| # taz.de -- Rechte Parteien im EU-Parlament: Internationale der Nationalisten | |
| > 2024 wird in der EU gewählt. Zwei ultrarechte Fraktionen hoffen auf | |
| > Zuwachs, ihre Strategen träumen vom „großen Zelt“, das sie vereint. | |
| Bild: Nicola Procaccini (EKR), Ryszard Legutko (EKR), Marco Zanni (ID) im Europ… | |
| Die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) finden in weniger als einem | |
| Jahr, im Mai 2024 statt. Hat das jemand bemerkt, bevor die AfD ihren | |
| ultrarechten Spitzenkandidaten aufgestellt hat? „Europawahlen“ gelten dem | |
| europäischen Demos wie den national aufgestellten politischen Eliten – und | |
| selbst den meist auf ihr Heimatland fixierten EP-Fraktionen – offenbar als | |
| „Nebenwahlen“. Sie alle betrachten die Wahlen zum Europäischen Parlament | |
| als Probeläufe für nationale Wahlschlachten. Unzufriedene Wählerinnen und | |
| Wähler sehen sie oft als Gelegenheit für den „Denkzettel“ oder die Wahl | |
| aussichtsloser Orchideenparteien. | |
| Dabei geht es 2024 um alles oder nichts: Europaweit sind Rechtsradikale auf | |
| dem Vormarsch. Sie schmieden Regierungskoalitionen mit Konservativen. Auch | |
| in Brüssel soll ein „großes Zelt“ die gesamte Rechte beheimaten. | |
| ## Sie wollen die „Ursula-Koalition“ stürzen | |
| In Sachen „Brüssel“ haben wir alle ein wenig Klippschule nötig. Kurz die | |
| Zahlen und Fakten: Das alle fünf Jahre gewählte Parlament ist die | |
| wichtigste europäische Institution; es beschließt Verordnungen und | |
| Richtlinien, entscheidet mit über den Haushalt und debattiert die wichtigen | |
| Themen. Mächtiger sind die Kommission als Exekutivorgan und der Rat als | |
| zweite legislative Kammer sowie der Gerichtshof in Luxemburg, doch das | |
| Parlament hat seit seiner Einrichtung im Jahr 1952 sukzessiv wichtige | |
| Rechte und Aufgaben an sich gezogen. Dazu gehört, mit Rücksicht auf das | |
| Wahlergebnis, die Besetzung der EU-Kommission. | |
| Im EP sitzen 750 Abgeordnete aus 27 Mitgliedsländern. Auf eine | |
| europafreundliche 70-Prozent-Mehrheit von bislang 177 Christdemokraten | |
| (EVP), 143 Sozialdemokraten (S&D), 101 Liberalen und 72 Grünen kann sich | |
| die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stützen. Diese | |
| „Ursula-Koalition“ zu stürzen, schicken sich nun europäische „Patrioten… | |
| an. Das sind derzeit 66 Abgeordnete der Fraktion Europäische Konservative | |
| und Reformer (EKR) unter Führung der polnischen PiS, der Fratelli d’Italia | |
| und der spanischen Vox-Partei sowie 62 Deputierte der Fraktion Identität | |
| und Demokratie (ID) unter Führung der italienischen Lega und des | |
| französischen Rassemblement National – plus FPÖ, Schwedendemokraten, AfD | |
| und Vlaams Belang. | |
| ## Sie halten sich für Europas Zukunft | |
| Wer in dieser Aufzählung die ungarische Fidesz vermisst: Sie ist von der | |
| Europäischen Volkspartei suspendiert und derzeit fraktionslos. Ihr | |
| Vorsitzender Viktor Orbán hat schon 2017 in einer Rede den Ton angegeben: | |
| „Vor 20 Jahren dachten wir, Europa ist unsere Zukunft. Heute wissen wir, | |
| dass wir Europas Zukunft sind.“ Gemeint ist das Projekt eines dezidiert | |
| christlich-abendländischen, homophoben und migrantenfeindlichen „Europas | |
| der Vaterländer“, das sich geostrategisch von Amerika absetzt und, | |
| jedenfalls was Orbán angeht, Russland wieder annähert. Und vor allem Putins | |
| Plan befördert, die EU zu schwächen und zu spalten. Nennen wir es: die | |
| Orbánisierung Europas. | |
| Dafür stellen führende Vertreter der Ultrarechten das „große Zelt“ über… | |
| und ID auf, wie sie es nennen, und zwar unter Einschluss der EVP. Während | |
| der ungarische Premier im Hintergrund bleibt und mit irredentistischen | |
| Ansprachen an magyarische Blutsverwandte im einstigen „Großungarn“ und als | |
| Putin-Handlanger irrlichtert, agiert seine Freundin – und EKR-Vorsitzende – | |
| Giorgia Meloni diplomatischer. Sie deckt den restriktiven Kurs Polens und | |
| Ungarns in der Migrations- und Flüchtlingspolitik, auch deren | |
| Rechtsstaatsverletzungen, und betreibt daheim eine reaktionäre Kultur- und | |
| Sozialpolitik. Allerdings steht Meloni an der Seite der Ukraine und | |
| schockierte rechte Ultras jüngst mit ihrer Einlassung, Italien müsse | |
| Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte anwerben, um Beschäftigung und | |
| Wohlstand zu sichern. | |
| ## Manfred Weber umwarb die Ultrarechten | |
| Das italienische Modell ist eine Dreierkoalition aus | |
| geläutert-pragmatischen Postfaschisten, als Forza Italia auferstandenen | |
| Christdemokraten und Lega-Populisten. Die Europäisierung dieser Allianz | |
| ventiliert Meloni geschickt mit dem EVP-Vorsitzenden, dem deutschen | |
| Christsozialen Manfred Weber. Nach seiner Niederlage gegen Ursula von der | |
