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# taz.de -- Philosoph über Arbeitszeitverkürzung: „Viele Berufe werden auss…
> Michael Cholbi forscht zum Arbeitsdogma – und wie wir es überwinden.
> Letzteres hält er nicht nur für erstrebenswert, sondern auch für
> notwendig.
Bild: Das Schöne ist oft unerreichbar – wenn man sich damit zufrieden gibt
taz: Herr Cholbi, macht Sie Ihre Arbeit glücklich?
Michael Cholbi: Na ja, den perfekten Job gibt es wohl nicht. Aber ich habe
schon das Gefühl, dass meine Arbeit mich erfüllt. Als Uni-Professor darf
ich über Dinge nachdenken, die ich für wichtig halte, bin recht frei in
dem, was ich erforsche, und darf ständig dazulernen.
2018 [1][haben Sie geschrieben], dass Arbeit gar nicht wirklich glücklich
machen kann und wir uns unsere Jobs nur schönreden. Machen Sie das jetzt
auch?
Das will ich nicht hoffen, könnte aber schon sein. In unserem
gesellschaftlichen System wird es mir – wie allen anderen auch –
schwergemacht, einfach mit der Arbeit aufzuhören. Insofern könnte es schon
sein, dass Arbeit auch für mich eine adaptive Präferenz ist.
Adaptive Präferenzen sind der Kern Ihrer Forschungsarbeit gewesen. Können
Sie den Begriff erklären?
Adaptive Präferenzen sind Vorlieben, die man hat, weil man in seiner
Autonomie eingeschränkt ist. Zum Beispiel, wenn man keinen Zugang zu
Alternativen hat. Der Philosoph Jon Elster hat den Begriff geprägt. Sein
prägnantestes Beispiel ist die Fabel des griechischen Dichters Äsop vom
Fuchs und den Trauben. In der Geschichte geht es um einen Fuchs, der an
einer Weinrebe vorbeigeht und Lust bekommt, die Weintrauben zu essen. Er
springt hoch und versucht heranzukommen, aber es will und will ihm nicht
gelingen. Schließlich wendet er sich beleidigt ab und sagt: Die Trauben
sind mir eh zu sauer. So wie der Fuchs in der Fabel passen auch Menschen
manchmal ihre Präferenzen an, je nachdem, wie verfügbar etwas ist.
Bestimmte Dinge, die sonst als etwas Positives gesehen werden, sind dann
doch nicht mehr so begehrenswert, einfach weil sie nicht erreichbar sind.
Gibt es dafür auch praktische Beispiele?
Ein gern zitiertes Beispiel sind Frauen, [2][die von ihrem Partner
geschlagen werden] und trotzdem in der Beziehung bleiben möchten. Oft
kommen sie zu dem Schluss, dass sie das Leid verdient haben oder dass es
ihre Aufgabe ist, das Leid zu ertragen. Die Frauen haben ihre Präferenzen
an eine Situation angepasst, aus der sie keinen Ausweg sehen. So ähnlich
ist das auch, wenn wir arbeiten. In unserer Gesellschaft gibt es bestimmte
soziale Zwänge, die es sehr schwermachen, nicht zu arbeiten. Uns bleibt
also keine andere Möglichkeit, als uns mit der Arbeit anzufreunden.
Welche sozialen Zwänge sind das konkret?
In unserer Gesellschaft steht die Arbeit im Mittelpunkt. Ein Menschenleben
wird zu großen Teilen danach bewertet, wie engagiert jemand gearbeitet hat
und wie hochwertig und bedeutsam seine Arbeit war. Wer nicht arbeitet,
[3][wird häufig nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft
betrachtet]. Ganz abgesehen davon, dass man finanziell stark eingeschränkt
ist. Wie wichtig Arbeit in unserer Gesellschaft ist, merke ich als
Uni-Professor auch an den jungen Leuten. Oft können die sich gar kein Leben
ohne Arbeit vorstellen. Sie können sich keine Gesellschaft vorstellen, in
der Arbeit nur einen marginalen Teil des sozialen Lebens darstellt.
Wir leben [4][in einer Zeit des Fachkräftemangels]. Ist es nicht eine gute
Sache, wenn wir Arbeit als etwas Schönes sehen?
Theoretisch schon. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Arbeit. Als Philosoph
denke ich aber, dass wir Dinge aus den richtigen Gründen als schön und
wertvoll empfinden sollten.
In Ihrem Artikel von 2018 klang es so, als könnten wir schon in wenigen
Jahren alle arbeitslos sein. Haben Sie Ihre Meinung geändert?
