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# taz.de -- Arbeit, Selbstachtung und Demokratie: Der arbeitende Souverän
> Um sich an der Demokratie zu beteiligen, braucht es Selbstachtung. Doch
> wenn die eigene Arbeit wenig zählt, wird es schwierig. Das ist ein
> Problem.
Bild: Ständig gehetzt und auf sich allein gestellt, hat man keine Zeit für de…
Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, immer
wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals
beschworenen Souveräns arbeitende Subjekte sind. So gerne man sich
vorstellt, die Bürgerinnen und Bürger wären vor allem damit beschäftigt,
sich engagiert an politischen Auseinandersetzungen zu beteiligen, so falsch
ist dies.
Nahezu alle, von denen da die Rede ist, gehen tagtäglich und viele Stunden
lang einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit nach, die es ihnen aufgrund
von Anstrengung und Dauer nahezu unmöglich macht, die Rolle einer
Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung auszufüllen.
Der Soziologe Emile Durkheim war der erste, der dargelegt hat, dass eine
demokratische Willensbildung gute und gerechte Bedingungen der
gesellschaftlichen Arbeit voraussetzt. Er war der Überzeugung,
Arbeitsbedingungen sollten um der demokratischen Öffentlichkeit willen
möglichst fair, inklusiv und transparent sein.
Daher betonte Durkheim, dass eine breite Beteiligung am politischen
Meinungsaustausch eine Demokratisierung der beruflichen Sphäre voraussetzt.
Berufsgruppen sollen Praktiken der Selbstverwaltung am Arbeitsplatz einüben
und so den Abstand zwischen privatem und staatsbürgerlichem Leben
verringern.
## Demokratische Willensbildung
Im Anschluss daran will ich zeigen, dass das Profil der Arbeitstätigkeit
die Bereitschaft und Fähigkeit zur Teilnahme an Praktiken demokratischer
Willensbildung stark beeinflusst. In ökonomischer, zeitlicher,
psychologischer und sozialer Hinsicht entscheidet die Position in der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung maßgeblich darüber, wie hoch die Chancen
zur Teilnahme an der öffentlichen Willensbildung sind.
Jede dieser vier Dimensionen verweist auf Qualifikationen und Ressourcen,
über die in einem bestimmten Mindestmaß überhaupt zu verfügen für den Zweck
der politischen Beteiligung entscheidend ist. Die jeweiligen Mindestmaße
sind Schwellenwerte, unterhalb derer es nahezu ausgeschlossen ist, autonom
an der demokratischen Willensbildung teilzunehmen.
Die Mitwirkung an den politischen Debatten in der demokratischen
Öffentlichkeit setzt zunächst wirtschaftliche Unabhängigkeit voraus. Wer
seinen Lebensunterhalt Entscheidungen Anderer verdankt, wird sich damit
beschäftigen, wie er oder sie sich zu verhalten hat, damit der Strom der
finanziellen Zuwendungen nicht abreißt. Diese Sorge kann im Denken und
Handeln einen so großen Umfang annehmen, dass für die Beschäftigung mit den
politischen Fragen der öffentlichen Diskussion kein Raum mehr bleibt.
## Garantierte Beschäftigung
Solange die Existenzsicherung an die Bedingung der Erwerbsarbeit gebunden
ist, ist die Verfügung über einen Arbeitsplatz, der sicher den eigenen
Lebensunterhalt gewährleistet, eine Voraussetzung für die Teilnahme an der
demokratischen Willensbildung. Garantierte Beschäftigung, ein Mindestlohn
für die geleistete Arbeit und eine entsprechende Ausgleichszahlung bei
unvermeidlicher Arbeitslosigkeit müssten dafür Hand in Hand gehen.
Um aber tatsächlich wirtschaftlich unabhängig zu sein, bedarf es auch der
Mitbestimmung über die Bedingungen der Arbeit. Bleibt dies aus, mangelt es
den Beschäftigten an Vertrauen darauf, ihr Wille besitze irgendeine
Wirksamkeit in Hinblick auf Entscheidungen über die Gestaltung der sozialen
Umstände.
