# taz.de -- Soziologe über Corona-Maßnahmen: „Es geht immer um die Balance�… | |
> Jahrzehntelang war Risikomanagement individuelle Angelegenheit. Jetzt im | |
> Kollektiv zu denken, fällt manchen schwer, sagt Andreas Reckwitz. | |
Bild: Verwaiste Straßen, leere U-Bahn – das öffentliche Leben wird immer we… | |
taz: Herr Reckwitz, der Shutdown ist ein soziales Großexperiment. Was | |
erkennen wir da? | |
Andreas Reckwitz: Wir erleben staatliches Katastrophenmanagement, ohne dass | |
die Katastrophe bereits vollständig eingetreten ist. Man versucht vielmehr, | |
mit Präventionsmaßnahmen Risiken zu minimieren. Wir bewegen uns im Stadium | |
staatlichen Risikomanagements, allerdings in einer Totalität, die wir | |
bislang nicht kannten. | |
In dieser Krise sind, was vor zwei Wochen noch unvorstellbar war, | |
Grundrechte leichthändig und fast widerstandslos aufgehoben worden. Wie | |
bedenklich ist das? | |
Bedenklich ist eine Einschränkung von Grundrechten immer. Als kurzfristige | |
Maßnahme ist sie in diesem Fall wohl gut zu rechtfertigen. Bedenklich wäre | |
es, wenn das politische Risikomanagement suggerieren würde, Maßnahmen seien | |
alternativlos, weil von der Wissenschaft vorgegeben. Es gibt natürlich | |
wissenschaftliche Argumente der Virologen, aber es handelt sich immer um | |
politische Entscheidungen, die kontingent sind. Das macht ja das Politische | |
aus. | |
Es ist charakteristisch für jedes Risikomanagement, dass das eine Risiko, | |
das man minimieren will – eine hohe Infektionsrate in kurzer Zeit –, andere | |
Risiken hervorbringt – die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte, | |
ökonomische Risiken, psychische Risiken langer Ausgangssperren. Beim | |
Risikomanagement geht es immer um eine Balance zwischen Vor- und | |
Nachteilen, nie um das einzig Richtige. | |
Einige Jüngere haben unverdrossen Corona-Partys gefeiert. Was bedeutet das? | |
In den letzten Jahrzehnten war Risikomanagement fast ausschließlich eine | |
individuelle Angelegenheit. Der Einzelne sollte für sich selbst vorsorgen | |
und sich schützen, alles ist eine Frage der Eigenverantwortung. Die nun | |
geforderte Denkweise, die Risiken der anderen zu minimieren, also im | |
Kollektiv zu denken, scheint manchen schwerzufallen. | |
Ist die individualisierte Gesellschaft, die um Selbstverwirklichung kreist, | |
zu der Solidarität fähig, die nun nötig ist? | |
Zunächst scheint es tatsächlich, dass die spätmoderne Gesellschaft auf die | |
Anforderungen eines kollektiven Risikoregimes nicht gut vorbereitet ist. | |
Der Wandel von den Pflicht- zu den Selbstverwirklichungswerten ist | |
tiefgreifend. Dass eigene Wünsche und Bedürfnisse beschnitten werden, ist | |
ungewohnt. Es gibt aber auch eine andere Seite. | |
In den spätmodernen Alltagspraktiken existiert eine erhebliche | |
Experimentierfreude und Flexibilität, gerade in der urbanen, jüngeren | |
Mittelklasse. Man kann sich gut auf ungewohnte Situationen einstellen. Das | |
sehen wir jetzt ja auch. Von der [1][spontanen Nachbarschaftshilfe] bis zur | |
Intensivierung der digitalen Kommunikation werden in der Krise neue | |
Möglichkeiten ausprobiert. | |
Welche klassenspezifische Auswirkungen hat Corona? | |
Das ist ein entscheidender Punkt. Einerseits kann man natürlich sagen: Die | |
Corona-Krise betrifft alle. Aber die Art der Betroffenheit unterscheidet | |
die Klassen und Milieus deutlich. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob | |
Homeoffice möglich ist – wie teilweise in der Wissensarbeit – und Gehälter | |
weitergezahlt werden oder angesichts des Einbruchs der Nachfrage die | |
Existenz in Gefahr ist. Das gilt für einfache Serviceberufe ebenso wie für | |
Kulturschaffende oder Unternehmer im Einzelhandel. | |
Nichts wird mehr so sein wie zuvor, heißt es überall. Aber was genau? Kann | |
