| # taz.de -- Protest-Trends auf Instagram: Die Dialektik des Digitalen | |
| > Botschaften des Widerstands lassen sich mit dem Foto- und Video-Netzwerk | |
| > Instagram schnell verbreiten. Doch zu oft wird Protest dort selbst zur | |
| > Ware. | |
| Bild: #challengeaccepted, zum Beispiel von Tara Abrahams, die mit ihrem Foto zu… | |
| Seit einigen Tagen sieht man auf Instagram vermehrt den Hashtag | |
| #ChallengeAccepted: Frauen posten Selfies in Schwarz-Weiß und nominieren | |
| eine weitere Person, um sich gegenseitig zu ermächtigen. Wo die Netzaktion | |
| [1][ihren Ursprung hat, ist nicht ganz klar]. Manche behaupten, | |
| Aktivistinnen wollten damit auf die Frauenmorde in der Türkei aufmerksam | |
| machen, andere sagen, eine brasilianische Journalistin habe die Sache ins | |
| Rollen gebracht. | |
| Wenn man sich die Instagram-Posts anschaut, sieht man Frauen in lasziver | |
| Pose, mal kokett in die Kamera lächelnd, mal nachdenklich in die Weite | |
| starrend, meist sehr schick. Es könnte sich auch um Parfümwerbung oder | |
| Bilder aus einer Modezeitschrift handeln. Auch die schwarzen Fotos, die | |
| unter dem Hashtag #BlackoutTuesday als Zeichen der Solidarität gegenüber | |
| der Schwarzen Community gepostet werden, spielen mit einer gewissen | |
| Mode-Ästhetik, weil es in der Gesamtschau so wirkt, als hätten sich die | |
| Instagrammer auf einen bestimmten Dresscode geeinigt. | |
| Der Spiegel titelte passend: [2][„Instagram trägt Schwarz“]. Als wäre | |
| Schwarz die neue Sommerkollektion. Noch einen Schritt weiter ging der | |
| Hashtag #MedBikini, wo junge Ärztinnen und Medizinstudentinnen im Bikini | |
| gegen eine – mittlerweile zurückgezogene – Studie protestieren, in der | |
| Wissenschaftler die freizügigen Social-Media-Accounts angehender | |
| Chirurginnen geißeln. Von „Sexismus“ war hier die Rede. | |
| Nun kann man generell die Frage stellen, ob man mit Bikini-Fotos gegen | |
| Sexismus demonstrieren kann oder die Aktion nicht selbst ein performativer | |
| Akt des Sexismus ist, weil sich Frauen hier als Postergirls einer | |
| Avantgarde präsentieren und es bei den Posts doch letztlich um Äußeres | |
| geht. Das radikale Kunstkollektiv Pussy Riot setzt seine Körper auch als | |
| politische Protestform an, aber eben in anderem Kontext. Wenn sich jemand | |
| auf Instagram im Bikini oder halbnackt präsentiert, ist dies kein Affront, | |
| im Gegenteil: Es entspricht den Erwartungen der Community und ist damit | |
| systemkonform. | |
| ## Mode und Politik | |
| Dass Kleidung bei politischen Bewegungen eine Distinktions- und | |
| Kommunikationsfunktion einnimmt, ist keine neue Erkenntnis. Genauso wenig | |
| wie die Tatsache, dass auch Designer den Laufsteg als politische Bühne | |
| nutzen. Mode war schon immer Stoff für Politik. Neu aber ist, dass Politik | |
| zunehmend im Gewand der Mode daherkommt. So erschienen die demokratischen | |
| [3][Frauen bei der Rede von US-Präsident Donald Trump im US-Kongress im | |
| vergangenen Jahr in weißer Robe] – der Dresscode sollte an die weiß | |
| gekleideten Suffragetten erinnern, an die Frauenrechtlerinnen, die Anfang | |
| des 20. Jahrhunderts das Frauenwahlrecht erstritten. Natürlich ist dies | |
| eine eindeutig politische Reminiszenz. Doch wenn man die Bilder – und | |
| darauf kommt es in der Rezeption meist an – anschaut, könnte man meinen, es | |
| handele sich um eine Ärzteschaft, oder noch schlimmer, um eine | |
| All-White-Party. | |
| Das führt wiederum zum Hashtag #ChallengeAccepted. Auch hier geht es um | |
| Empowerment. Doch der Schwarz-Weiß-Modus, mit dem die Bilder gepostet | |