| Leyen im Jahr 2019 ist er nach rechts gerückt und bastelt nun an einem | |
| breiten konservativen Bündnis. | |
| Probelauf war im Juli dieses Jahres die knapp gescheiterte Ablehnung des | |
| Renaturierungsgesetzes, für die Weber offen EKR und ID umworben hatte. | |
| Gegen die ambitionierte Klima- und Energiepolitik der EU-Kommission und | |
| mehr noch beim Bau einer „Festung Europa“ kann sich das große Zelt | |
| entfalten, wofür Opportunisten wie Matteo Salvini (ID) und Orbán sicher zu | |
| haben sein werden. | |
| ## Was sie trennt, was sie eint | |
| Eine „Internationale der Nationalisten“ wird aber nicht reibungslos zu | |
| bilden sein. Während sich Marine Le Pen, die Grande Dame der europäischen | |
| Rechten, und Giorgia Meloni, ihre CEO, nicht mehr auf den Ausstieg aus der | |
| EU festlegen und den Euro akzeptieren, spuckt Björn Höcke als faktischer | |
| Führer der AfD große Töne: Die EU müsse sterben, damit Europa leben könne. | |
| Polens PiS wiederum ist vor den im Oktober stattfindenden nationalen Wahlen | |
| in Bedrängnis geraten durch rabiate Faschisten der Konfederacja. Auch Le | |
| Pens „entdiabolisierte“ Partei, die von Frexit und Franc nicht mehr reden | |
| will, steht unter Druck des antisemitischen Integristen Eric Zemmour. Zu | |
| ihm hat sich [1][der bizarre AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah] bekannt. | |
| Die Verfechter eines identitären Europas lehnen Kompromisse ab und fordern | |
| neben D-Exit und D-Mark vor allem „Eurowhiteness“. Das ist eine Neuauflage | |
| der „Nation Europa“, die weltanschaulich an das von Hitler und Mussolini | |
| zwangsbesetzte Europa der 1940er Jahre anschließt und nach „konservativen | |
| Revolutionären“ Ausschau hält, deren Agenda das Ende der „linken Hegemoni… | |
| in Europa ist. Vor allem in sozialen Medien verbreiten sie [2][das | |
| Verschwörungsnarrativ, Linke, Grüne und Liberale planten den „Großen | |
| Bevölkerungsaustausch“ durch muslimische und afrikanische Einwanderer] und | |
| die Enthauptung der Traditionsfamilie. Die „Migrationskrise“, die | |
| heutzutage bei jeder Schwimmbadschlägerei aufgerufen werden kann, schmiedet | |
| Konservative und Rechtsradikale zusammen. | |
| ## Die Grünen müssen einen Themenwechsel einleiten | |
| Man setzt also besser nicht auf lückenlose Brandmauern der Konservativen | |
| und stümperhafte Eigentore der Rechten, sondern auf entschiedene Gegenwehr. | |
| Denn der Sieg der europäischen Rechten im Mai 2024, medial schon wie eine | |
| sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgemalt, lässt sich vermeiden. Vor | |
| allem die Grünen, von Union und AfD gleichermaßen als Hauptgegner | |
| anvisiert, müssen einen Themenwechsel einleiten. | |
| Zum einen können sie das Potenzial der von rechts als Freiheitsberaubung | |
| diffamierten Energiewende für einen nachhaltigen und global gerechten | |
| Wohlstand in Europa und der Welt herausstellen. Zum anderen können sie | |
| konkrete Lösungen für eine gerechte Migrations- und Flüchtlingspolitik | |
| anbieten, die nicht zuletzt eine Kooperation mit afrikanischen | |
| Herkunftsländern beinhaltet. | |
| Sie müssen Christdemokraten und Konservative stellen, die nach rechts | |
| schielen, genau wie Linksnationalisten, die die EU auf Kapitalismus | |
| reduzieren und die Attacke von Autoritären und Autokraten auf die | |
| freiheitliche Demokratie unterschätzen. | |
| ## Jetzt kommt es auf die Jungen an | |
| Alexander Gauland hat kürzlich bekannt, dass die westlichen Bündnissysteme | |
| deutschen Interessen nicht dienlich sind. Eine rechte Mehrheit in den | |
| EU-Institutionen plus eine republikanische Regierung in Washington würde | |
| die gesamte geopolitische Tektonik verschieben. | |
| Doch Brüssel ist noch lange nicht verloren. Die letzte Umfrage des | |
| Meinungsforschungsinstituts INSA spiegelt das nationale Bild: die Union | |
| knapp vor der der AfD, stabile SPD und geschwächte Grüne, Absturz der | |
| Liberalen und Linken. Bei der Sitzverteilung zeichnet sich ein Patt der | |
| beiden Lager ab. Zwar haben die Antieuropäer ein beachtliches Reservoir | |
| unter Nichtwählern, aber auch die Europäer haben ihr Wählerpotenzial bei | |
| Weitem nicht ausgeschöpft. In Deutschland stieg die Wahlbeteiligung 2019 | |
| zwar zum dritten Mal in Folge auf 61,4 Prozent, aber die fiktive | |
| Nichtwählerpartei blieb die stärkste Fraktion (mit einer rechnerischen | |
| Stärke von circa 37 Sitzen). | |
| Jetzt kommt es vor allem auf die Politisierung der 18- bis 30-Jährigen an: | |
| Lassen sie sich von der Xenophobie anstecken, bleiben sie am Wahltag zu | |
| Hause, weil sie der Berufspolitik generell misstrauen, oder werden sie für | |
| ein freies und demokratisches Europa kämpfen? | |
| 5 Aug 2023 | |
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