# taz.de -- Junge Menschen in der Arbeitswelt: Wir sollten noch weniger arbeite… | |
> Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein | |
> Reihenhaus kaufen – das ist vorbei. Liebe Ältere, zeigt mal mehr | |
> Solidarität. | |
Bild: Die Jugend ist faul, respektlos und hat keine Lust zu arbeiten. Das ist e… | |
Es war vielleicht in der 6. Klasse, da schrieb eine meiner Lehrer:innen an | |
die Tafel: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte | |
Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren | |
Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht | |
mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, | |
schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, | |
legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – „Was glau… | |
ihr, wie alt das Zitat ist?“, fragte die Lehrkraft. Ich erinnere mich | |
daran, wie erstaunt wir waren, dass das Zitat von Sokrates stammt und 2.000 | |
Jahre alt ist. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass wir danach die Beine | |
auf den Tisch gelegt haben. Aber der Unterricht ging ganz normal weiter. | |
Das Zitat von Sokrates geht dieser Tage auch durch die Kommentarspalten der | |
taz, denn vergangene Woche schrieb eine Kollegin an der gleichen Stelle, | |
dass [1][die „Jungen“ nicht mehr arbeiten wollen] und meinte damit vor | |
allem Millennials – also Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren | |
wurden. Sie wollten Freizeit, Freiheit, Homeoffice und dazu noch flexible | |
Arbeitszeiten. | |
Das Echo auf den Text war groß – Wut, Verwunderung und Zuspruch, es war | |
alles dabei. Am Mittwoch gab es auf dem Forum Reddit [2][in vier Subreddits | |
Diskussionsposts zum Thema] mit mehr als 900 Kommentaren. Ich glaube, dass | |
im Sokrates-Zitat der Kern dessen steckt, woran viele schier verzweifeln: | |
Manchen Boomern fehlt der Perspektivwechsel. Die Lebensrealität aus der | |
Jugend der Älteren ist nicht vergleichbar mit der gegenwärtigen | |
Wirklichkeit. Anders gesagt: Das Arbeitsmodell aus dem 20. Jahrhundert | |
passt nicht zum Leben des 21. Jahrhunderts. Trotzdem läuft es seit | |
Jahrzehnten irgendwie gleich mit der 40-Stunden-Woche, aber auf die komme | |
ich später nochmal zurück. | |
Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein | |
Reihenhaus kaufen. Für mich ist das so schwer vorstellbar, ich hämmere es | |
mehrmals in die Tastatur, weil meine Finger „Wohnung“ statt „Reihenhaus“ | |
tippen. Dabei können sich viele Millennials auch keine Wohnung leisten. Der | |
Begriff Millennial an sich ist übrigens nicht unproblematisch, weil ich da | |
als vergleichsweise privilegierte weiße Journalistin genauso drunter falle | |
wie eine schwarze Person, die im strukturell rassistischen Deutschland ganz | |
anderen Herausforderungen gegenübersteht. | |
## Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch? | |
Laut Statistik verdient dieses Konstrukt „Millennial“ zwar mehr als die | |
Menschen in allen Generationen vor ihm – gestiegene Lebenshaltungskosten | |
und die Inflation sorgen aber dafür, dass Millennials durchschnittlich | |
[3][weniger davon haben]. In den USA sind Boomer laut Business Insider | |
[4][zehn Mal so reich] wie die Generation Jahrtausendwende. | |
Viele fragen sich: Warum Überstunden machen für einen Job, der uns nicht | |
mehr geben kann, was unsere Eltern wollten? Zudem wissen wir inzwischen, | |
dass zu viel Lohnarbeit krank macht – laut dem DAK-Gesundheitsreport haben | |
8,6 Millionen Menschen ein [5][erhöhtes Herzinfarkt-Risiko] durch eine | |
psychische Erkrankung oder arbeitsbedingten Stress. | |
Im Jahr 2021 machten Arbeitnehmer:innen laut einer Antwort der | |
Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken etwa [6][1,3 | |
Milliarden Überstunden]. Etwa 700 Millionen davon wurden nicht bezahlt – | |
und Betriebe profitieren davon mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. | |
Besonders profitieren sie von Arbeitnehmer:innen, die befristet angestellt | |
sind. Im Homeoffice sammeln die meisten etwa vier Überstunden pro Woche, im | |
Büro „nur“ 2,7. Auch unter den vielen Überstunden leiden Beschäftigte: So | |
[7][schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin] davon, | |
dass „die Variabilität der Arbeitszeit als ungünstig für die Gesundheit von | |
Beschäftigten zu bewerten“ sei. Und: „Die Arbeit findet dann häufig zu | |
ungünstigen Zeiten statt, worunter auch die soziale Strukturierung des | |
Lebens leiden kann.“ | |
Anders gesagt: Der Kinoabend mit Freund:innen wird verschoben, weil etwas | |
auf der Arbeit nicht ohne Überstunden funktioniert. Viele machen das nicht | |
mehr mit, einige Journalist:innen schreiben schon über [8][„quiet | |
quitting“], einen angeblichen Trend, bei dem die Arbeitnehmer:innen | |
nicht mehr machen, als von ihnen verlangt wird. Für mich klingt allein | |
