisierung | |
Die erste Tendenz war auch schon in der Studie der Adenauer-Stiftung | |
identifiziert worden: Bereits 2019 lag die Zahl christdemokratischer | |
Parteien in Regierungsverantwortung im einstelligen Bereich und nur eine | |
Handvoll führte tatsächlich Regierungen an. Die große Mehrzahl war | |
zusammengeschrumpft und eine ganze Reihe darbte am politischen | |
Existenzminimum. | |
Das hervorstechendste Beispiel für diese Talfahrt Richtung | |
Bedeutungslosigkeit sind aktuell die französischen Republikaner, die seit | |
dem Machtverlust von 2012, als Nicolas Sarkozy sich François Hollande | |
geschlagen geben musste, einen dramatischen Niedergang erleben. Bei der | |
Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr erlitt die republikanische | |
Bewerberin Valérie Pécresse mit nicht einmal fünf Prozent der Stimmen eine | |
geradezu demütigende Niederlage. | |
In Italien gilt die Forza Italia neben einigen christdemokratischen | |
Kleinstparteien noch am ehesten als Vertreterin der rechten Mitte. Aber | |
seit Berlusconis Rücktritt im Zuge der Eurozonenkrise 2011 befindet auch | |
sie sich in einem Abwärtstrend und konnte gerade noch als | |
Junior-Juniorpartnerin in die aktuelle Regierung eintreten. Als | |
hochpersonalisierte Partei, die voll und ganz auf Berlusconi zugeschnitten | |
war, ist ihr Schicksal nach dessen Tod, vorsichtig formuliert, ungewiss. In | |
beiden Fällen ist die Vorherrschaft über das Spektrum rechts der Mitte | |
deutlich nach rechtsaußen gewandert. In Frankreich gibt der Rassemblement | |
National den Ton an, in Italien sind es Fratelli d’Italia und La Lega. | |
## Radikalisierung | |
Die zweite Tendenz besteht in der Radikalisierung ehemals mehr oder weniger | |
gemäßigt konservativer Parteien. Die Blaupause liefern hier Viktor Orbáns | |
Fidesz in Ungarn und die polnische PiS unter der Führung der éminence grise | |
Jaroslaw Kaczynski. Insbesondere Orbán galt einst als liberaler | |
Hoffnungsträger und verfolgt nun mit einer eindeutig autoritären Partei den | |
Umbau des politischen Systems in eine ‚illiberale Demokratie‘ – inklusive | |
Anti-EU-Propaganda à la ‚Gayropa‘ und dem Schüren anti-migrantischer | |
Ressentiments. | |
Aber auch westeuropäische Mitte-Rechts-Parteien haben eine Reihe von | |
Selbstradikalisierungsfällen aufzuweisen, deren prominentestes Beispiel | |
wohl die britischen Tories sind. Im Zuge der Brexit-Kämpfe gelang es ihnen, | |
die UKIP-Konkurrenz aus dem politischen Wettbewerb zu verdrängen, indem sie | |
selbst zu einer Art UKIP ohne Nigel Farage wurden. Da man selbst Boris | |
Johnson als Vorsitzenden hatte, machte das aber eigentlich kaum einen | |
Unterschied. Der kulturkämpferische Furor, der hier im Namen einer | |
‚englischen‘ Lebensweise gegen die EU, Einwanderung und alles, das auch nur | |
den Anschein von ‚Wokeness‘ erweckte, angefacht wurde, musste sich hinter | |
den Auslassungen eines Viktor Orbán kaum verstecken. Ganz zu schweigen von | |
der massiven Desinformation und Propaganda, die die Durchsetzung des | |
Brexits erforderte. | |
Im Gegensatz zur ersten Tendenz ist hier kein Schwundprozess zu | |
verzeichnen, sondern bisweilen sogar nachhaltiger politischer Erfolg – wenn | |
auch den Tories aller Wahrscheinlichkeit nach bei den nächsten | |
Unterhauswahlen eine krachende Niederlage droht. Der Preis dafür ist | |
allerdings die Aufgabe der rechten Mitte und die Transformation in stramme | |
Rechtsparteien. | |
## Anbiederung | |
Das dritte Muster ist gerade in den letzten Wochen und Monaten in den | |
öffentlichen Fokus gerückt. Hier werden systematisch die Brandmauern | |
zwischen rechter Mitte und rechtem Rand – soweit sie denn überhaupt jemals | |