Wer nicht bereits in Unternehmen oder Behörden gelernt hat, dass seine
Stimme bei Beschlüssen Gewicht hat, wird auch im Zusammenhang
demokratischer Deliberationen nicht die Hoffnung hegen, die eigene Stimme
würde gehört und bei der Urteilsfindung berücksichtigt. Ohne
Mitspracherecht am Arbeitsplatz haben die Beschäftigten kein Vertrauen in
die Geltungskraft ihrer politischen Überzeugungen.
## Zeit neben Arbeit und Privatleben
Jede Aktivität in der demokratischen Öffentlichkeit setzt zweitens immer
Zeit voraus. Informationsbeschaffung, um sich eine Meinung zu bilden, die
Verarbeitung von Informationen im Austausch mit Anderen und Stellungnahmen
in der Öffentlichkeit brauchen Zeit. Welche Zeit jemand zur Verfügung hat,
bemisst sich daran, welcher zeitliche Spielraum ihm neben der Arbeit und
dem Privatleben bleibt.
Je länger die Dauer der täglich zu erbringenden Arbeitstätigkeiten, desto
geringer die Zeit für ein Engagement in der demokratischen Öffentlichkeit.
Nun ist jedoch die Zeit, die an einem Tag für die Arbeit aufgewandt werden
muss, keine einfach messbare Größe. Dieselben acht Stunden Arbeit können am
Ende für den einen viel länger dauern als für den anderen. Eine Formel für
diese Dehnbarkeit der Arbeitszeit könnte lauten: Wer vier Stunden braucht,
um sich von acht Stunden Arbeit soweit zu entspannen, dass dieselbe
Tätigkeit wieder aufgenommen werden kann, arbeitet „länger“ als jemand, d…
nach derselben Arbeitszeit nur zwei Stunden für die Wiedergewinnung seiner
Arbeitskraft benötigt.
Diese Überlegung enthält allerdings keine Formel, die quantifizierbar wäre.
Sie soll nur deutlich machen, dass bestimmte Arbeiten bei derselben Dauer
zeitraubender sind als andere. Eng getaktete, mental ermüdende,
abwechslungsarme und jeglicher Eigenkontrolle entzogene Arbeit kostet mehr
Kraft, verbraucht insofern mehr Zeit und lässt weniger Raum für Aktivitäten
in der demokratischen Öffentlichkeit. Mitunter bleibt so für politisches
Engagement kaum mehr Zeit übrig.
## Selbstachtung und Selbstwertgefühl
Drittens verlangt die Teilnahme an der demokratischen Öffentlichkeit auch
ein gewisses Maß an Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Ohne Vertrauen
darauf, dass die eigenen Stellungnahmen es wert sind, öffentlich gehört zu
werden, mangelt es den Bürgerinnen und Bürgern am Mut, sich an
demokratischen Auseinandersetzungen mit eigenen Beiträgen zu beteiligen.
Will man zu einem umstrittenen Thema in aller Öffentlichkeit Position
beziehen, muss man annehmen können, dass die eigenen Äußerungen von den
anderen Teilnehmern für sinnvoll und zweckdienlich gehalten werden.
Das Gefühl, als eine verlässliche Diskussionspartnerin zu gelten, entsteht
aber nicht erst in den Foren der demokratischen Öffentlichkeit. Es bildet
sich in einer langen Vorgeschichte. Wer in seiner Arbeit keine soziale
Anerkennung genießt, wer hier nicht als jemand gilt, der allgemein
geschätzte Fähigkeiten beherrscht und einen wertvollen Beitrag erbringt,
der wird auch nicht über das nötige Selbstwertgefühl verfügen, um in
politischen Auseinandersetzungen seine Meinung ohne innere Bedrängnis
kundzutun.
Der Grundstein einer solchen Anerkennung wird durch das Bewertungssystem
der sozialen Arbeitsteilung gelegt. Dieses bestimmt, welcher Wert für das
soziale Ganze den einzelnen Tätigkeiten jeweils zuerkannt wird.
## Hausarbeit und Kinderbetreuung
Im gesellschaftlich Imaginären wiegen Hausarbeit und Kinderbetreuung
weniger als die Arbeit in privaten Betrieben oder öffentlichen Behörden.