schon die Bezeichnung nach Arbeitgeber:innen-Perspektive. Warum sollte es | |
denn nicht okay sein, wenn man nicht mehr Aufgaben macht, als bezahlt | |
werden? | |
Ich glaube nicht daran, dass sich unablässig produktiv arbeiten lässt. Das | |
Gehirn braucht Pausen. Und: Arbeit kann Sinn schaffen, für manche Menschen | |
sogar Lebenssinn sein, sie muss es aber nicht. Für viele ist es einfach der | |
Weg, die in den letzten Jahren gestiegenen Lebenskosten zu bezahlen, und | |
dafür macht man nicht alles mit, was Arbeitgeber:innen von einem | |
wollen. Sie arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt. | |
Zumal Fachkräftemangel herrscht und die Verhandlungsposition junger, | |
einigermaßen okay ausgebildeter Menschen so gut ist wie seit Jahren nicht | |
mehr. Hat uns der Kapitalismus nicht gelehrt, dass das Angebot und | |
Nachfrage den Preis bestimmen? Na also: deal with it! | |
Eigentlich sollten wir Millennials aus dieser Position der Stärke sogar | |
viel mehr fordern. Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch? | |
Das Arbeitsmodell hat sich in Deutschland jahrzehntelang nicht verändert. | |
In den 1950ern machte der DGB eine Kampagne zur Einführung der | |
Fünftagewoche in Westdeutschland. Der Slogan: „Samstags gehört Vati mir.“ | |
Patriarchaler geht es kaum, entsprechend kam die 40-Stunden-Woche vor allem | |
für Männer. Frauen arbeiteten natürlich weiter länger: Sie kochten, | |
spielten mit den Kindern, saugten, wischten, organisierten die Freizeit. In | |
Ostdeutschland erledigten die Frauen all das nach ihrer Lohnarbeit. | |
Frauen hielten damals wie heute den Männern den Rücken frei, damit sie sich | |
voll und ganz auf die Lohnarbeit konzentrieren können. Auf dieses Leben | |
haben zum Glück immer weniger Menschen Lust. Die 40-Stunden-Woche muss weg. | |
## Statt zu schimpfen, könnten Ältere sich freuen | |
Seit Mitte Juni 2022 testen in Großbritannien über 70 Firmen mit rund 3.300 | |
Arbeitnehmer:innen die Vier-Tage-Woche bei vollem Gehalt. | |
[9][Inzwischen gibt es erste Ergebnisse,] und die sagen: So zu arbeiten, | |
hat keine negativen Auswirkungen auf die Produktivität, mancherorts ist man | |
sogar noch produktiver. | |
Doch wer Sorgearbeit leistet, dem kann auch eine Vier-Tage-Woche zu viel | |
sein. Die Soziologin Frigga Haug – kein Millennial, sondern Jahrgang 1937 – | |
ging noch weiter in der „[10][Vier-in-einem-Pespektive]“: Bei acht Stunden | |
Schlaf am Tag bleiben 16 wache Stunden, in denen man vier Stunden für | |
Lohnarbeit, vier Stunden für Sorgearbeit, vier Stunden für Müßiggang und | |
Kreativität und vier Stunden für zivilgesellschaftliches und politisches | |
Engagement aufwendet. | |
Ihre Idee besteht bis heute: Beim vergangenen feministischen Kampftag | |
präsentierte die [11][Vier-Stunden-Liga] an der Volksbühne die Vorstellung | |
von vier Stunden Lohnarbeit bei vollem Lohn. Ich war mit einer Freundin | |
dort, die mit den Schultern zuckte, sie wusste schon Bescheid: „Ich war | |
neulich bei einen Vortrag von ihnen“, erzählt sie. Klar! Sie ist gut | |
informiert, setzt sich in ihrer Freizeit in verschiedenen Formen fürs Klima | |
und Geflüchtete ein, rettet Lebensmittel – und hat für all das Zeit, weil | |
sie nicht in Vollzeit arbeitet. | |
„Ich habe von den jungen Kollegen gelernt und bin nicht mehr im 40h-Knast. | |
Je älter ich werde, desto wichtiger erscheint mir Zeit, die will ich nicht | |
auf Arbeit verbringen“, schreibt ein:e Reddit-User:in zum | |
Arbeitszeit-Artikel der Kollegin von vergangener Woche. | |
Genau, das trifft es. Wenn jüngere Leute schon dafür kämpfen, dass die | |
Verhältnisse am Arbeitsplatz besser werden, dann könnte man als ältere | |
Generation doch auch mal dankbar sein oder sich sogar solidarisch zeigen | |
und mitmachen bei der Verschönerung des Lebens. Sokrates ist seit 2000 | |
Jahren tot. Es wird Zeit für was anderes. | |
9 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Die-These/!5883362 | |
[2] https://www.reddit.com/r/de/duplicates/xw1mpe/die_these_junge_wollen_nicht_… | |
[3] https://www.businessinsider.com/millennials-highest-earning-generation-less… | |
[4] https://www.businessinsider.com/millennials-versus-boomers-wealth-gap-2020-… | |
[5] https://www.dak.de/dak/bundesthemen/dak-gesundheitsreport-2022-2548220.html… | |
[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/arbeitsmarkt-ueberstunden-arbeitnehmer-… | |
[7] https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitsgestaltung-im-Betrieb/Gefaehrdungsbeur… | |
[8] https://www.ndr.de/kultur/kulturdebatte/Quiet-Quitting-Was-bedeutet-das-eig… | |
[9] https://www.nytimes.com/2022/09/22/business/four-day-work-week-uk.html | |
[10] https://www.jetzt.de/gender/equal-care-day-wie-sorgearbeit-gerechter-verte… | |
[11] /Treffen-der-4-Stunden-Liga/!5658831 | |
## AUTOREN | |
Nicole Opitz | |
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