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# taz.de -- Neues Buch von Philosophin Charim: Die Qualen des Narzissmus
> Wie kommt es, dass „die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei
> es für ihr Heil“? Isolde Charim stellt die Frage neu. Auszüge aus ihrem
> Buch.
Bild: Rangordnungen auf der nach oben hin offenen Narzissmus-Skala, hier beim F…
Ausgangspunkt ist ein altes Erstaunen: Warum sind wir mit dem Bestehenden
einverstanden? Ob dieses uns zum Vorteil gereicht oder nicht. Wir mögen hie
und da murren – aber im Großen und Ganzen willigen wir in die Verhältnisse
ein. Freiwillig. Woher rührt diese Freiwilligkeit?
Im Jahr 1546 oder 1548 hat der französische Autor Etienne de La Boétie eine
„Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ geschrieben. Er hat damit
eine vielzitierte Formel geprägt, die die Freiwilligkeit mit der
Knechtschaft verbindet: die paradoxe Mischung eines freiwilligen
Zwangsverhältnisses.
La Boéties Paradoxon ist ein ebenso anhaltendes wie veränderbares Phänomen.
Anhaltend ist es, weil wir auch heute noch in freiwilligen
Zwangsverhältnissen leben. Veränderbar aber ist es, weil sich mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen auch das verändert, was freiwilliges
Unterordnen jeweils ist.
So geht es heute nicht um freiwillige Knechtschaft, sondern um freiwillige
Unterwerfung. Ein wichtiger Unterschied. Denn der Unterworfene ist nicht
der Knecht eines Herrn – er fügt sich vielmehr in die Verhältnisse. Er fügt
sich ein. Im Unterschied zur [1][Knechtschaft] ist dies eine Unterwerfung,
die sich selbst nicht als eine solche versteht. Sie wird vielmehr als
Einverständnis erlebt – als Einverständnis mit dem Bestehenden, als
Akzeptanz der Gesellschaftsordnung. Mehr noch. Die Freiwilligkeit dieses
verkappten Zwangsverhältnisses erscheint als ihr Gegenteil: Eine
Unterwerfung, die als Ermächtigung erlebt wird. Die Wirkmächtigkeit solcher
freiwilligen Unterwerfung kann gar nicht überschätzt werden. Denn diese ist
die weitreichendste, effizienteste Form, wie eine bestehende Ordnung, wie
bestehende Verhältnisse gestützt, getragen, perpetuiert werden. Mit und
gegen die eigenen Interessen.
Das Geheimnis der freiwilligen Unterwerfung, das Geheimnis ihrer ungeheuren
Wirksamkeit ist: Sie ist das, was jeden von uns von alleine funktionieren
lässt.
Was aber ist es, das uns heute von alleine funktionieren lässt?
Die These lautet: Die vorherrschende Anrufung, der wir heute folgen, ist
der Narzissmus. Eine andere Formulierung dafür wäre: Narzissmus ist die
Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen.
## Narzissmus und Konkurrenz
Nehmen wir den Wettbewerb als zentralen gesellschaftlichen Mechanismus.
Jener Mechanismus, der eine absolute Verallgemeinerung, eine grenzenlose
Ausdehnung, eine rückhaltlose Entgrenzung auf alle gesellschaftlichen
Bereiche erfahren hat.
Es zeugt von einer gewissen Paradoxie, die gesuchte, neue Veränderung
ausgerechnet am Wettbewerb festzumachen. Hatte [2][Karl Marx] doch schon
vor über 150 Jahren festgestellt, dass Konkurrenz die ureigenste Form sei,
in der sich kapitalistische Produktionsverhältnisse vollziehen. Anders
gesagt: Die Veränderung kann also nicht einfach in der Konkurrenz als
solcher bestehen – in welcher Ausweitung auch immer. Sie muss vielmehr in
einer besonderen Bestimmung bestehen, die dieser zentrale Mechanismus
erfahren hat.
Eine solche ist der Narzissmus. Wie findet dieser Eingang in den
Wettbewerb?
Das bewirken alle Formen von Rankings, Ratings, Evaluierungen. Diese bilden
Rangordnungen, hierarchische Strukturen. Durch und in Rankings werden
Platzierungen auf einer nach oben hin offenen Narzissmus-Skala vorgegeben
und zugewiesen.
## Zuordnungen im Gerüchte-Ranking
Es ist dieses System, es sind diese Werthierarchien, die den Wettbewerb
verändern. Dieser wird durch narzisstische Kriterien überformt. Die
Rankings zeigen an, bewerten, wie viel Anteil man am narzisstischen Ideal
hat. Oder besser gesagt: wie viel man einem zuspricht. Denn es geht um
Zuordnungen im Gerüchte-Ranking: also um subjektive Einschätzungen, die
sich zu objektiven Urteilen verfestigen. All dies bildet eine objektive
Ordnung für die subjektive Bewertung. All dies bildet das paradoxe Phänomen
eines objektiven Narzissmus. Dieser ist vom subjektiven Narzissmus zu
unterscheiden.
Objektiver Narzissmus wird von außen zugesprochen: Die Rangordnungen, die
Feedbacks zeigen dem Einzelnen an, welchen Platz er in der Mythenordnung
einnimmt. Während der subjektive Narzissmus über die eigene Suche nach dem
Ich-Ideal funktioniert.
Strebt der subjektive Narzissmus stets – und stets unbefriedigt – nach
diesem Ideal, also nach seiner Erfüllung, so geht es dem objektiven
Narzissmus des Wettbewerbs keineswegs darum, dass das Subjekt eine
narzisstische Befriedigung erfährt. Oder höchstens als Versprechen, als
Indienstnahme des Strebens, als idealer Antrieb. Anders gesagt: dem
subjektiven Narzissmus ist das narzisstische Ideal Ziel und Zweck – während
es dem objektiven Narzissmus nur als Mittel dient. Ein Mittel, das stets
auch Drohung und Waffe ist.
