Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay zum Linksliberalismus in Europa: Revolution. So friedlich wie…
> In zwei Jahrzehnten hat der Neoliberalismus den Sozialstaat abgebaut,
> geholfen haben dabei Linksliberale. Revolution ist aber noch möglich.
Bild: Linksliberal revolutionäre Faust
Ein bisschen deppert schaut er zuweilen drein, der „postmoderne
Intellektuelle“ von heute. Die Intelligenz Europas und die neoliberale
Ideologie sind eine verheerende Mesalliance eingegangen. Ohne es sich
bewusst zu machen, haben Linksliberale (hey, das sind ja wir – ja, Sie sind
gemeint) das Ende der Demokratie mit postmoderner Weltverleugnung
protegiert. Wir sollten uns entscheiden: Entweder machen Sie sich zunehmend
prekarisiert, aber weiterhin wellnessorientiert zur Mittäterin; oder Sie
schauen den Verbrechen des Neoliberalismus ins Antlitz und freunden sich
mit dem Gedanken an eine seriös formulierte Revolution an.
Die Erzählung der neoliberalen Epoche war, dass durch die
„Herausforderungen der Globalisierung“ ein ökonomischer Zustand eingetreten
sei, der die Entfachung gesellschaftlicher Zuspitzung erfordere. Ein „Ruck“
müsse „durch Deutschland gehen“, um den behaupteten „Reformstau“ zu
überwinden und im „Wettbewerb der Nationen“ siegreich zu sein. Die
„Staatsverschuldung“ sei horrend, deswegen müssten die Steuern für die
Reichen gesenkt, Staatsbetriebe privatisiert und der Sozialstaat
geschrumpft werden.
Für die Selbstverwirklichung dieser Ideologie seien die Besitzlosen nun zu
schröpfen, also alle abhängig Beschäftigten, insbesondere die jüngere
Generation Europas. Ebenjene Kohorten, die aufgrund ihrer demografischen
Minderheitenposition bei Wahlen weniger gefährlich sind (heute alle unter
40). Großeigentümer und Erben aller Altersklassen trügen indes die
„unternehmerische Verantwortung“. Damit sie diese freudvoller ausüben
würden, müsse ein Prozess ablaufen, der allen Ernstes
„Hinunterrieseleffekt“ genannt wurde (Trickle-down-Effekt).
Die Behauptung dabei war, dass die Investitionsneigung der Reichen steige,
je mehr Geld, Land und Macht sie zu ihrer Verfügung dazubekämen. Zu ihrem
Wohl wurden Löhne und Absicherung der abhängig Beschäftigten abgeschmolzen,
immer mit der Behauptung, später würde alles dann schon irgendwie wieder
aufgefüllt. Aus weniger würde mehr, aus dem Wegnehmen würde Wohlstand. Wer
diese Absurdität anzweifelte, hatte „von Wirtschaft keine Ahnung“.
Zusammengefasst: Unterwerft euch den Fürsten! Zahlt kräftig Miete! Und
vergesst dabei jede Differenz zwischen Betriebswirtschaft und
Nationalökonomie!
## Die Kodirektive der Kapitalisten
Derart erbärmlicher Sophismus vertrug sich spitze mit einem magischen
Denken im linksliberalen Mainstream in Akademien und Medienbetrieben, der
sich in den zumeist unverstandenen Spielarten poppiger postmoderner
Theorien verfing. Ganz im Sinne der höheren Sache der Neoliberalen sollten
europäische Arbeiterinnen und Angestellte besser nicht mehr ihre eigenen
Interessen vertreten.
Denn hinter Fragen nach Verteilung, Eigentum, Betriebsrat und echter
Demokratie stünde doch letztlich nur die heimliche Sehnsucht nach Hitler,
zumindest aber ein ins Ökonomische verlängerter Rassismus – uns gehe es
„doch noch so gut“. Wer ein friedliches, emanzipatorisches Europa nicht
verhindern wolle, der müsse nun einmal zu Hause das Maul halten und die
Sparmaßnahmen am eigenen Leib erdulden. Die anderen Leute wollen in der
weltweiten Konkurrenz der Standorte halt auch mal in den Genuss der
Segnungen einer heiligen Investition gelangen.