errichtet wurden – abgetragen und an die Stelle eines „Cordon Sanitaire“ | |
tritt die unverhohlene Zusammenarbeit von gemäßigt konservativen und | |
rechtsradikalen Kräften, sei es in Form einer formellen Koalition oder | |
zumindest einer Tolerierung. | |
So geschehen in Schweden und Finnland, wo Schwedendemokraten und ‚Wahre | |
Finnen‘ nun die Regierungsgeschicke leiten. Zumindest für den Moment noch | |
abgewendet wurde ein solches Szenario in Spanien, wo sich der Partido | |
Popular offen für eine Zusammenarbeit mit der rechtsradikalen Vox-Partei | |
gezeigt hatte, um die Regierung zu übernehmen. Neu ist diese Tendenz aber | |
keineswegs: Österreich und die Niederlande haben eine lange Geschichte | |
solcher Kooperationen zwischen rechter Mitte und rechtem Rand. | |
Nun wäre es etwas vorschnell, aus den genannten Tendenzen die | |
Schlussfolgerung einer unaufhaltsamen Welle des ‚Rechtspopulismus‘ zu | |
ziehen, die gerade durch Europa schwappt. Nicht zuletzt deshalb, weil es | |
teils beträchtliche Phasenverschiebungen gibt: In Ländern wie Österreich | |
und Frankreich steht in den kommenden Jahren eine Regierungsübernahme der | |
Rechtsaußen-Parteien womöglich noch bevor. Aber in einem von | |
(Kultur-)Kämpfen – und dem Brexit – entkräfteten Großbritannien dürfte … | |
Höhepunkt des autoritären Populismus beispielsweise überschritten sein und | |
selbst in Polen scheint sich eine gewisse Desillusionierung über die | |
PiS-Herrschaft breitzumachen. | |
## Leuchtfeuer Union | |
Anlass zur Entwarnung gibt das Gesamtpanorama aber zweifellos nicht und | |
angesichts dieser eher düsteren Lage richtet sich der Blick unweigerlich | |
auf das letzte Leuchtfeuer der europäischen Christdemokratie – die Union. | |
Und zwar nicht nur, weil hier ebenfalls um die Strategie der Brandmauer | |
gerungen wird – dazu später – sondern weil auch der oberste europäische | |
Christdemokrat ein CSU-Parteibuch hat, in dem der Name Manfred Weber steht. | |
Als Chef der Europäischen Volkspartei gehört es zu Webers Aufgaben, die | |
Strategie für die Europawahlen im Juni 2024 zu schmieden, bei denen | |
angesichts der geschilderten Entwicklungen mit einem Rechtsruck zu rechnen | |
ist. Was übrigens schon allein deshalb fatal ist, weil auch die glühendsten | |
Befürworter einer Demokratisierung des EU-Systems es tunlichst vermeiden | |
werden, einem Parlament mehr Kompetenzen zu überantworten, [1][in dem die | |
EU-Gegner immer größeren Einfluss haben]. | |
Nun scheint aber auch der ehemals als liberal geltende Weber zunehmend | |
etwaige Skrupel über Bord zu werfen, um eine Koalition rechts der Mitte zu | |
schmieden. Die Avancen, die er Giorgia Meloni nach der Italien-Wahl machte, | |
lassen darauf schließen, dass Weber Brandmauern für eine veraltete | |
Technologie hält und stattdessen in der Umarmung der Rechten sein Glück und | |
EVP-Mehrheiten suchen wird – vielleicht sogar in der Hoffnung, selbst als | |
Spitzenkandidat anzutreten. | |
## Brücken und Brandmauern | |
Damit aber nun zur CDU, deren [2][Brandmauer-Problem] sich nicht zuletzt an | |
ihrem eigenen Vorsitzenden festmachen lässt. Nein, Friedrich Merz steht | |
nicht im Verdacht, mit der AfD zu sympathisieren. Aber die Formulierung von | |
der ‚Alternative für Deutschland mit Substanz‘ sollte vielleicht raffiniert | |
klingen, ging aber komplett nach hinten los. Ganz zu schweigen von den | |
Erwägungen darüber, dass Brandmauern eben nur auf Bundes- und Landesebene | |
stehen: Damit brachte Merz zunächst das liberale CDU-Lager gegen sich auf, | |
um nach seinem Zurückrudern auch bei denen als Umfaller dazustehen, die | |
sich tatsächlich mehr Flexibilität im Umgang mit der AfD wünschen würden | |
und von denen es ja gerade in den ostdeutschen Landesverbänden einige gibt, | |
