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# taz.de -- Selbstoptimierung als Kulturphänomen: Im Gewitter der Singularitä…
> Heutzutage braucht alles Bestätigung. Zwei Bücher untersuchen, was hinter
> den Phänomen der Selbstoptimierung steckt.
Bild: Radeln zur Perfektion
Die großen Krisen der Gegenwart betreffen uns als Gesellschaft,
unterbrechen aber kaum die Gedankenschwere und den Eifer, mit der wir um
uns als Einzelne kreisen. Krisen markieren die dynamische Verfassung des
Kapitalismus, und wenn in der Krise des Allgemeinen, [1][die Andreas
Reckwitz] der Spätmoderne attestiert, viele nicht einmal den Schritt zu
elementaren Sozialtechniken – gerade etwa dem Impfen – schaffen, kann man
das auch als oberflächliches Zeichen lesen.
Darunter liegt die Beharrlichkeit, mit der wir gelernt haben, uns auf uns
selbst beziehen. Wenn wir nicht nur auf die Bräsigkeit der
Antivax-Partisanen der Scholle schauen, sehen wir, dass gerade die, die
sich ständig selbst verbessern wollen, ein zentrales Thema in den Händen
halten: Selbstbezug und Optimierung sind Mechanismen, um mit der
vorwärtsdrängenden Welt mitzuhalten.
Dafür heben wir Gewichte, laufen, feilen an unserem Eigensinn, nehmen
Steroide, bimmeln zu Pause und Einkehr mit der Klangschale, damit die
Gegenwart wirklich kickt. Freilich, vor lauter Achtsamkeit sehen wir kaum
die Krise gesellschaftlicher Anerkennung. An die Stelle von
gesellschaftlichem Fortschritt ist die Vorstellung von privatem Glück,
Harmonie und Fortschritt getreten.
Wenn etwas stört, helfen Lebenstrainer und Body-Mind-Therapeuten, miese
Laune grenzt fast an Depression. Ganze Ratgeber-Bibliotheken kennen Wege,
„die beste Version deines Selbst“ zu werden, Millionen Menschen messen
anhand von Uhren und Telefonen, wie viele Schritte sie heute taten, wie es
um Schlafrhythmus und Blutsauerstoffgehalt bestellt steht.
## Alles braucht Bestätigung
Alles bis hin zum banalsten Sport braucht Gefühl und Überbau – Anmutungen
vom heroischen Kampf gegen uns selbst, Überwindungslosungen, Bestätigung:
Ein Twitter-Account sammelt, was vom Bullshitbingo eines
Sportgeräteverkäufers herunterfällt – Peloton liefert ein Symbol zur
Pandemie gerne komplett mit Activewear bis an die Türschwelle, ein Fahrrad,
Einstiegspreis von 1.495 Euro, mit dem wir zwar nirgends hinfahren können,
aber auf dem wir in unseren Wohnungen weltweit vernetzten Anfeuerungsrufen
hinterherasten.
Die Peloton-Community schickt sämiges Zeug aufs Telefon: „You are allowed
to be a masterpiece and a work in progress at the same time.“
Selbstoptimierungen sind ein Strauß von Kulturphänomenen,
Steuerungsmechaniken, Formen der Vermarktlichung,
Konditionierungsinstrumente. Sie haben eine paradoxe Wirkung: Selbst,
Psyche und Körper werden mit dem immer neuen Geist des Kapitalismus im
Kreislauf zu Märkten gleichzeitig kollektiv konditioniert, aber auch
vereinzelt; diszipliniert, fit und aufmerksam gemacht, ästhetischen Regimen
unterworfen und gleichzeitig auch zu Alleinstellungsmerkmalen ermuntert.
Wir sind uns längst Subjekt und Objekt zugleich, notiert Anja Röcke in
ihrer grundlegenden „Soziologie der Selbstoptimierung“. Wir lesen von einer
Technik der Moderne, Röcke untersucht institutionelle Ordnungen, an die
sich Überlegungen und Praktiken knüpfen, durchmisst theoretische Ansätze
von Wilhelm von Humboldt, Trotzki oder Weber, bevor sie über Foucault zum
analytischen Kern vordringt.
## Prinzipien der Perfektibilität, Überbietung und Optimierung
„In zeitlicher Hinsicht beinhaltet Selbstoptimierung einen Prozess der
Verstetigung und damit der Entgrenzung; in sachlicher Hinsicht basiert
Selbstoptimierung auf den Prinzipien der Perfektibilität, Überbietung und
Optimierung; in sozialer Hinsicht ist Selbstoptimierung individualistisch
ausgerichtet, fußt also auf einem Selbstbezug, der eigenen Interessen
folgt.“ Ihr Blick auf die Spätmoderne ist relativ knapp.
Dazu zeichnet der Sammelband „Lost in Perfection“ ein buntes Bild einzelner
Aspekte von Lebensführung und Subjektivierungsformen. Hier ahnen wir, warum
all die Techniken ein Gespinst von genügend unklaren, aber
bedeutungsklebrigen Begriffen wie Authentizität benötigen: Sie stehen fest
auf der westlichen Vorstellung von „Handlungsautonomie und individueller
Initiative“, schreibt der Soziologe Alain Ehrenberg.
Dafür sind Entwicklungen seit den 1970er Jahren verantwortlich – seit die
auf Disziplin und Norm aufbauende Nachkriegsgesellschaft ihre
Integrationskraft verlor. Seitdem rückt unsere Verantwortung für eigenes
Tun in den Mittelpunkt, der Liberalismus wandelte seine Gestalt, gemeinsam
haben wir Renditeprinzipien der Finanzialisierung übernommen und unsere
Einstellung zu der vielen Zeit, die wir so haben, geändert: Nun sind wir
angehalten, das Beste aus uns herausholen, das Glücklichste aller Leben zu
führen.
Das nicht zu tun, wäre ein Manko. Der Druck, dem Idealbild des
„unternehmerischen Selbst“ zu entsprechen, bedeutet auch, unsere
Zeitvorstellungen zu merkantilisieren, ständig Entscheidungen zu treffen
und Renditen abzuwägen – und das Ideal stets übertreffen zu müssen. Wir
entwickeln uns „zum Kapitalisten unseres Selbst“, unterziehen Körper und
Lebensführung unerbittlicher Valorisierung, treten als Intrapreneure auf,
wie Ulrich Bröckling das nennt.
Nicht funktioniert im Gewitter der Singularitäten dies: Zurücklehnen, Muße,
Fett ansetzen, darüber nachdenken, wie wir etwa der Klimakatastrophe
beikommen könnten. Grade veröffentlicht die Umwelthilfe Zahlen, wir haben
einen Rekord gebrochen: Deutschland, 19 Millionen Tonnen Verpackungsmüll,
Spitzenreiter in Europa. In einigem davon waren die neuen Stehfahrräder
eingepackt.
23 Feb 2022
## LINKS
[1] /Soziologe-ueber-Corona-Massnahmen/!5673083
## AUTOREN
Lennart Laberenz
## TAGS
Politisches Buch
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Selbstoptimierung
Psyche
Individualismus
Pandemie
Selbstoptimierung
Einsamkeit
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