Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Berliner Schlendrian: Ich würde lieber nicht
> Das Haus Bartleby wirbt dafür, den Job hinzuschmeißen. Nun der Sprung ins
> Große und Ganze – mit dem Buch „Das Kapitalismustribunal“.
Bild: Es geht um Karriereverweigerung. Also auch um die Frage, was gute Arbeit …
Es gab eine Zeit, da galt Berlin als Zentrum für all jene, die von sich
sagten, sie seien nicht karriereinteressiert. Das Leben war billig, Jobs
gab es so gut wie keine, man schlug sich durch, immer wieder gab es
Initiativen wie die Glücklichen Arbeitslosen, die gewagte Behauptungen
aufstellten: zum Beispiel jene, dass auch die arbeiten, die spazieren gehen
und dabei auf neue Gedanken kommen.
Die Zeiten haben sich geändert, seit der Einführung von Hartz IV im Jahr
2005 ist es auch in Berlin schwieriger geworden, gleichzeitig glücklich und
arbeitslos zu sein, und die steigenden Mieten zwingen selbst noch die
konsequentesten Querköpfe, sich in schnöden Brotjobs aufzureiben.
Umso interessanter ist, wie eine Initiative mit dem schönen Namen Haus
Bartleby dabei bleibt: Bartleby, aber das nur am Rande, ist eine Figur in
einer Kurzgeschichte von Hermann Melville, die die Absurditäten des
Arbeitslebens schon Mitte des 19. Jahrhunderts bloßstellte, indem er
einfach sagte: „I would prefer not to“.
So oder so: Auch heute noch behauptet das Haus Bartleby, es gäbe selbst in
dieser sich selbst optimierenden Hauptstadt nichts Besseres, als den Job
hinzuschmeißen und erst einmal wieder den Kopf freizubekommen. 2014 kam das
Buch der Journalistin und Haus-Bartleby-Gründerin Alix Faßmann („Arbeit ist
nicht unser Leben“) raus, in dem sie den Ausstieg aus ihrer Karriere
beschreibt – sie arbeitete beim Berliner Kurier, dann in der Parteizentrale
der SPD, wo sie nichts von dem bewirken konnte, was ihr beim
Vorstellungsgespräch versprochen worden war.
## Sag alles ab
Im Streikjahr 2015 dann die Anthologie „Sag alles ab“ vom Haus Bartleby:
Unter dem Titel des gleichnamigen Liedes von Tocotronic meldeten sich
Autoren wie der Hartz-IV-Möbel-Architekt Van Bo Le Menzel oder die
FAZ-Journalistin Antonia Baum und schrieben über den Leistungsdruck an den
Schulen oder ihr Schlafbedürfnis.
Das Buch wirkte auf viele wie ein Anker in einer Zeit, da sich die Arbeit
stärker verändert denn je – immer weniger Normalarbeitsverhältnisse, immer
mehr prekäre Jobs. „Damals wurde klar, welche unfassbaren Verwerfungen
diese Entwicklung noch nach sich ziehen wird“, sagt Dramaturg Anselm Lenz
vom Haus Bartleby.
Daher die logische Konsequenz: Heute, knapp zwei Jahre später nach ihrem
viel beachteten Aufschlag, blickt das Haus Bartleby auf ein umfängliches
Kunstprojekt zurück, für das sich mittels ihrer Entscheidung, aus dem
Hamsterrad aus Selbstverwirklichungswahn und Ausbeutung auszusteigen,
freischwimmen konnten, als hätten sie den Sprung ins weite Blau der
Abstraktion nur so hätten schaffen können.
Das Kapitalismustribunal ist eine Art fingierter Schauprozess zur Erregung
der Weltöffentlichkeit, eine Mischung aus Theaterstück, Kunstaktion und
Gerichtsprozess. Verhandelt werden die mutmaßlichen Verbrechen des
europäischen Kapitalismus. Bereits 2015 forderte das Haus Bartleby über
eine Webpage die Allgemeinheit auf, Anklage zu erheben, woraufhin 500
Klagen von prominenten, aber auch unbekannten Interessierten eingingen –
dabei ging es ums große Ganze.
Es waren Beschwerden über die Profitgier bestimmter Arbeitgeber dabei wie
übers Jobcenter, Kritik an sexistischer Werbung und an
Menschenrechtsverletzungen der Tabakindustrie. Nach Vorverhandlungen in
Berlin kam es während einer Gerichtswoche im Mai in Wien zur Verhandlung –
inklusive Richterteam, Team der Anklage und Verteidigerteam.
