Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Überwachung vor der Haustür: Jeder ist verdächtig
> Überwachung geht jetzt auch egalitär: über die App Neighbors, Amazons
> smarte Türklingel Ring und das Phänomen der Coveillance.
Bild: Alles im Blick: die „smarte“ Türklingel Ring
Revere, ein Vorort von Boston, 9. Juli 2019 um 11.56 Uhr: Zwei junge Männer
– ein Weißer und ein Schwarzer, beide gut gekleidet – [1][gehen eine
geteerte Einfahrt entlang.] Dann betreten die beiden den Bürgersteig und
biegen in die Avenue ein. Daneben Kiesbett, sorgsam getrimmte Büsche,
kleine Häuschen. Typische US-Vorstadtidylle.
Eine Szene, wie sie täglich tausende Male vorkommt, festgehalten auf einer
Webcam oder Überwachungskamera. Wäre da nicht der Kontext. Denn der 24
Sekunden kurze Videoclip ist mit dem raunenden Titel „They should have not
entered the backyard“ überschrieben – zu Deutsch: „Sie hätten nicht den
Hinterhof betreten sollen.“ Ergänzt mit dem Hinweis: „Verdächtige
Aktivität.“
Hochgeladen wurde der Clip in der App Neighbors, einer Art sozialem
Netzwerk von Amazons smarter Türklingel Ring. Das handflächengroße Gerät,
das am Türspion befestigt wird, benachrichtigt den Besitzer via App, wenn
jemand an seine Tür klopft, die Klingeltaste drückt oder die
Bewegungsmelder auslöst. So lässt sich aus der Ferne kontrollieren, ob der
Paketbote das Päckchen vor der Tür ablegt und wer sich sonst noch so vor
dem Haus herumtreibt. Man erhält dann beispielsweise eine Push-Nachricht
auf dem Handy: „Bewegung an der Haustür.“
400.000 solcher Geräte sind in den USA bereits verkauft worden. Nutzer, die
die Klingel installiert und die Neighbors-App heruntergeladen haben, posten
Videoclips über angebliche Verbrechen und verdächtige Aktivitäten in ihrer
Nachbarschaft, Meldungen über verlorene Haustiere, aber auch Good News, wie
etwa einen Nachbarn, der die Mülltonnen rausbringt. Die Posts kann man
liken, kommentieren und teilen.
## True Crime?
Neighbors ist eine Mischung aus Facebook und „Aktenzeichen XY...“: Die App
bringt das Prinzip der Öffentlichkeitsfahndung mit Social Networking
zusammen. Und sie kapitalisiert das, was in Medien gewöhnlich am meisten
geklickt wird: Crime. Kombiniert wird dies mit einer Hardware, die einem
das Gefühl gibt, die totale Kontrolle über das Zuhause zu besitzen.
Kürzlich hat Amazon sogar eine flugfähige Kamera („Always Home Cam“) als
Erweiterung präsentiert, eine Minidrohne, die sich per Smartphone steuern
lässt und Innenräume überwacht.
Mithilfe von Ring konnten bereits einige Diebstahldelikte aufgeklärt
werden. Kein Wunder, dass sich auch die Polizei für das Tool interessiert:
So hat Amazon US-Polizeibehörden Zugriff auf die Daten gewährt, unter
anderem Video- und Kartenmaterial, was für heftige Kritik bei
Datenschützern sorgte. Die Ring-Besitzer wurden zu einer Art verdecktem
Ermittler.
Das ursprünglich aus der Kriminalistik stammende Dispositiv des Profils ist
sozialen Netzwerken wie Facebook ja schon immer immanent gewesen, doch
Neighbors treibt dieses kriminalistische Motiv noch eine Stufe weiter,
indem es den Verdacht zum Baustoff eines sozialen Netzwerks macht.