In die Bilanz dieser finsteren Dekaden fällt nicht nur der erste deutsche
Angriffskrieg seit 1945 mit dem Bombardement der Stadt Belgrad, den
ausgerechnet ein bündnisgrüner Außenminister mit der Schoah rechtfertigte.
Diese Jahre markiert ebenso die Verwandlung unserer Universitäten in ein
gebührenpflichtiges Collegesystem, das die Freiheit von Forschung und Lehre
unter Drittmittelzwang stellte. Und somit unter die Kodirektive der
Kapitalisten und ihrer Erben.
Mit der Pisa-Studie wurde eine volkstümliche Hetze gegen Studenten,
Schüler, Lehrer und Professorinnen in Marsch gesetzt. Wo das Wissen der
Welt versammelt und weitergegeben werden sollte, wurde nun alles nach der
Tauglichkeit für „den Arbeitsmarkt“ gewendet.
## Alle sozialen Dämme sind gebrochen
Die heutige Burn-out-Gesellschaft ist demgemäß kein unerwünschter
Nebeneffekt. Wer im ständig gefährdeten „Job“ ausbrennt, hat ein Problem
mit sich und soll erst mal wieder klarkommen, selbstverständlich ohne die
Abläufe im „optimierten“ Betrieb zu stören – die Offenbarung des
„Jobwunders“.
Mit dem Wegfall einer der beiden alternativen Rechtsordnungen – hier der
Privatkapitalismus im Eigentum einiger deutscher Familien vornehmlich aus
der sogenannten Gründerzeit, dort der Staatskapitalismus der Sowjetunion,
in dem zumindest der Denkungsart nach die Wirtschaft den Menschen gehörte –
sind alle sozialen Dämme gebrochen. Erst langsam, fast zaghaft. Dann immer
schneller und nun manisch krisenbehaftet. Wer um das Jahr 1980 geboren
wurde, hat nie etwas anderes erlebt als diesen zähen neoliberalen
Verfallsprozess.
Das Mehr an ökonomischer Demokratie, das europäische Sozialdemokratinnen in
mühevoller Kleinarbeit im Fahrwasser der Sowjetunion wagen konnten, wurde
binnen zweier Jahrzehnte einfach einkassiert. In der linksliberalen
Wohlfühlzone herrscht indes Ratlosigkeit. Will man weiterhin den
Reparaturbetrieb des Kapitalismus gegen die aufkeimende Rechte spielen?
Oder orientiert man sich an Substanziellerem?
Aber links ist ja gar nichts – alle Strukturen, die einen Angriff auf die
bestehenden Machtverhältnisse bereitstellen könnten, wurden postmodern
weggekuschelt: „Keine Gewalt! Kein Eurozentrismus! Kein Materialismus!“ Man
faselte von „Transformation“ und „Share Economy“. Mit dem liebenswerten
Traum, das bunte Leben schon mal vorzumachen, die Mächtigen würden dann
später aufgeben, wurde dem galoppierenden Neoliberalismus kampflos das Feld
überlassen. Der weiterhin lieber den Teufel tut, als freiwillig aufzugeben.
## „Die Leute wählen halt plemplem“
Die Selbstverleugnung der Intelligenz zeigt sich nicht minder beim
sogenannten Klimawandel. Die menschengemachte Zerstörung der
Lebensgrundlage auf dem Planeten wurde so lange als Weltuntergangsfantasie
abgetan, bis dieser Prozess unumkehrbar wurde.
Die Hybris der Unterlassung ernsthafter Anerkennung gesicherter Erkenntnis
durch politisches und gesellschaftliches Handeln hatte man bis vor Kurzem
immerhin auf einen Mehrheitswillen zurückgeführt. „Die Leute wählen halt
plemplem, wenn du daran etwas ändern willst, gliedere dich in eine der drei
bis sechs Parteien ein und versuche, die Mehrheit für deinen Kram an die
Urne zu bringen!“
Mit der erzwungenen „Einigung“ der gewählten griechischen Regierung auf die
Austeritätsideologie der Troika vom 15. Juli 2015 hat der europäische
Kapitalismus nun die Demokratie beseitigt. Mehrheitsentscheidungen gelten
nichts mehr. Willkommen in der Oligarchie. Die Herrschaft der wenigen über
die vielen ist damit zweifelsfrei manifestiert.