Wie aber kann der objektive Narzissmus den subjektiven Narzissmus in Dienst
nehmen?
Durch eine falsche Gleichung, die besagt: Der erste Platz im Ranking, der
Höchststand in der Evaluierung entspreche tatsächlich dem narzisstischen
Ideal-Ich. Der erste Platz sei tatsächlich gleichbedeutend mit dem Status
des Einzigartigen – ein Begriff, den wir von [3][Andreas Reckwitz]
übernehmen. Im Gegensatz zu diesem verstehen wir Einzigartigkeit aber als
Mythos. Als Mythos eines Jenseits der Konkurrenz – eines sehr irdischen
Jenseits, das einen von den Qualen der Konkurrenz erlösen soll. Es ist das
Versprechen eines Refugiums fürs Individuum – geborgen aus dem unendlichen
Wettbewerb, gerettet aus der gnadenlosen Konkurrenz. Wir haben hier nichts
weniger als eine dialektische Volte: Die restlose Konkurrenz wird im
Prinzip des Einzigartigen mythisiert. Den Wettbewerb hinter sich lassen –
das stellt den Höhepunkt des Wettbewerbs dar.
## Druck und Antrieb in einem
Diese Verheißung der Rangordnung, dass man ihr an der Spitze entkommt,
diese Mythisierung des ersten Platzes – dieses „Angebot“ weckt und
befördert den subjektiven narzisstischen Wunsch. Den Wunsch, der Beste und
damit einzigartig zu sein. Und die Rankings, die Evaluierungen – als
Vorgabe, als Kontrolle – bedürfen ebendieses Wunsches.
Der objektive Narzissmus lebt also von mehreren Als-obs: vom Als-ob der
Einzigartigkeit. Und vom Als-ob der Entsprechung: als ob die vorgegebenen
Plätze tatsächlich die gesellschaftliche Erfüllung des Narzissmus wären.
Nur wenn er dies glaubhaft machen kann, kann er den subjektiven Narzissmus
anzapfen. Nur so kann der objektive Narzissmus der Wettbewerbsordnung am
subjektiven Narzissmus des Einzelnen parasitieren. Denn nur dann wird das
narzisstische Begehren zum Wunsch, die vorgegebenen Plätze in den Rankings
einzunehmen. Über den ökonomischen Druck hinaus. Nur dann ist er Druck und
Antrieb in einem.
Solcherart bildet er einen neuen Heliotropismus – einen narzisstischen
Heliotropismus, der alle an der Sonne des Narzissmus, am Ich-Ideal, an der
Einzigartigkeit ausrichtet. Aber diese Sonne ist imaginär. Und gerade weil
dieses Ziel ein Mythos – der Mythos des Wettbewerbs – ist, gerade deshalb
führt dies zu einem notwendigen, zu einem strukturellen Scheitern.
Es ist dies aber nur ein notwendiges Scheitern für den subjektiven
Narzissmus – nicht für den objektiven. Letzterem dient der Narzissmus ja
nur als Mittel. Dessen Ziel ist nicht die Erfüllung der Verheißung, nicht
die Realisierung der Einzigartigkeit. Dessen Ziel ist es ja, die Konkurrenz
anzutreiben, den Wettbewerb zu steigern, den Kapitalismus weiter zu
entfalten.
## Versprechen der Einzigartigkeit
Dieses Scheitern zeigt, dass die in Aussicht gestellte Überschneidung von
objektivem und subjektivem Narzissmus, die sich im Erfolg treffen sollen, –
also die Deckung von Wunsch und Anforderung – nur partiell und punktuell
ist. Und trotzdem erzeugt ebendies eine Verstrickung, der man sich nur
schwer entziehen kann.
Denn der narzisstische Ruf treibt ja die Individuen im Wettbewerb an durch
die Aussicht, diesem zu entgehen. Er treibt sie an durch das Versprechen
der Einzigartigkeit. Als ob der Wettbewerb zu jenem rettenden Hafen werden
könnte, der uns vor dem schützt, was der Wettbewerb tatsächlich bedeutet:
die völlige Austauschbarkeit jedes Einzelnen. Von ihm erhoffen wir Heil.
Als ob der Wettbewerb uns bergen könnte aus der Gefahr, die er selbst
bedeutet – und uns jene Geborgenheit geben könnte, die er selbst
verhindert.
Tatsächlich aber erzeugt gerade der Wettbewerb, der das in Aussicht stellt,
zweierlei: Er steigert den Narzissmus – und er verhindert zugleich dessen
Erfüllung.
Kurzum – der Mythos der Einzigartigkeit, der Mythos der narzisstischen
Anrufung, ist unser heutiges Gegenprinzip. Das imaginäre Gegenprinzip zur
allgemeinen Austauschbarkeit in den realen Verhältnissen. Einzigartigkeit
ist die Form, in der wir die allgemeine Austauschbarkeit leben.
Einzigartigkeit ist das paradoxe Gegenprinzip, das uns antreibt. Das uns
dazu bringt, „von alleine“ zu funktionieren – das heißt freiwillig. Das
Gegenprinzip, dem wir uns unterwerfen – indem wir die Erwartungen erfüllen,
den Anforderungen zu genügen versuchen. Ganz von alleine. Im Modus des
Selbstantriebs. Der Mythos der Einzigartigkeit, den der objektive
Narzissmus befördert, erzeugt unsere freiwillige Unterwerfung.
So kämpfen wir Gegenwärtigen „für unsere Knechtschaft, als sei es für uns…
Heil“!
28 Sep 2022
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## AUTOREN
Isolde Charim
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