# taz.de -- Soziologe Hans-Albert Wulf zum Nichtstun: „Wer faul ist, muss bes… | |
> Müßiggänger gesellschaftlich zu ächten, hat eine lange Tradition. Der | |
> Mensch soll Abscheu vor staatlicher Hilfe entwickeln. Heute mehr denn je. | |
Bild: Sieht so etwa ein Powernap aus? Einfach auf der faulen Haut liegen geht i… | |
taz: Herr Wulf, neue Strafmaßnahmen gegen ALG-II-EmpfängerInnen stehen | |
immer wieder zur Debatte: Erzwingungshaft, Bußgelder, Sanktionen. Sind die | |
widerspenstigen Arbeitslosen die Faulen unserer Zeit? | |
Hans-Albert Wulf: Ja, zumindest nach dem Verständnis derer, die sie | |
maßregeln. 2001 hat Gerhard Schröder sein berühmtes Interview gegeben: „Es | |
gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ Das war einige Jahre | |
vor der Agenda 2010 und der Einführung von Hartz IV. Seither haben diese | |
negativen Bilder vom Faulen und Faulenzer einen festen Platz in der | |
Gesellschaft. | |
Wir kennen die faulen Arbeitslosen aus dem Fernsehen, wo sie dick und dumm | |
auf der Couch fläzen, oder aus der Bild-Zeitung, in der „Florida-Rolf“ oder | |
„Karibik-Klaus“ zum Inventar gehören. Wozu diese Bilder? | |
Sie dienen der Abschreckung. Aber die Botschaft geht weniger an die | |
Hartz-IV-Empfänger als an jene, die arbeiten. Im 16. Jahrhundert waren | |
Teufelsbücher sehr populär, in ihnen gab es Faulteufel. Und der war der | |
Mensch selbst. Vom Faulteufel zu „Florida-Rolf“ gibt es eine direkte Linie. | |
Er ist eine Warnung. So ähnlich wie das neue Arbeitslosengeld. | |
Wegen der vielen Strafmaßnahmen? | |
Es geht immer auch um Demütigung. Wer faul ist, der muss eben bestraft | |
werden. Verblüffend ist die historische Kontinuität. In meinem Buch zitiere | |
ich eine Vorschrift von 1772: „Die Notdürftigen, die der Staat unterhält, | |
müssen ein schlechteres und beschwerlicheres Leben führen als der große | |
Tagelöhner-Haufen, der, der nicht bedürftig ist. Denn sonst würde sich | |
niemand scheuen, bald oder spät dem Staat zur Last zu fallen.“ Der | |
notleidende Mensch soll Abscheu vor staatlicher Hilfe entwickeln. Das ist | |
sehr aktuell. | |
Welche historischen Vorbilder hat der Faule? | |
Schon Mönche kritisierten vor eineinhalb Jahrtausenden jene, die zu faul | |
zum Beten waren. Aber der Faule etablierte sich erst in der Neuzeit. Im 16. | |
Jahrhundert verloren die Menschen in den ökonomischen Umbrüchen ihre | |
Arbeit. Bettler wurden zum Massenphänomen. Da entstand der Faule als Typ. | |
Im 19. Jahrhundert waren es dann die Vagabunden, für sie gab es im | |
Bürgerlichen Gesetzbuch den Begriff der Arbeitsscheuen. Damals wurde ganz | |
strikt zwischen ortsansässigen und zugereisten Bettlern unterschieden. | |
Gegen die Zugewanderten ging man brutaler vor: Sie wurden gebrandmarkt, | |
außer Landes geschafft und sogar hingerichtet. | |
Das erinnert an die Regeln für Asylbewerber. Sie dürfen nicht arbeiten, | |
aber gleichzeitig heißt es oft, sie lägen dem Staat auf der Tasche. | |
Das ist dasselbe System. Ich würde sagen, dass Faulheit als Sammelbegriff | |
für Missliebige, meist aus der Unterschicht, dient. Es ist ein zweckmäßiger | |
Begriff, der Menschen aussondert und es erlaubt, auf sie herabzuschauen. | |
Gab es auch Kulturen, in denen das Nichtstun als Ideal galt? | |
Ja, in der Antike zum Beispiel. Reziprok zur heutigen Abscheu vor den | |
Müßiggängern haben die alten Griechen auf jene herabgeschaut, die | |
gearbeitet haben. Die Handwerker und Arbeiter bezeichneten sie als | |
Banausen, und die negative Konnotation hat sich erhalten. | |
Auch heute ist Faulheit eine Sache des sozialen Status, der Unterschicht | |
nämlich. Ist dieser Zusammenhang durch das restriktive Sozialsystem Agenda | |
2010 vor elf Jahren stärker geworden? | |
Die Agenda 2010 hat ja keinen realen Nutzen gehabt, sie hat keine | |
Arbeitsplätze geschaffen. Aber sie hat Regeln eingeführt, Arbeitseinsätze, | |
die demütigen und abschrecken. Früher sollten auch Bettler gefälligst | |
wenigstens so tun, als würden sie arbeiten. Die Arbeiten für 1-Euro-Jobber | |
sind produktiver Unsinn. Aber sie zwingen sie zurück ins Hamsterrad. Und | |
das Sadistische an diesen Maßnahmen ist ja, dass suggeriert wird, man sei | |
selbst schuld, wenn man keinen Job bekommt. Auch die Einrichtung von | |