Es muss irgendeinen tieferliegenden Grund geben, warum sich Tausende Bürger
in einer digitalen Nachbarschaftswache vernetzen. Eine einfache Alarmanlage
würde es ja auch tun. Was die Bürger verbindet, ist so etwas wie die
kollektive Furcht vor dem – meist sehr stereotyp beschriebenen –
„Eindringling“, der paradoxerweise auch der Nachbar sein könnte. Wer weiß,
vielleicht war es ja doch der Typ von gegenüber, der gestern das Paket
geklaut hat!
## Digitales Tratschmaterial
Natürlich war Sozialkontrolle schon immer in der Nachbarschaft präsent. Man
sieht, wann der Nachbar aus dem Haus geht, wen er mit nach Hause bringt,
wann das Licht ausgeht, was er so alles aus dem Haus trägt (Weinflaschen).
Selbst in Wohntürmen mit Hunderten Einheiten gibt es keine
hundertprozentige Anonymität. Man muss bloß den Namen am Türschild googeln
oder auf Facebook suchen, schon weiß man in aller Regel Bescheid, was die
Person beruflich macht und welche Hobbys sie hat.
Und der Tratsch in Mehrparteienhäusern, wo der Nachbar kriminalisiert wird,
weil er nachts den Müll rausbringt („verdächtig“!), ist im Grunde eine Art
analoge Neighbors-App. Per Flurfunk verbreiten sich Gerüchte so schnell wie
im Netz. Diese Sozialkontrolle erhält in der digitalen Gesellschaft jedoch
eine neue Qualität, weil man eben nicht mehr nur neugierig aus dem Fenster
schaut, sondern seine Blicke mit Kameraaugen dokumentiert – und die
Aufnahmen in Windeseile im Netz teilt.
Man muss sich nur mal im Straßenverkehr umschauen: Immer mehr Autofahrer
haben an ihrer Windschutzscheibe eine Dashcam installiert, die das
Fahrgeschehen aufzeichnet. Man könnte ja mal in einen Unfall verwickelt
sein, dann hat man das Beweismaterial gleich auf dem Stick! Der [2][BGH hat
entschieden, dass Dashcam-Mitschnitte] zwar einen Verstoß gegen das
Datenschutzrecht darstellen, vor Gericht als Beweismittel aber zulässig
sind.
Nächstes Beispiel: Demonstrationen. Auch hier wird alles akribisch
mitgefilmt. Bundespolizisten tragen sogenannte Bodycams an ihren Uniformen,
Minikameras, die das Geschehen aufzeichnen. Die Aufnahmen werden, welch
Ironie, auf Amazon-Servern gespeichert. Auch Demonstranten zücken ihre
Handys, um mögliches Beweismaterial für Polizeigewalt zu sammeln.
Überwachung ist heute nicht mehr nur streng hierarchisch (im Verhältnis
zwischen Staat und Bürger, etwa bei Überwachungskameras oder
Gesichtserkennungssystemen im öffentlichen Raum), sondern zunehmend
egalitär, das heißt zwischen Privaten.
In der soziologischen Literatur wird seit einiger Zeit das Konzept
„coveillance“ diskutiert, ein Begriff, der im Gegensatz zu „Surveillance�…
eine Überwachung unter Gleichen meint. Im Deutschen gibt es dafür keinen
eigenen Begriff, man könnte es wohl am ehesten mit Nebenwacht oder
Nebenwachung übersetzen. Die Idee: die klassische Asymmetrie zwischen den
Überwachern und Überwachten durch das Korrektiv eines wechselseitigen
Kontrollblicks einzuebnen. Wo jeder unter Beobachtung steht, gibt es
weniger Machtmissbrauch. In der Theorie klingt das plausibel, in der Praxis
ist es mit der Symmetrie jedoch nicht allzu weit her.
## Die Optik der Kameralinse
Denn die Kameraaugen, die Amazon-Ring-Kunden an ihrer Haustür installieren,
sind ja keine Taktiken der Gegenüberwachung, die den Kontrollblick
umkehren, im Gegenteil, sie sind Apparaturen, die den panoptischen Blick
des Staates erweitern, da der Stream mit der Polizei geteilt wird. Nicht
der Ereignismonitor des Smartphone-Displays ist der Kontrollraum, sondern
der Außenbereich von Wohnhäusern: Vorplätze, Gärten, Hinterhöfe.