man erkennen, was die Corona-Krise politisch und ökonomisch verändern wird? | |
Mit solchen Dramatisierungen bin ich erst einmal vorsichtig. Für Soziologen | |
geht es ja immer um die Longue durée des Strukturwandels. Es ist die Frage, | |
welchen Einfluss einzelne, auch sehr einschneidende Ereignisse haben. Die | |
große Unbekannte ist hier sicher, wie tiefgreifend die [2][ökonomische | |
Krise] sein wird. Davon abgesehen vermute ich, dass sich nach der | |
Corona-Krise Wandlungsprozesse, die bereits vorher begonnen haben, | |
verstärken. | |
Zum Beispiel? | |
Erstens wird diese Krise die Digitalisierung der Gesellschaft vermutlich | |
forcieren. Denn im Zuge der Krise greift man auf digitale Instrumente | |
zurück: Homeoffice, Digital Learning, digitale Beratung und Betreuung, | |
Onlinekonsum. Das soziale Leben setzt in der Welt des Digitalen keine | |
körperliche Anwesenheit voraus, was nun ein Vorteil ist. Es ist | |
wahrscheinlich, dass man danach auf diesen Erfahrungen aufbaut. Zweitens | |
ist zu vermuten, dass die Krise das Bewusstsein dafür fördert, dass | |
Globalisierungsprozesse mehr Regeln benötigen. | |
Also, der Nationalstaat wird als zentraler, stärkerer Akteur wiederkehren? | |
Ja, das ist der dritte Bereich, unabhängig von der Frage, ob die | |
staatlichen Instanzen eher national oder supranational organisiert sind. | |
Man muss da etwas ausholen. Von 1945 bis in die 1970er dominierte in den | |
westlichen Gesellschaften von politisch links bis rechts ein | |
Regulierungsparadigma. Ein ökonomisch und sozial aktiver Staat ging Hand in | |
Hand mit politischen Gemeinschaftsvorstellungen. | |
In den 70ern geriet es in eine Krise, es folgte ein liberales | |
Dynamisierungsparadigma, in dem Deregulierung und Entgrenzung im | |
Mittelpunkt standen. Im ökonomischen Neoliberalismus einerseits, im | |
kulturellen Linksliberalismus andererseits. Seit 2010 ist dieses Modell in | |
die Defensive geraten. Die Finanzkrise war hier sicher ein Einschnitt, und | |
der Aufstieg des Populismus ist ein Symptom. Wir befinden uns seit etwa | |
2010 in einer Phase des politischen Paradigmenwechsels. Die Corona-Krise | |
könnte dies noch anheizen. | |
Markiert Corona das Ende des Neoliberalismus? | |
Das wäre zu einfach. Man erkennt jetzt aber, dass die Gesellschaft auf | |
staatliche Regulierungsfähigkeit angewiesen ist, die man in den letzten | |
Jahrzehnten vernachlässigt hat, etwa ein funktionierendes öffentliches | |
Gesundheitssystem. Ob in Reaktion auf die Corona-Krise auch | |
gesellschaftliche Solidaritätsbeziehungen, ein neuer Gemeinsinn gefördert | |
wird – das wird man abwarten müssen. | |
Die Frage ist, wie das neue Paradigma aussehen kann. Vieles spricht dafür, | |
dass es stärker die gesellschaftliche Dynamik reguliert, ohne nostalgisch | |
in die „formierte Gesellschaft“ der Nachkriegszeit zurückzuwollen. Die | |
Alternative zum Populismus wäre also eine Art einbettender Liberalismus. | |
Die Folgen der neoliberalen Wende sind aber immer noch da. Ungleichheit | |
nimmt in vielen OECD-Staaten weiter zu. Die Nationalstaaten sind unfähig, | |
die globale Steuerflucht zu beenden. Ist der einbettende Liberalismus, von | |
dem Sie sprechen, eine Beschreibung struktureller Verschiebungen? Oder eine | |
Forderung? | |
Mir scheint, dass wir uns gegenwärtig in einer Situation des politischen | |
Paradigmenwechsels ähnlich wie in den 1970er Jahren befinden. Man erkennt | |
in manchen Bereichen einen politischen Bewusstseinswandel, etwa wenn es in | |
den USA um die Krankenversicherung oder in Deutschland um die Stärkung der | |
Pflegeberufe oder die Mietpreisbremse geht. Oder international in der | |
Fridays-for-Future-Bewegung. Zu einem kompletten neuen Paradigma verdichtet | |
hat sich das gegenwärtig noch nicht. | |
22 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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