Während sich die Intelligenz Europas weitgehend in biedermeierlichen
Rückzugsgefechten verliert – selbstverständlich moralisch integer und
keinesfalls mitschuldig –, hat uns die neoliberale Realpolitik den Boden
unter den Füßen weggezogen.
## Warum weiter mitmachen?
Dazu passt, dass wir unter Einsatz unseres Arbeitslebens Schulden abzahlen
sollen, die wir nicht gemacht haben, die Folgen von militärischen
Operationen tragen, denen wir nicht zugestimmt haben, und die Kids auf die
ökologische Katastrophe vorbereiten dürfen. Wir arbeiten zu halbierten
Konditionen und sollen nach Ablauf der abhängigen Beschäftigung supertolle
„Chancen nutzen“. Der Statthalter des Eigentümers mag Bewerberinnen, die
gut riechen und „manchmal zu ehrgeizig“ sind.
Welchen Anlass sollten wir noch haben, bei dem fortgesetzten Schlamassel
mitzumachen? Gegenüber der jahrzehntelangen Diskrepanz zwischen
Erfolgsmeldungen („Exportweltmeister!“) und dem sichtbaren Pauperisieren
der jüngeren Menschen in Europa scheint ein Ende mit Schrecken besser als
ein Schrecken ohne Ende. Im griechischen Drama führt anhaltende Aporie (das
heißt Alternativlosigkeit) zwangsläufig in die Stasis (Bürgerkrieg).
Wenn der postmoderne Nebel sich verzieht, werden die Dinge wieder sichtbar.
Eine abrupte und tiefgreifende Umstellung der Eigentums-, Produktions- und
Investitionsordnung durch unmittelbar demokratische Maßnahmen hat nicht nur
in Griechenland völlig zu Recht Konjunktur. Wischen Sie sich die Tränen von
der Wange und gewöhnen Sie sich an den Gedanken, eine neue,
geschmackvollere, gerechtere Grundlagensystematik bottom-up und so
friedlich wie möglich durchzusetzen. Das heißt dann Revolution.
2 Aug 2015
## AUTOREN
Anselm Lenz
## TAGS
Revolution
Neoliberalismus
Sozialstaat
Prekäre Arbeit
Schwerpunkt Klimawandel
Politikverdrossenheit
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
Chile
## ARTIKEL ZUM THEMA
Berliner Schlendrian: Ich würde lieber nicht
Das Haus Bartleby wirbt dafür, den Job hinzuschmeißen. Nun der Sprung ins
Große und Ganze – mit dem Buch „Das Kapitalismustribunal“.
Effekte des Klimawandels in Deutschland: Nicht rauchen und Biermangel
2015 könnte weltweit das nächste Rekordjahr in Sachen Hitze werden. Eine
Studie zeigt, was Deutschland künftig bevorsteht. Der Hopfen scheint
verloren.
Debatte Ökonomie und Entpolitisierung: Im Feld der Postpolitik
Politik findet nur noch als Stylefrage und Soap-Opera statt. Das
Verschwinden der Politik aus den öffentlichen Diskursen aber macht alles
politisch.
Migrationsforscher über Kollaboration: „Es geht um die Zwischenräume“
Kein Protest und überall Kollaborateure? Der Publizist Mark Terkessidis
entwirft eine positive Philosophie der Zusammenarbeit.
Roman „Bonsai“ von Alejandro Zambra: Liebe in Zeiten des Übergangs
Der chilenische Autor resümiert eine Liebesgeschichte zweier
Literaturstudenten in der Nach-Pinochet-Zeit. Sie endet tragisch.
Kapitalismuskritik und Konsum: „Die Hauptlast liegt beim Norden“
Der Globalisierungskritiker Walden Bello über mangelndes
zivilgesellschaftliches Engagement beim G-7-Gipfel, Postwachstum und
soziale Ungleichheit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.