Arbeitshäusern erfolgte einst mit dem Argument, Menschen durch Zwang die | |
Lust an der Arbeit zu vermitteln – darum hießen sie auch Korrigenden. Das | |
funktioniert natürlich nicht. Ab dem 17. Jahrhundert gab es dann | |
Wasserkeller, in die fortwährend Wasser eingeleitet wurde. Wer dort | |
eingesperrt war, musste mit einer Pumpe gegen das Ertrinken arbeiten. | |
Das wäre heute unmöglich. | |
Früher war das Vorgehen brutaler. Aber es gibt interessante Parallelen. Vor | |
ein paar Jahren hat im Landesarbeitsamt Brandenburg jemand die Idee gehabt, | |
Arbeitslose mit Schrittmessern auszustatten. Wer am meisten gegangen ist, | |
sollte eine Prämie bekommen. Wahnsinn! | |
Viel Zwang braucht es heute gar nicht mehr, Arbeit ist für uns Selbstzweck | |
und Arbeitslosigkeit beschämend, oder? | |
Die Verinnerlichung dieses Systems Arbeit ist sehr vorangeschritten. | |
Während der Industrialisierung hat es in England Weckkommandos gegeben, die | |
mit Eisenstangen an die Fenster schlugen, damit die Leute rechtzeitig zur | |
Arbeit kommen. Im 18. Jahrhundert wurden Wecker eingeführt – als eine Art | |
Prothese des Selbstzwangs. Der Soziologe Norbert Elias hat diesen Weg vom | |
Fremd- zum Selbstzwang sehr schön beschrieben. Und heute ist das noch | |
perfider: Wir sind dazu angehalten, uns zu disziplinieren, um unser Ich als | |
Marke zu verkaufen. | |
Und an dieser Arbeitsmoral, heißt es, ist der Protestantismus schuld? | |
Das sehe ich nicht so. Ich habe etwa 300 katholische und protestantische | |
Predigten untersucht, und die sind sich einig: Faulheit ist | |
Gotteslästerung, und Arbeit ist das von Gott auferlegte Los. Ein Bild | |
wiederholt sich immer wieder: Engel, die die Schweißtropfen der Arbeiter | |
einsammeln und zu Gott bringen, der dann entscheidet, wer in den Himmel und | |
wer in die Hölle kommt. Zuerst war es eben die Kirche, die die Leute | |
arbeitsam gemacht hat, dann die Obrigkeit mit ihren Strafen und seit dem | |
19. Jahrhundert der Industriekapitalismus. Wozu braucht es noch pastorale | |
Tiraden, wenn ich ein Fließband vor mir habe? | |
Zuletzt sind viele Bücher erschienen, die sich positiv auf das Nichtstun | |
beziehen. Ein neuer Trend? | |
Es gibt neue Publikationen wie „Lob der Faulheit“ oder „Kunst des | |
Müßiggangs“. Meine Sache ist das aber nicht. Was bringt es, sich privat in | |
die Ecke zu setzen? Ich würde Lafargue folgen: Die einzige Möglichkeit ist | |
die rigorose Kürzung der Arbeitszeit. Nach seinen Berechnungen waren das | |
drei Stunden am Tag. | |
Das wäre heute noch viel realistischer. Vielleicht kommt das Interesse | |
daher? | |
Sicher steckt dahinter auch eine Trotzreaktion auf die Arbeitsgesellschaft | |
und ihre Beschleunigung. Heute behaupten viele ganz kokett, es sei toll, so | |
gehetzt zu sein. Und gleichzeitig gibt es eben auch Leute, die 16 Stunden | |
am Tag arbeiten und auch noch joggen gehen. Mittlerweile gibt es dafür | |
einen Namen, eine Diagnose: Workaholics. Als ich mit der Recherche begann, | |
gab es keinen Begriff dafür. Damals hat in Hessen ein Arzt einen Fragebogen | |
entwickelt. Die erste Frage war: „Arbeiten Sie gelegentlich heimlich?“ | |
Und, arbeiten Sie heimlich? | |
Ich kann schon auch faul sein – wenn ich dabei arbeiten darf. So absurd es | |
klingt, Faulheit muss erst wieder erlernt werden. Über die Arbeit an meinem | |
Faulheitsbuch bin ich geradezu arbeitssüchtig geworden. Meiner Freundin | |
habe ich dann erzählt, ich sei Skat spielen, obwohl ich geschrieben habe. | |
Liegt das Problem nicht eher in der ungleichen Verteilung von Reichtum | |
durch Arbeit? | |
Sicher macht es mehr Spaß, reich zu sein, wenn es Arme gibt. Das eine | |
bedingt das andere, und letztlich profitieren nur wenige davon, wie Arbeit | |
heute organisiert ist. Der Unternehmer Friedrich Flick soll sich | |
gelegentlich aus Spaß auf eine Parkbank gesetzt haben, um mit Verelendeten | |
über die Herrschenden zu lästern. Dabei aß er ein Butterbrot. Danach fuhr | |
dann sein Mercedes 600 vor. Beinah sadistisch. | |
Damit wären wir wieder bei den Arbeitslosen, die wir uns im Fernsehen | |
ansehen … | |
Stimmt. Das ist sehr ähnlich. | |
25 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
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