| # taz.de -- Arbeitsmarktexperte zu Fachkräftemangel: „Die wollen sinnhafter … | |
| > Die Wirtschaft kriselt, die Lage für Jobsuchende ist ideal. Dennoch gibt | |
| > es keine Kündigungswellen wie in den USA. Wieso, erklärt Experte Enzo | |
| > Weber. | |
| Bild: In manchen Branchen ist Homeoffice inzwischen normal | |
| taz: Herr Weber, Ihr Institut zählte im zweiten Quartal 2022 mehr als 1,9 | |
| Millionen offene Stellen. Ein Allzeithoch. Welche Branchen betrifft das? | |
| Enzo Weber: Fast alle. Bei einigen Branchen war es ja schon vor der | |
| Coronakrise eng: im [1][Handwerk], im Erziehungswesen, in der Pflege, in | |
| der IT. In der Krise sind dann weitere Berufsfelder dazugekommen, vor allem | |
| die Gastronomie, die Flug- und Veranstaltungsbranche. All die Branchen, die | |
| jetzt wieder aufmachen und ihre Personallücken füllen wollen. | |
| Wird das so bleiben? Derzeit steuert die Wirtschaft in Deutschland ja in | |
| eine Krise. Es droht eine Rezession. | |
| Die derzeitige wirtschaftliche Lage ist natürlich heikel. Die | |
| Arbeitsmarktlage aber ist es nicht. Die [2][Knappheit von Arbeitskräften] | |
| führt einfach dazu, dass Betriebe versuchen, ihre Leute so lange wie | |
| möglich zu halten. Weil jeder weiß, wie schwer es ist, neue Mitarbeiter zu | |
| finden. Für Arbeitnehmer heißt das: Selbst wenn Jobs gestrichen werden, | |
| gibt es gute Aussichten, schnell wieder etwas zu finden. Der derzeitige | |
| Arbeitsmarkt ist also ziemlich robust. | |
| In den USA kündigten vergangenes Jahr 47 Millionen Menschen ihre Jobs, mehr | |
| als je zuvor. Die Rede war von der „Great Resignation“. In diesem Frühjahr | |
| wurden Befürchtungen laut, Deutschland könne eine ähnliche Kündigungswelle | |
| treffen. Haben sich die Sorgen bewahrheitet? | |
| Nein, haben sie nicht. In der Coronakrise gab es in Deutschland sogar | |
| deutlich weniger beendete Jobs als vorher. Es ist also genau das Gegenteil | |
| eingetreten. | |
| Warum? | |
| Das hat mehrere Gründe: Wer in Deutschland eine neue Stelle anfängt, hat in | |
| den ersten sechs Monaten keinen Kündigungsschutz. Da überlegt man in einer | |
| Krise schon zweimal, ob man seinen sicheren Job dafür aufgibt. Ähnliches | |
| bei der Sperrfrist in der Arbeitslosenversicherung: Wer selbst kündigt, | |
| bekommt drei Monate kein Geld, wenn er arbeitslos ist. Das sind alles | |
| Hürden. Man muss aber auch grundsätzlich sagen: Wir haben in Deutschland | |
| ein viel spezifischeres berufliches System als in den USA. | |
| Inwiefern? | |
| Dort ist es üblicher, zwischen ganz verschiedenen Jobs zu wechseln. In | |
| Deutschland bleibt man eher in einem Berufsfeld, das hat viel mit formellen | |
| Qualifikationsanforderungen zu tun. | |
| Der „Engagement Index“ des Beratungsunternehmens Gallup attestiert den | |
| Deutschen derzeit eine besonders hohe Wechselbereitschaft. Demnach will | |
| jeder vierte Befragte innerhalb eines Jahres den Job wechseln, 14 Prozent | |
| seien sogar aktiv auf Jobsuche, mehr als in den USA. Woher kommt diese | |
| Unzufriedenheit? | |
| Derartige Absichtsfragen sind grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Man | |
| weiß, dass dabei Prozentsätze herauskommen, die oft nicht realisiert | |
| werden. Nur weil jemand angibt, den Job kündigen zu wollen, heißt das | |
| nicht, dass er es auch macht. Zudem ist immer der zeitliche Vergleich | |
| wichtig. Auch früher hat es Unzufriedenheit gegeben, aber da wurde sie halt | |
| nicht mit einem plakativen Trend aus den USA in Verbindung gebracht. | |