| werden, ist letztlich nur ein Filter. Und damit eine furchtbare Anbiederung | |
| an die Instagram-Ästhetik, wo Fotos auf Hochglanz poliert und schöngefärbt | |
| werden. Sollte mit der Aktion tatsächlich ein Bewusstsein für Femizide | |
| geschaffen werden, wäre dies eine Perversion der ursprünglichen Intention. | |
| Nun muss man sagen, dass eine politische Bewegung nicht allein deshalb | |
| unpolitisch ist, wenn sie besonders konformistisch daherkommt oder sich | |
| Codes aneignet, die auch von der Werbung bedient werden. Nur weil Marken | |
| wie Coca-Cola oder Nike sich das Motto „Black Lives Matter“ auf die Fahnen | |
| geschrieben haben, macht es das Ansinnen nicht minder legitim. Trotzdem | |
| lässt sich eine Tendenz zur Kommerzialisierung von Protesten beobachten, | |
| die ihre Ursache vor allem in der Netzkultur hat. | |
| Unter den Bedingungen einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie müssen nicht | |
| nur politische Slogans wie Hashtags besonders griffig und möglichst | |
| werbegängig sein, sondern auch und allem voran Bilder. Der Soziologe | |
| Andreas Reckwitz erklärt in seinem Buch „Die Gesellschaft der | |
| Singularitäten“, wie Individuen ständig dazu gezwungen sind, vor einem | |
| Publikum zu performen: „Das Subjekt ist in der Spätmoderne mehr und mehr | |
| identisch mit seiner Performance vor einem Publikum – und das Internet ist | |
| seine zentrale Arena.“ | |
| ## Das Leben als Performance | |
| In gewisser Weise gilt dies auch für Proteste: Es reicht heute nicht mehr, | |
| ein Schild auf einer Straße hochzuheben, um in einer transnationalen | |
| Öffentlichkeit mit mannigfaltigen Interessen und Stimmen wahrgenommen zu | |
| werden. Sondern man muss auch hier in gewisser Weise „performen“, sich im | |
| Selbstporträt von seiner besten Seite zeigen, seine Mitstreiter:innen | |
| „taggen“, das aktivistische Vorhaben noch mit einer „Challenge“ aufmotz… | |
| und die gemeinsame Sache möglichst mit einem Erkennungszeichen wie einem | |
| Hashtag oder einem Dresscode garnieren. Politische Forderungen müssen | |
| beworben werden. In anderen Worten: Man muss die Formensprache der Werbung | |
| sprechen, um sich politisch Gehör zu verschaffen. | |
| Das Marketing ist im Format des Selfies und einem Foto-Dienst wie Instagram | |
| schon von Natur aus angelegt. Denn sobald man auf Instagram ein Bild | |
| postet, bietet man auf dem Markt ja etwas an, nämlich Reize und Daten, und | |
| man etikettiert das Angebot mit einem „Label“, dem Hashtag. Die | |
| „Marktführer“ dieses Zeichensystems, die Influencer:innen, sind ja nicht | |
| nur Trendsetter:innen in Sachen Mode, sondern auch, was kulturelle | |
| Codierungen betrifft. | |
| Es folgt einer inneren Logik, dass die verhandelten Themen auf | |
| Social-Media-Kanälen, die „Trends“, auch ein Phänomen der Modeindustrie | |
| sind. Dass die Singularisierung letztlich zu einer Uniformität führt, weil | |
| die Selfies sich in ihrer Ästhetik gleichen und am Ende austauschbar sind, | |
| ist offenkundig. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Gleichförmigkeit | |
| deuten sich bei den Instagram-Protesten aber auch hegemoniale Praktiken an. | |
| So posierte die weiße Influencerin Kris Schatzel inmitten einer „Black | |
| Lives Matter“-Demonstration vor der Kamera. Und sie war nicht die Einzige. | |
| Am Tag nach den Demonstrationen ließen sich eine Vielzahl solcher Bilder | |
| weißer Influencerinnen bei Instagram finden. Im Netz hagelte es daraufhin | |
| Kritik. „Hört auf, [4][Proteste wie das Coachella-Festival zu behandeln“], | |