Ich hatte damals noch andere Erwartungen an die Zukunft. Ich dachte, dieser
Prozess, dass Menschen von Robotern und Künstlicher Intelligenz ersetzt
werden, würde viel schneller gehen. Wenn dann viele Menschen ihre Arbeit
plötzlich verlieren, gleichzeitig aber ihre Identität und ihr Gefühl von
sozialer Integrität ganz stark auf der Arbeit fußt, könnte eine solche
Entwicklung eine kollektive Sinnkrise auslösen. Mittlerweile habe ich meine
Meinung dazu geändert, wie schnell das passiert. Der Wechsel hin zur
Automatisierung wird viel langsamer gehen.
Was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?
Ganz maßgeblich die Pandemie. [5][Gerade Berufe in der Pflege] oder Bildung
werden in unserer Gesellschaft immer wichtiger und werden sich auch
langfristig nicht so schnell durch Künstliche Intelligenz und
Automatisierung ersetzen lassen. Hinzu kommt, dass unsere alternde
Gesellschaft immer weniger arbeiten kann und gleichzeitig immer
pflegebedürftiger wird. Das alles sorgt dafür, dass Menschen im Moment
trotz Technologisierung und Automatisierung weiterhin Arbeit finden.
Das heißt, wir müssen unsere Einstellung zur Arbeit gar nicht ändern?
Doch, [6][denn die Automatisierung schreitet weiter voran]. Langfristig
werden viele Berufe aussterben.
Und das wird uns alle in eine Sinnkrise stürzen?
Das ist zumindest gut möglich. Die Politik ist verpflichtet, an dieser
Stelle eine sanfte Landung zu ermöglichen. Wir müssen weg von der
arbeitszentrierten Gesellschaft, hin zu einer Gesellschaft, in der andere
Dinge im Mittelpunkt stehen.
Was zum Beispiel?
Man muss Menschen ermöglichen, Dinge außerhalb ihrer Arbeit zu finden, für
die sie Leidenschaft entwickeln können. Das kann Kunst oder Kultur sein,
aber auch soziales oder politisches Engagement. Ich denke, dass
insbesondere die Bildung viel bewirken könnte. Schulische Bildung darf sich
nicht mehr nur darum drehen, irgendwann einen Job zu finden, sondern muss
auch dabei helfen, sich auf andere Weise selbstwirksam zu fühlen, zum
Beispiel, indem man ein engagiertes Mitglied der eigenen Community wird.
Zufriedenheit auch über andere Wege als den Job zu erlangen, kann man
lernen. Die Politik kann das ermöglichen, indem sie den Bürger:innen
erstens eine [7][finanzielle Grundsicherung] ermöglicht und ihnen zweitens
Zeit verschafft, andere Leidenschaften zu finden. Das ist eine Entwicklung,
die auch aus der Bevölkerung heraus entstehen kann. Das passiert jetzt
bereits.
Wie das?
In der Pandemie [8][haben viele Menschen angefangen zu hinterfragen], wie
groß die Rolle sein soll, die Arbeit in ihrem Leben einnehmen darf. Nach
[9][der Umstellung auf Homeoffice] wehren sich aktuell viele Menschen
dagegen, wieder ins Büro zu gehen. In Großbritannien testen viele
Unternehmen die 4-Tage-Woche. Immer mehr Menschen fordern bei ihren
Arbeitgeber:innen Rechte ein. Das ist eine Art kultureller Pushback
gegen die arbeitszentrierte Gesellschaft.
Und am Ende dieser Entwicklung ist Arbeit für uns alle nur noch Nebensache?
Vielleicht. Das kann ja individuell unterschiedlich sein. Langfristig geht
es gar nicht darum, Arbeit abzuschaffen, sondern dafür zu sorgen, dass sie
nicht so stark im Lebensmittelpunkt steht. Wir sollten unterschiedliche
Beziehungen zur Arbeit ermöglichen, die nebeneinander existieren dürfen.
Wer zufrieden ist, indem er oder sie tagtäglich am Strand entlangspaziert
und Muscheln sammelt, soll genau die gleiche gesellschaftliche Akzeptanz
erfahren wie Workaholics.
26 Feb 2023
## LINKS
[1] https://www.researchgate.net/publication/326378772_The_Desire_For_Work_As_A…
[2] /Haeusliche-Gewalt-in-Deutschland/!5356380
[3] /Soziologe-Hans-Albert-Wulf-zum-Nichtstun/!5362228
[4] /Fehlende-Arbeitskraefte/!5911229
[5] /Gutachten-Sachverstaendigenrat-Migration/!5853245
[6] /Entlassungen-bei-Otto-Versandhaus/!5765038
[7] /Pilotprojekt-in-Irland/!5905808
[8] /Weniger-arbeiten-dank-Corona/!5715980
[9] /Arbeiten-in-der-Pandemie/!5782193
## AUTOREN
Alexandra Hilpert
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