## Zur Lage Europas
Heute stellt das Haus Bartleby im Roten Salon der Volksbühne den
Begleitband zum Kapitalismustribunal vor: Schriftsteller, Philosophen,
Juristen und Wirtschaftswissenschaftler äußern sich zur Lage der Nation und
Europas. So denkt beispielsweise der Ökonom Graeme Maxton von der
Denkfabrik Club of Rome über die Einführung einer Pigou-Steuer nach, durch
die Unternehmer für die Konsequenzen ihres Tuns wie etwa die
Umweltverschmutzung zahlen würden.
Oder die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey von der Uni Bielefeld: Sie
setzt sich in ihrem Text für eine Reaktivierung des eingreifenden Denkens
ein, wie es Brecht vorschwebte – für die Idee also, dass selbst die
abstraktesten Ideen Folgen haben. Und seien sie so abstrakt wie die des
Kapitalismustribunals.
„Das Kapitalismustribunal“ ist ein sehr ernstes, ein schwieriges Buch
geworden. Es ist aber auch ein Buch, das alle Kritik am Haus Bartleby, wie
sie seit seiner Gründung immer wieder aufploppte, zunichtemacht. Alix
Faßmann und Anselm Lenz, Journalist und Sprecher Jörg Petzold und
Theatermacher Hendrik Sodenkamp, Eva-Maria Bertschy und Magdalena Gromada
sitzen um einen Tisch im Café Rix in Neukölln, und sie lassen keinen
Zweifel zu, wie ernst es ihnen ist. „Es gibt keine Alternativlosigkeit“,
sagen sie.
Noch vor zwei Jahren erinnerten sie mit ihrer Selbstinszenierung gern an
eine Zeit, als Müßiggang Distinktionsmerkmal war, als das Bürgertum noch
viel Zeit hatte, in Salons tagelang Gespräche zu führen, Tee zu trinken und
sich die Hände nicht unnötig schmutzig zu machen. Nun sprechen Faßmann,
Lenz, Petzold und Sodenkamp davon, wie viel Mühe es sie kostete, aus den
pflichtbewussten, arbeitsamen Welten auszubrechen, in denen sie
aufgewachsen sind: Alix Faßmann ist Arbeiterkind, Anselm Lenz in einem
Sozialbau groß geworden.
## Gelassen bleiben
Während seine Kommilitonen oft stöhnten, wenn das neue Semester begann,
freute er sich, nicht mehr in der Metallfabrik arbeiten zu müssen, und war
voller Ehrfurcht, an solch einem Ort lernen zu dürfen.
Sie alle haben für ihr Haus Bartleby Schulden gemacht. Es ist für sie eine
tägliche Herausforderung, trotz desaströsem Kontostand gelassen zu bleiben.
„Man darf sich nicht einkesseln lassen“, so Alix Faßmann.
Die Ruhe bewahren, ein freier Geist zu bleiben, auch wenn mal wieder die
Miete nicht überwiesen ist: ein hehres Projekt. Dafür wird man auch in
Zukunft Richtung Haus Bartleby schielen dürfen.
12 Jan 2017
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Prekäre Arbeit
Kapitalismuskritik
Faulheit
Kapitalismus
Prekäre Arbeit
Sozialhilfe
Prekäre Arbeit
Revolution
## ARTIKEL ZUM THEMA
Crowdworking als Zukunft der Arbeit: Ackern für 3 Euro die Stunde
Arbeit online erledigen und damit Geld verdienen – davon können nur wenige
leben. Soziale Absicherung und Mindestlohn sind nicht drin.
Buch über die globale Arbeitswelt: Moderne Tagelöhner
Billigjobber in den USA, Angst bei Amazon, Selbstmorde bei France Télécom:
Caspar Dohmen schreibt über die Folgen der „Profitgier ohne Grenzen“.
Sozialhilfe für EU-Bürger: Wer nicht arbeitet, soll gehen
Ein neues Gesetz schließt EU-Bürger auf Jobsuche von Sozialleistungen aus.
Die zuvor geltende Rechtsprechung wurde von Richtern boykottiert.
Soziologe Hans-Albert Wulf zum Nichtstun: „Wer faul ist, muss bestraft werden…
Müßiggänger gesellschaftlich zu ächten, hat eine lange Tradition. Der
Mensch soll Abscheu vor staatlicher Hilfe entwickeln. Heute mehr denn je.
Essay zum Linksliberalismus in Europa: Revolution. So friedlich wie möglich
In zwei Jahrzehnten hat der Neoliberalismus den Sozialstaat abgebaut,
geholfen haben dabei Linksliberale. Revolution ist aber noch möglich.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.