# taz.de -- Migrationsforscher über Kollaboration: „Es geht um die Zwischenr… | |
> Kein Protest und überall Kollaborateure? Der Publizist Mark Terkessidis | |
> entwirft eine positive Philosophie der Zusammenarbeit. | |
Bild: Kollaboration auf dem Landwehrkanal in Berlin: Zusammen geht‘s meistens… | |
taz: Herr Terkessidis, in Ihrem neuen Buch „Kollaboration“ fordern Sie ein | |
Umdenken auf verschiedenen Ebenen wie Stadtplanung, Bildung oder Kunst. Sie | |
fordern mehr Kollaboration als Weg zur Demokratisierung der Gesellschaft. | |
Was ist damit gemeint? | |
Mark Terkessidis: Kollaboration hat ja einen schlechten Ruf, aber | |
eigentlich heißt es: Zusammenarbeit. Im Englischen wird „collaboration“ | |
auch so verwendet. Ich wollte den Begriff mit beiden Bedeutungen haben. Auf | |
der einen Seite sind wir Kollaborateure, weil wir oft auf eine ohnmächtige | |
und grollende Weise viele Kompromisse machen mit kapitalistischen | |
Auswüchsen und demokratischen Mangelerscheinungen. Auf der anderen Seite | |
sehe ich aber viele positive Formen von Kollaboration: Wikipedia, | |
Shareconomy, Citizen Science, Bürgerbeteiligung, Kunstprojekte et cetera. | |
Der Vorschlag lautet also, Kollaboration zu einem ethischen Leitprinzip zu | |
machen. Systematisch geförderte und umgesetzte Kollaboration könnte | |
Zusammenhalt stiften in Zeiten, in denen die repräsentative Demokratie | |
zerfleddert wirkt, weil viele Leute sich nicht mehr gut oder gar nicht mehr | |
vertreten fühlen. | |
Sind die erwähnten Praktiken nicht eine perfekte Ergänzung zum Rückzug des | |
Wohlfahrtsstaates? Profitiert nicht der Neoliberalismus vom Gebot zur | |
Kollaboration, in dem Verantwortung auf Individuen und Gemeinden abgewälzt | |
wird? | |
Ich finde, der Wohlfahrtsstaat wird rückblickend idealisiert. Das war eine | |
ziemlich autoritäre Angelegenheit, und die Neuen Sozialen Bewegungen in den | |
1980er Jahren haben sich ja genau gegen einen Staat gewandt, in dem | |
Bürokraten und Experten alles besser wissen. Das Problem mit dem | |
Neoliberalismus ist, dass er seine Versprechen nicht einlöst. Seit 20 | |
Jahren mindestens predigen uns die Politiker „Eigenverantwortung“, und die | |
meisten Leute haben sich daran gehalten: Bildung, Karriere, Gesundheit, | |
Altersvorsorge – da kümmern wir uns weitgehend allein drum. Aber während | |
der Staat die Bürger zur Veränderung aufgefordert hat, durfte er selbst | |
autoritär weitermachen. Es ist kein Wunder, dass sich die Proteste der | |
letzten Jahre an Großprojekten entzündet haben. Die Bürger wissen mehr als | |
früher und wollen gefragt werden. | |
Wie kann diese Teilhabe konkret organisiert werden? | |
Kleinteilig. Wenn es um mehr Demokratie geht, wird in Deutschland immer nur | |
über Volksabstimmungen diskutiert. Es geht mir aber um die vielen | |
Zwischenräume. Am Kreuzberger Landwehrkanal etwa wurden nach dem Abrutschen | |
des Ufers Bäume gefällt – es gab Proteste. Da dachte ich gleich | |
despektierlich: Ach ja, Kreuzberger Ökos wollen Bäume retten. Tatsächlich | |
hatten die Demonstranten aber gute, ja sogar überlegene Ideen. Im Gespräch | |
mit der zuständigen Behörde wurde ein neuer Plan entwickelt, besser, viel | |
billiger. Und die Bäume wurden erhalten. Das meine ich mit Kollaboration: | |
einen Prozess, der auch die Richtung ändern kann. Nicht die Art von | |
„Partizipation“, wo die Leute nur längst beschlossene Pläne debattieren | |
