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# taz.de -- Die These: Junge wollen nicht mehr arbeiten
> Mittwochs nur bis 14 Uhr, dann ist Yoga: Boomer-Kinder wollen selten in
> Vollzeit und freitags oft gar nicht arbeiten. Schuld sind auch die
> Eltern.
Bild: Work-Life-Balance ist den jüngeren Generationen sehr wichtig
Eine Berliner Personalentscheiderin will nicht mehr. Sie will keine jungen
Menschen mehr einstellen, erzählt sie. In nahezu allen
Bewerbungsgesprächen, die sie in den vergangenen Jahren geführt hat, hörte
sie vor allem Forderungen: keine Vollzeit, Homeoffice als Regel, flexible
Arbeitszeiten. Einer wollte nie montags arbeiten, ein anderer mittwochs nur
bis 14 Uhr, dann war Yoga. Eine Bewerberin wollte sich spontan entscheiden
können, ob sie am nächsten Tag arbeitet oder nicht. Ein Bewerber für eine
volle Stelle wollte freitags immer freihaben. Die Personalentscheiderin
sagte: „Dafür müssen sie aber an den anderen Tagen bis zu zehn Stunden
arbeiten. Da ist der zeitliche Spielraum für Flexibilität begrenzt.“
Die Chefin einer großen Nichtregierungsorganisation stellt seit etwa vier
Jahren nur noch Ältere ein. Für die Jüngeren, sagt sie, lohne sich das
„Konzept Lohnarbeit mit einer 40-Stunden-Woche“ nicht mehr. Ein
Personalchef in Nordrhein-Westfalen erinnert sich an einen jungen Kollegen,
der für ein Projekt zu Hause aus seinem Regal drei Bücher heraussuchen
wollte und sich dafür 15 Minuten Überstunden angerechnet hatte. Er
beschreibt das Verhalten jüngerer Mitarbeiter:innen so: „Sie stellen
maximale Anforderungen an Arbeitgeber:innen, die diese vielfach gar nicht
erfüllen können.“
Egal in welcher Branche man sich umhört – Industrie, Bildungsarbeit,
Handwerk, Stiftungen –, überall singen Personalverantwortliche wie
Kolleg:innen das gleiche Lied: Komm mir bloß nicht mit jungen Leuten,
die wollen nicht mehr arbeiten. Zumindest nicht mehr so wie ihre Eltern,
[1][die sogenannten Boomer], die eine 40-Stunden-Woche mit Präsenzpflicht
in Büro, Werk, Akademie gewohnt waren. Wir wollen uns nicht so
kaputtrackern wie ihr, sagen die Boomer-Kinder und Enkel: Wir wollen mehr
Freizeit, mehr Freiheit, mehr Flexibilität. Wir wollen Work-Life-Balance.
Sie können sich das leisten. Überall fehlen Arbeits- und vor allem
Fachkräfte. Die Zeit des engen Arbeitsmarktes, in der sich die Generation
Praktikum trotz bester Abschlüsse von einer prekären Beschäftigung zur
nächsten hangelte, ist glücklicherweise vorbei. Wer gut und bestens
ausgebildet ist, kann sich heute die Stelle aussuchen.
Die Jungen sind den Alten vielfach voraus: Sie sind als Digital Natives mit
dem Internet groß geworden, sie sind technisch innovativ, schnell, agil.
Wenn Arbeitgeber:innen heute nicht die Bedingungen erfüllen, die sich
die jungen Bewerber:innen erbitten, ziehen diese weiter. Einer
[2][aktuellen Studie des Personaldienstleisters Randstad] zufolge würde
mehr als die Hälfte der Beschäftigten zwischen 18 und 24 Jahren den Job
kündigen, wenn dieser ihnen nicht zusagt. 40 Prozent [3][wären sogar lieber
arbeitslos].
Um eines klarzustellen: Natürlich gibt es junge Menschen, die hoch
motiviert, karriereorientiert, zielstrebig, ambitioniert sind. Die sich
flexibel zeigen, um viel zu leisten, auch über das geforderte Maß hinaus.
Gemeint sind an dieser Stelle keine nötigen (Aus-)Zeiten für
Familienpflichten wie Kinderbetreuung, Schule, Kita und die Pflege älterer
Angehöriger oder für die eigene Gesundheitsvorsorge. Die jahrzehntelange
Grundhaltung, dass Kinderbetreuung und Pflege Privatangelegenheit sind,
gehört gottlob der Vergangenheit an.
Ebenso wenig geht es darum, dass Millennials und Postmillennials
unanständige Forderungen von Arbeitgeber:innen erfüllen sollen: etwa
ein Engagement, das über einen normalen Arbeitsalltag hinausgeht. Die Rede
ist hier auch nicht von Überstunden, Zusatzarbeit am Abend und an
Wochenenden. Gemeint ist eine angemessene Einsatzfreude bei der Arbeit: Ich
kann was, ich will was, ich bringe mich ein.
Viele junge Menschen sind aber nicht mehr bereit, sich für ihren Job zu
engagieren. Sie achten darauf, keine Minute länger als nötig zu arbeiten.