wo im nächsten Jahr drei Landtagswahlen anstehen. | |
Die Zwischenbilanz des Vorsitzenden Merz fällt daher recht bescheiden aus. | |
Die mühsam zugeschütteten Gräben innerhalb der Partei sind wieder | |
aufgerissen, wenn nicht gar vertieft worden – wenn Generalsekretäre nicht | |
nur neu berufen werden, sondern dann auch noch direkt zur „Geschlossenheit“ | |
aufrufen müssen, spricht das für sich. | |
Und vor allem lässt die [3][dringend erforderliche inhaltliche Erneuerung | |
der Partei], die ja auch ein Schlüssel zu einer ernsthaften Abgrenzung zur | |
AfD wäre, nach wie vor auf sich warten. Bis jetzt hat es nur zu | |
kulturkämpferischen Posen gereicht, die die Unterschiede zum | |
Rechtsautoritarismus verwischen, wo man ebenfalls gegen das Gendern, | |
‚Cancel Culture‘ und Fleischverbot wettert. | |
Zudem ist es geradezu heuchlerisch, auf der einen Seite einem rabiaten | |
Individualliberalismus das Wort zu reden, der Entmündigung und Tugendterror | |
wittert, wo immer der einzelne nicht immer alles machen kann und darf, was | |
er will, und auf der anderen Seite mit der gleichen kulturkämpferischen | |
Emphase den Menschen zu verbieten, ja, zu verbieten, frei über ihre | |
sexuelle Identität, Cannabis-Konsum oder einen Schwangerschaftsabbruch zu | |
entscheiden. Ob das reicht, um das Leuchtfeuer am Brennen zu halten, | |
erscheint zusehends ungewiss. | |
14 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Rechte-Parteien-im-EU-Parlament/!5944174 | |
[2] /Umgang-mit-der-AfD/!5947613 | |
[3] /Fehlender-Konservatismus-in-der-CDU/!5946421 | |
## AUTOREN | |
Thomas Biebricher | |
## TAGS | |
Politische Theorie | |
Konservatismus | |
Konservative | |
Union | |
CDU | |
CDU/CSU | |
Christdemokraten | |
Tories | |
Forza Italia | |
GNS | |
Wahlen NIederlande | |
Polen | |
Giorgia Meloni | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Kolumne Fernsicht | |
Podcast „Bundestalk“ | |
England | |
Kolumne Die Nafrichten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wahl in den Niederlanden: Alarmsignal für die Europawahl | |
Rechte Politiker von Orban bis Seidel feiern den Wahlsieg der PVV. Der | |
Wahlerfolg des „niederländischen Trump“ kommt für die EU zur Unzeit. | |
Visa-Korruption in Polen: Heimliche Einwandererfreunde | |
Vornerum gegen Migration tönen, hintenrum Tausende reinlassen: Der korrupte | |
Handel mit Arbeitsvisa könnte die PiS den Wahlsieg kosten. | |
Putins europäische Freundinnen: Zwischen Moskau und Italiens Senat | |
Irina Osipova ist in Russland gut vernetzt und Italiens neue | |
Parlamentsassistentin. Ihre Verbindungen zu Faschisten und Söldnern | |
scheinen nicht zu stören. | |
Rassistische Äußerungen in Finnland: Skandalregierung auf der Kippe | |
Die Regierungskoalition muss sich nach rassistischen Äußerungen einem | |
Misstrauensvotum stellen. Die Wahren Finnen drohen ihren | |
Koalitionspartnern. | |
Migrationspolitik in Polen: Gibt es Lösungen? | |
Migration ist ein globales Phänomen, mit dem nicht nur Polens | |
Regierungsparteil Stimmung macht. Dabei hat das Land einen bizarren | |
historischen „Bonus“. | |
Podcast „Bundestalk“: Wie rechts soll die CDU sein? | |
Friedrich Merz, Chef der Christdemokraten, blinkt Richtung AfD und erntet | |
Kritik. Auch aus den eigenen Reihen. Doch welcher Kurs ist der richtige? | |
Kommunalwahlen in England und Wales: Konservative nur noch am Verlieren | |
Die Torys erleiden massive Verluste bei den Wahlen auf der Insel. Premier | |
Sunak rückt zunehmend in den Fokus parteiinterner Kritik. | |
Streitkultur in Deutschland: Charmante Konservative gesucht | |
Unser Autor wünscht sich kluge, wortgewandte Konservative für den | |
gepflegten Streit. Doch bisher sucht er vergeblich. |