dürfen. Leute mögen von Wahlen nichts mehr erwarten, aber sie interessieren | |
sich für ihren Nahbereich. Da gibt es keinen Generalplan, da müssen | |
verschiedene Bereiche eigene Verfahren entwickeln. Im übrigen meint | |
Kollaboration auch nicht immer reden – da macht ja nur die Mittelschicht | |
mit. Es kann auch heißen, gemeinsam etwas zu renovieren, reparieren, neu zu | |
gestalten. | |
Auch der viel zitierte Politologe Colin Crouch hat mit dem Begriff | |
„Postdemokratie“ ein Gemeinwesen kritisiert, in dem die Wahlen zu | |
Spektakeln verkommen, während die Bürger und Bürgerinnen reale | |
Entscheidungen kaum beeinflussen können. | |
Vieles an der Diagnose würde ich unterstützen, aber was mich nervt, ist | |
dieser apokalyptische Tonfall. Ich lese doch keine Theorie, um mich quasi | |
meiner eigenen Ohnmacht zu versichern. Der Sinn linker Theorie war auch | |
immer, das Kräftefeld des Bestehenden zu vermessen und die | |
fortschrittlichen Bewegungen der Subjekte aufzuzeigen. | |
Worin unterscheidet sich Ihre Diagnose von basisdemokratischen Forderungen | |
aus den Bewegungen der letzten Jahre wie zum Beispiel „Occupy“, die ja | |
teilweise sogar die Abschaffung der Repräsentation forderten? | |
Nun ja, ich bin Pragmatiker. Ich sympathisiere mit vielen Ideen dieser | |
Bewegungen, aber ich träume nicht von der Abschaffung der repräsentativen | |
Demokratie zugunsten irgendwelcher utopischen Direkt- und | |
Diskussionsformen. Ich interessiere mich für eine Vertiefung der | |
bestehenden Demokratie durch die kollaborative Gestaltung des Raums | |
zwischen dem Gesetzgeber und dem Volk. Michel Foucault hat gezeigt, wie in | |
Familien, Schulen, Fabriken et cetera im 19. Jahrhundert die Disziplin | |
durchgesetzt wurde. Dort wäre heute der Raum für die Kollaboration. | |
Im Gegensatz zu Zeitdiagnosen, in denen die Mehrheit der Bürger und | |
Bürgerinnen als eine passive Masse wahrgenommen wird, fordern Sie im | |
Anschluss an Michel Foucault, das „Wissen der Leute“ ernst zu nehmen. Ist | |
das nicht arg idealistisch? Erheben rechtspopulistische Bewegungen nicht | |
auch Ansprüche auf Mitbestimmung? | |
Aber das ist ja das Problem jeder „Herrschaft des Volkes“. Die Individuen | |
haben unverbrüchliche Rechte, egal wie aufgeklärt sie sind. Tatsächlich | |
besetzen die populistischen Parteien und Bewegungen auch die Lücke der | |
Repräsentation. Ich teile deren Ziele nicht im Geringsten, aber deren | |
Ansprüche muss ich berücksichtigen. Nehmen wir mal die Flüchtlingspolitik. | |
Ganz oft haben wir es mit einer Politik zu tun, die sich einerseits ständig | |
für „überfordert“ erklärt und andererseits autoritäre Entscheidungen | |
trifft: In dieses oder jenes Gebäude quartieren wir jetzt 50 Leute ein. | |
Angesichts dieser Vorgehensweise ist die Skepsis nachvollziehbar. Besser | |
machen es die Kommunen, die ohne Zaudern sagen: Wir wollen Flüchtlinge | |
aufnehmen, wir erklären genau, wie wir das machen wollen, wir stellen das | |
zur Diskussion und moderieren den ganzen Prozess. Das erscheint mühevoll, | |
aber noch mehr Arbeit machen die Proteste, die man sich einkauft, wenn man | |
Entscheidungen am grünen Tisch trifft. Es gibt aber auch Leute, mit denen | |
kann man nicht kollaborieren, weil sie nicht kollaborieren wollen. Die | |
Feinde der Demokratie muss man bekämpfen. | |
20 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Pascal Jurt | |
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