Mehr als den Generationen vor ihnen ist den nach 1990 Geborenen vor allem
eins wichtig: nur nicht zu viel machen. Arbeitgeber:innen bringt das
zur Weißglut. In einer Umfrage des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages 2019 sagten rund 63 Prozent der Betriebsleiter:innen,
dass es Jüngeren an Motivation, Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit fehle.
Zugespitzt formuliert: Die Generation Anspruch mischt gerade den
Arbeitsmarkt auf.
## Homeoffice und Sabbaticals sind längst Standard
Und sie hat die Arbeitswelt bereits heftig umgekrempelt. Mittlerweile wird
Homeoffice, wenn auch stark vorangetrieben durch die Pandemie, von Firmen
kaum mehr infrage gestellt. Zahlreiche Unternehmen bieten Gleitzeitmodelle,
Sabbaticals, Teilzeit für Führungskräfte, Jobtickets, kostenloses Frühstück
und Getränke, Tischtennisplatten, manchmal Betriebskitas.
Diese Veränderungen sind positiv, dafür sollten die sogenannten Boomer
dankbar sein, davon profitieren auch sie. Ein üblicher Nine-to-five-Job ist
angesichts des globaler und flexibler gewordenen Arbeitsmarktes in vielen
Branchen nicht mehr zu halten.
Und doch braucht jeder Job ein Mindestmaß an Verlässlichkeit,
Verständigung, Präsenz. Vorgaben, Absprachen müssen eingehalten werden.
Trotz aller Vorteile des Homeoffice [4][muss man sich auch mal im Büro
treffen], allein wegen der Teamverständigung. Mitunter ist es nötig, ein
wenig länger zu arbeiten, etwas früher zu kommen. Die spontane Mehrarbeit
wird an anderen Tagen ausgeglichen. „Manche junge Menschen sehen es genau
andersrum, die Arbeitswelt soll sich ihrer Befindlichkeit unterwerfen“,
sagt die Personalentscheiderin aus Berlin.
Wer nun glaubt, junge Menschen mit dem Fokus auf ihre Work-Life-Balance
seien gesünder, irrt. Die 20- bis 35-Jährigen melden sich öfter krank als
ihre älteren Kolleg:innen. Dem [5][Gesundheitsreport 2022 der Barmer]
zufolge sind junge Menschen häufiger krankgeschrieben als ältere, dafür
aber nicht so lange. Das ist ein Trend, den schon die DAK in vergangenen
Jahren in Studien festgestellt hat. Beide Krankenkassen zählen aber nur die
Krankmeldungen ab dem dritten Krankheitstag, also jene Tage, für die es
einen Krankenschein braucht. Diese ersten drei Krankentage, von denen es
nach Angaben von Arbeitgeber:innen jede Menge gibt, fließen in die
Statistiken nicht ein.
Ausgleichen müssen die Fehltage der Jungen wiederum die Alten. Die sind
sauer: Wer, wenn nicht wir, macht dann die Arbeit? Wo bleibt da unsere
Work-Life-Balance?
Eine Gruppenleiterin in einer Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg, Ende
50, übernimmt regelmäßig nach Feierabend Sonderschichten, weil sich „ein
Neuer zwei Tage nach seinem Einstieg krankgemeldet hat“. Die Jungen halten
„nichts aus“, sagt die Sozialarbeiterin: „Sie sind nicht stressresistent.…
Wie auch? Entgegen ihrem Glauben an Selbstverwirklichung und lockere
Arbeitswelt finden sich junge Menschen plötzlich in einer Welt aus
Bestimmungen und Vorgaben wieder, die sie übermäßig anstrengen. Druck, den
sie bis dahin nicht kannten.
Verantwortlich für diese young fragility sind aber nicht nur die jungen
Arbeitsanfänger:innen selbst. Ihre Boomer-Eltern, die sich heute
gerne über die zarte mentale Konstitution der Jüngeren aufregen, haben
alles dafür getan, um Probleme von ihren Kindern fernzuhalten. Zu viele
jüngere Menschen sind wohlbehütet, mit viel Elternlob und wenigen
Einschränkungen zu Hause aufgewachsen. Im Mittelpunkt der elterlichen
Gedanken stand eines: das vermeintliche Kindeswohl. Da können sich die
Boomer auch nicht beschweren, wenn ihre Kinder ihr Wohl auch im
Arbeitsalltag einfordern.
Simone Schmollack hat als Ressortleiterin der taz-Regie, des Newsdesks der
taz, Personalverantwortung und ist Boomer-Mutter einer Millennial-Tochter.
3 Oct 2022
## LINKS
[1] /Podcast-Die-Querulant_/innen/!5736750
[2] https://www.randstad.com/workforce-insights/global-hr-research/randstad-wor…
[3] https://www.springerprofessional.de/karriere/mitarbeitermotivation/der-nach…
[4] /Ende-der-Homeoffice-Pflicht/!5839117
[5] https://www.bifg.de/publikationen/reporte/gesundheitsreport-2022
## AUTOREN
Simone Schmollack
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