Und die Leistungen dort werden nach Kriterien wie dem Maß des geistigen
Aufwands und der Höhe des ökonomischen Ertrags noch einmal gestaffelt.
Zählt in dieser Rangordnung die eigene Arbeit wenig bis gar nichts, gewinnt
der Einzelne nur mühsam ein grundlegendes Selbstwertgefühl.
Viertens verlangt die Mitwirkung an der öffentlichen Willensbildung eine
Einübung in demokratische Praktiken. Damit ist mehr und anderes gemeint als
das Mitspracherecht am Arbeitsplatz. Vielmehr ist von einer Moral der
Kooperation die Rede, die Gewohnheiten der wechselseitigen Rücksichtnahme
und gemeinsamer Verpflichtungen heranreifen lässt, wie sie für die
Teilnahme an der demokratischen Willensbildung unerlässlich sind.
Solche Umgangsformen werden im besten Fall in Familie und Schule, im
Sportverein, in kirchlichen Verbänden oder in einer Gruppe politisch
Gleichgesinnter gewonnen. Aber das auf diesen Wegen Erlernte ist einer
harten Bewährungsprobe ausgesetzt, sobald der Eintritt ins Arbeitsleben
erfolgt. Hier herrschen häufig ganz andere Regeln, die Konkurrenz,
isoliertes Handeln und Rücksichtslosigkeit verlangen.
Um der Gefahr eines Wildwuchses derartiger Mentalitäten vorzubeugen, wurden
für die höherqualifizierten Tätigkeiten Standesorganisationen geschaffen.
Sie verpflichten ihre Mitglieder auf einen Berufskodex und auf die
Vermeidung von unbotmäßiger Konkurrenz.
## Systemrelevanz
Für je weniger „systemrelevant“ ein Berufszweig im gesellschaftlich
Imaginären aber gilt, desto geringer ist das öffentliche Bestreben, die
darin Beschäftigten in solchen Gruppen zu organisieren und sie so zu einem
kooperativeren Verhalten zu bewegen. Ist man auf der untersten Stufe des
Beschäftigungssystems angelangt, beim sogenannten
Dienstleistungsproletariat, so findet man keinerlei behördliches Bemühen
mehr, durch verbandsähnliche Strukturen soziale Verbindungen zu schaffen.
Je geringer die gemeinschaftliche Bindung in der und an die Arbeit ist,
desto größer ist die soziale Isolation und damit auch der Mangel an
Vertrautheit mit Verfahren der gemeinsamen Willensbildung. Unter
Akkordzwang und ständiger Überwachung in einem digital gesteuerten
Unternehmen vollkommen auf sich allein gestellt kann man kaum sehen, dass
es sich lohnt, sich mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern über die eigenen
Belange öffentlich zu streiten und zu einigen.
Was gegenwärtig gerne „Politikverdrossenheit“ genannt wird und nichts
anders ist als ein Desinteresse an demokratischen Verfahren und Praktiken,
dürfte auch der Niederschlag einer von Prekarisierung und Vereinzelung
gezeichneten Arbeitswelt sein.
## Demokratische Partizipation
Bei allen Fragen im Detail, die Summe der vier aufgeführten Faktoren belegt
den engen Zusammenhang zwischen der Organisation der gesellschaftlichen
Arbeit und den Bedingungen der demokratischen Partizipation: Das Vermögen,
sich an der öffentlichen Willensbildung zu beteiligen, hängt im hohen Maß
davon ab, ob und wie die Einzelnen in den arbeitsteiligen Prozess der
sozialen Reproduktion einbezogen sind.
Insofern begeht jede Demokratietheorie einen großen Fehler, wenn sie die
Arbeitsverhältnisse einer Gesellschaft nicht als ihr ureigenes Terrain
betrachtet. Die Sorge um gute, auskömmliche und gerechte Arbeitsbedingungen
müsste Bestandteil jeder Bemühung um eine lebendige Demokratie sein.
12 Jun 2021
## AUTOREN
Axel Honneth
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