| war eine der häufigsten Reaktionen. „Black Lives Matter“ schrumpfte in dem | |
| Moment zur bloßen Kulisse, zu einem Souvenir, das die Protesthopperin | |
| effekthascherisch wie eine Trophäe in die Kamera hielt. Sie hätte genauso | |
| gut in einer Kundgebung der rassistischen Bewegung „White Lives Matter“ | |
| stehen können, wenn die gerade im „Trend“ gelegen wäre. Aber das Label | |
| „Black Lives Matter“ bringt eben ein paar Likes mehr. | |
| ## Ware statt Veränderung | |
| Ein weiteres Beispiel: Eine Beauty-Bloggerin malte sich das Gesicht mit | |
| brauner Farbe an, wobei man als verständige/r Betrachter:in dieses Videos | |
| gar nicht wusste, ob das jetzt als Schminktipp oder Solidaritätsbekundung | |
| gemeint war. In jedem Fall dokumentiert diese rassistische Verirrung, wie | |
| schnell Protest durch den kommerziellen Verwertungsprozess des | |
| Datenkapitalismus gejagt wird. Was heute ein Erkennungszeichen der | |
| Gegenöffentlichkeit ist, kann morgen schon als T-Shirt bei Amazon landen. | |
| Natürlich kann Politik Mode als Vehikel nutzen. Und natürlich spricht | |
| grundsätzlich auch nichts dagegen, Selfies als Protestform einzusetzen. | |
| Doch die Gefahr dieser Entwicklung besteht darin, dass politische Symbole | |
| zu bloßen Modeaccessoires werden, zu einer Verkleidung, die man sich je | |
| nach Lust und Laune ansteckt; und darin, dass politische und Werbekampagnen | |
| zunehmend beliebig und austauschbar werden. Wenn Protest zur Pose erstarrt, | |
| hilft das den Aktivist:innen auf der Straße herzlich wenig. Am Ende freuen | |
| sich vor allem die Plattformkonzerne, die durch das „Engagement“ ein paar | |
| Werbedollar mehr verdienen. | |
| 7 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Instagram-Trend-ChallengeAccepted/!5699386 | |
| [2] https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/blackouttuesday-instagram-traegt-schwa… | |
| [3] https://time.com/5518859/state-of-the-union-2019-white/ | |
| [4] https://www.independent.co.uk/life-style/influencers-protests-black-lives-m… | |
| ## AUTOREN | |
| Adrian Lobe | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Netzkultur | |
| Schwerpunkt Überwachung | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Netflix | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Überwachung vor der Haustür: Jeder ist verdächtig | |
| Überwachung geht jetzt auch egalitär: über die App Neighbors, Amazons | |
| smarte Türklingel Ring und das Phänomen der Coveillance. | |
| Dekolonialisierung von Algorithmen: Programmierter Rassismus | |
| In KI-Systemen schlummern immer noch rassistische Vorurteile. Der Grund: | |
| Auch künstliche Intelligenz wird von Menschen gemacht. | |
| Netflix-Serie aus Indien: Tochter-Mutter-Serie | |
| Bisschen Mode, bisschen Liebe: Die indische Designerin Masaba Gupta gibt | |
| ihr Schauspieldebüt in der Netflix-Mockumentary „Masaba Masaba“. | |
| Instagram-Trend #ChallengeAccepted: Nur ein Selfie | |
| Millionen Frauen posten ein Schwarz-Weiß-Foto von sich. Damit wollen sie | |
| sich gegenseitig empowern. Doch was kann ein Selfie schon ausrichten? | |
| Soziologe über Corona-Maßnahmen: „Es geht immer um die Balance“ | |
| Jahrzehntelang war Risikomanagement individuelle Angelegenheit. Jetzt im | |
| Kollektiv zu denken, fällt manchen schwer, sagt Andreas Reckwitz. | |
| Forscher über Proteste und Social Media: Facebook will kein Revoluzzer sein | |
| Ist Facebook der Star der arabischen Revolten? US-Netzforscher Ethan | |
| Zuckerman spricht mit der taz über den Einfluss sozialer Medien und die | |
| Kunst des Zuhörens. |