| In den USA wird derzeit ein neues Phänomen diskutiert, das „quiet | |
| quitting“. Die Idee: Menschen machen nur noch so viel wie nötig, um nicht | |
| gefeuert zu werden. Keine Überstunden, keine Mails nach Feierabend. Dienst | |
| nach Vorschrift sozusagen. Die Bewegung versteht sich als Protest gegen die | |
| stetig steigenden Anforderungen der Arbeitswelt. Glauben Sie, dieses | |
| Phänomen wird es auch in Deutschland geben? | |
| Nein, glaube ich nicht. Die Arbeitszeitwünsche, also die Frage, wie lange | |
| jemand arbeiten möchte, sind in Deutschland beispielsweise ziemlich | |
| konstant. Die häufig geäußerte Behauptung, die junge Generation wolle | |
| weniger arbeiten, stimmt einfach nicht. Die wollen flexibler arbeiten, | |
| selbstbestimmter, sinnhafter. Aber nicht weniger. Was sich tatsächlich | |
| geändert hat, sind die Ansprüche an die Arbeitsbedingungen. Die Menschen | |
| möchten die Arbeitszeiten dem Leben anpassen, nicht das Leben den | |
| Arbeitszeiten. | |
| Haben die Arbeitgeber hierzulande auf diese neuen Ansprüche bereits | |
| reagiert? | |
| Es gibt immer solche und solche, aber insgesamt hat sich definitiv etwas | |
| getan. Die Coronapandemie hat ein kollektives Erlebnis gebracht, besonders | |
| bei den Themen Flexibilität und Homeoffice. Da wurden Dinge eingeübt, die | |
| nachgewiesenermaßen funktionieren. Das war für alle sichtbar. Und wird | |
| jetzt natürlich auch verlangt. | |
| Ist das in allen Branchen möglich? | |
| Es gibt Branchen, da kommen die Arbeitgeber an Homeoffice gar nicht mehr | |
| vorbei, in der IT zum Beispiel. Für andere Branchen, etwa das Handwerk, | |
| gilt das natürlich weniger. Aber auch da kann man selbstbestimmte | |
| Arbeitsweisen und weniger starre Organisationen umsetzen, wenn man will. | |
| Die Knappheit der Arbeitskräfte hat einfach dazu geführt, dass man höhere | |
| Ansprüche an eine Arbeitsstelle stellt – und diese auch häufiger | |
| durchsetzen kann. | |
| 28 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bundesweite-Solarpflicht/!5877646 | |
| [2] /Arbeitsminister-Heil-zum-Buergergeld/!5878302 | |
| ## AUTOREN | |
| Sascha Lübbe | |
| ## TAGS | |
| Arbeitsmarkt | |
| Fachkräftemangel | |
| Arbeitsplätze | |
| Inflation | |
| Arbeit | |
| Energiekrise | |
| Energiewende | |
| Hubertus Heil | |
| Ausweisung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die These: Junge wollen nicht mehr arbeiten | |
| Mittwochs nur bis 14 Uhr, dann ist Yoga: Boomer-Kinder wollen selten in | |
| Vollzeit und freitags oft gar nicht arbeiten. Schuld sind auch die Eltern. | |
| Inflation hoch, Wirtschaft kriselt: Ganz düstere Aussichten | |
| Große Wirtschaftsforschungsinstitute sehen Deutschland 2023 in der | |
| Rezession. Gleichzeitig ist die Inflation erstmals seit gut 70 Jahren | |
| zweistellig. | |
| Bundesweite Solarpflicht: Alles hängt am Handwerk | |
| Die Solarpflicht wird es nicht bringen. Der Flaschenhals der Energiewende | |
| ist nicht mangelnder Bürgerwille, sondern der Fachkräftemangel im Handwerk. | |
| Arbeitsminister Heil zum Bürgergeld: „Wege aus dem System eröffnen“ | |
| Ab 2023 kommt das neue Bürgergeld. Arbeitsminister Hubertus Heil erklärt, | |
| warum das Modell für ihn eine Abkehr von Hartz IV bedeutet. | |
| Hoteliere protestiert gegen Abschiebung: Kein Kellner – kein Mittagessen | |
| Nachdem ein Mitarbeiter ausgewiesen wurde, sagte eine Hoteliere ein | |
| Mittagessen einer Landtagsdelegation in ihrem Hotel ab. Sie brauche den | |
| Mann. |