Das Problem ist, dass über den Überwachungsbildern schon von Natur aus ein
Filter des Verdachts liegt, dass der Fokus von Videokameras darauf
gerichtet ist, die Anomalie einzufangen: die rennende Person, den fremden
Postboten, den Unbekannten im Hinterhof. Informationen, die unser eigener
Sehapparat vielleicht wieder löscht, die aber in der Optik der
Kameralinsen besonders hervortreten. Sie beschwören eine Gefahr herauf,
die vielleicht gar keine ist, aber nur durch noch mehr Überwachung
beherrschbar erscheint.
Der Soziologe Dietmar Kammerer schreibt in seinem Buch „Bilder der
Überwachung“ (2008), [3][dass Videoüberwachung Risikotechnologie im
Wortsinn sei]: „Ihr Einsatz, der Risiken bekämpfen soll, ist selbst mit
nicht unerheblichen, unkontrollierbaren Gefahren verbunden. Sie bedient die
Forderung nach Responsibilisierung und Privatisierung: Jeder ist für seine
eigene Sicherheit verantwortlich und muss es selbst in die Hand nehmen,
Risiken für sich und andere möglichst frühzeitig einzudämmen.“
Die Ironie ist, dass die Besitzer von Amazons Videoklingel selbst von
Fremden beobachtet werden: Nach Recherchen von „The Intercept“ taggten
Vertragsarbeiter in der Ukraine Gegenstände in den Videostreams, weil die
Objekterkennungsalgorithmen noch nicht gut funktionierten. Friedrich
Dürrenmatt beschreibt in seiner Novelle „Der Auftrag oder Vom Beobachten
des Beobachters der Beobachter“ (1986), wie der Logiker D. von seinem Haus
in den Bergen mit einem Spiegelteleskop auf einen Felsen schaut, von dem er
von Leuten mit Ferngläsern beobachtet wird: „Zu jedem Beobachteten gehöre
ein Beobachtendes, das, werde es von jenem Beobachteten beobachtet, selber
ein Beobachtetes werde, eine banale logische Wechselwirkung.“
Wer andere überwacht, darf sich am Ende nicht wundern, wenn er selbst
überwacht wird.
22 Oct 2020
## LINKS
[1] https://neighbors.ring.com/n/WQZxDma3ZE
[2] /Urteil-zu-Dashcams-im-Verkehr/!5506193
[3] /Videoueberwachung-veraendert-Verhalten/!5143944
## AUTOREN
Adrian Lobe
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
Amazon
Nachbarn
Polizei
Schwerpunkt Überwachung
Schwerpunkt Rassismus
künstliche Intelligenz
Schwerpunkt #metoo
## ARTIKEL ZUM THEMA
Überwachung im öffentlichen Raum: Posse um Polizeikameras
In Hannover geht der Streit um Überwachungskameras weiter. Die Polizei
bringt neue Hinweisschilder an – auch dort, wo es gar keine Kameras gibt.
Immobilienmarkt in US-Metropolen: 3 Zimmer, Küche, Gesichtserkennung
„Proptech“-Anwendungen, die Daten über Mieter*innen sammeln können, spitz…
die Lage auf dem prekären US-Immobilienmarkt nachhaltig zu.
Unfälle mit künstlicher Intelligenz: Ein rechtlicher Flickenteppich
Künstliche Intelligenz ist nicht perfekt. Der tödliche Unfall durch ein
Roboterauto oder rassistische Diskriminierung erfordern strengere
Regulierung.
Dekolonialisierung von Algorithmen: Programmierter Rassismus
In KI-Systemen schlummern immer noch rassistische Vorurteile. Der Grund:
Auch künstliche Intelligenz wird von Menschen gemacht.
Protest-Trends auf Instagram: Die Dialektik des Digitalen
Botschaften des Widerstands lassen sich mit dem Foto- und Video-Netzwerk
Instagram schnell verbreiten. Doch zu oft wird Protest dort selbst zur
Ware.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.