| # taz.de -- Debatte Ökonomie und Entpolitisierung: Im Feld der Postpolitik | |
| > Politik findet nur noch als Stylefrage und Soap-Opera statt. Das | |
| > Verschwinden der Politik aus den öffentlichen Diskursen aber macht alles | |
| > politisch. | |
| Bild: Selbst eine Modenschau kann zum Ort politikartiger Performance werden. | |
| Es gibt ein einfaches Bild für das merkwürdige Verhalten von Menschen, die | |
| Opfer einer Krise wurden, deren Verursacher nachher reicher und mächtiger | |
| sind und sie die Zeche bezahlen lassen. Sie scheinen geblendet von einem | |
| kapitalistischen Realismus, der aus drei Empfindungen besteht: Da kann man | |
| nichts machen. Alles andere ist noch schlimmer. Und, hey, es ist zwar der | |
| pure Wahnsinn, aber man kann sich trotzdem ziemlich grenzenlos amüsieren | |
| dabei. | |
| Es gibt einen Begriff, der dieses Bild genauso einfach erfassen will: | |
| Entpolitisierung. Man versteht darunter, „dass Einzelne und Gruppen nicht | |
| mehr an der politischen Willensbildung teilnehmen oder dies ohne gründliche | |
| Informiertheit und ohne Abwägung ihrer Lebensinteressen tun“. So sieht es | |
| das „Wirtschaftslexikon“, Ausgabe 2015. Die Frage darf natürlich nicht | |
| gestellt werden, ob und wie das Problem der Teilnahme denn mit dieser | |
| politischen Willensbildung zusammenhängt. | |
| Eine entscheidende Erfahrung, die hinter dem Prozess der Entpolitisierung | |
| steckt, ist der anwachsende Überhang der ökonomischen Erpressbarkeit | |
| gegenüber der demokratischen Freiheit. Jeder einzelne Mensch, jeder | |
| Politiker und jede Partei erweisen sich als ökonomisch erpressbar; ein Teil | |
| gibt dieser Erpressung mit begehrlicher Lust nach – man identifiziert sich | |
| lieber mit der mächtigen Ökonomie als mit der immer ohnmächtigeren Politik. | |
| Es erweisen sich freilich auch vor allem jene Institutionen als erpressbar, | |
| die eigentlich die Grundlagen einer politischen Willensbildung erst | |
| herstellen, nämlich die Medien und die Journalisten. Entpolitisierung, | |
| gewiss doch, entspricht einerseits einer „Stimmung“ im Volk (was immer das | |
| ist), und Entpolitisierung entspricht einer Transformation von Herrschafts- | |
| und Kontrolltechniken. Aber zugleich wird Entpolitisierung auch kulturell, | |
| manipulativ und medial erzeugt. | |
| ## Marken statt Symbole | |
| Das nächste Paradoxon: Das Verschwinden der Politik aus den öffentlichen | |
| Diskursen macht alles politisch. Nicht mehr die Wahl einer Partei, wohl | |
| aber die Wahl eines musikalischen Genres oder einer Band drückt meine | |
| politische Haltung aus. | |
| Die Beziehung zwischen Subjekt, Gesellschaft und Staat wird weder in einer | |
| Parlamentsdebatte noch in einem Leitartikel, sondern in einem | |
| Superheldenfilm verhandelt. An die Stelle von politischen Symbolen treten | |
| Markenzeichen. Ob einer eher rechts oder eher links steht, lässt sich am | |
| ehesten an dem Fußballverein ablesen, für den er brennt, und in welchem | |
| Teil des Stadions er steht. | |
| Je weniger politische Entscheidungen ich mit meiner Wahl (und genauso mit | |
| meiner Wahlabstinenz) beeinflusse, desto mehr wird der Alltag zu einer | |
| endlosen Kette der politischen Entscheidungen. Mit wem rede ich, und bei | |
| wem kaufe ich ein, welche Embleme schmücken Wohnstatt und Wagen, wo finde | |
| ich Schnittstellen zwischen meiner Privatsphäre und einer Öffentlichkeit, | |
| welche Worte benutze ich und welche nicht? Auf die Entpolitisierung des | |
| Politischen folgt die Politisierung des Unpolitischen. | |
| ## Warenförmigkeit des Politischen | |
| Im erwähnten „Wirtschaftslexikon“ findet sich eine zweite Definition: „A… | |
| Bezeichnung für einen Vorgang, durch den bestimmte Lebensbereiche (z. B. | |
| wissenschaftliche Diskussionen) von politischen Aspekten, d. h. | |
| Machtfragen, freigehalten werden.“ Ebendiese andere Form der | |
| Entpolitisierung, zum Beispiel die Idee eines „freien“ Raumes für die | |
| Ausübung von Wissenschaft, Kunst oder auch nur Sport oder | |
| Speisenzubereitung, ist beim Teufel. | |
| Der Trick ist auch hier sehr einfach: Um eine Position in Gesellschaft und | |
| Staat zu Macht und Regierung zu entwickeln und auszudrücken, soll der | |
| Mensch bezahlen. Wer ich bin und was ich will, kann ich nicht mehr durch | |
| ein politisches Programm ausdrücken, sondern durch Waren und | |
| Dienstleistungen. | |
| Der ersten ökonomischen Erpressung (wenn die Politik nicht macht, was die | |
| Wirtschaft will, dann wird man mit noch mehr Entlassungen und Kapitalflucht | |
| reagieren), der zweiten ökonomischen Erpressung (wenn du falsche politische | |
| Aussagen machst, verlierst du Karriere, Arbeitsplatz und Kreditwürdigkeit) | |
| sowie der dritten ökonomischen Erpressung (wenn du dich informieren, | |
| unterhalten und bestätigen willst, musst du Medien benutzen, die den | |
| Interessen des Marktes dienen) folgt nun die vierte Erpressung: Wenn du | |
| dich identifizieren und deine Identifikation kenntlich machen willst, musst | |
| du spezielle Marktsegmente nutzen. Deine „Einstellung“ soll sich in | |
| T-Shirts und Smartphones ausdrücken! | |
| ## Vorauseilende Konsensproduktion | |
| Die Mainstreammedien liefern dazu einen nicht unbescheidenen Beitrag. Der | |
| politische Journalismus begeht dabei fünf Kardinalfehler: | |
| 1. In einem Informationssystem, das nach den Gesetzen des Markts und der | |
| Unterhaltungsindustrie funktioniert, muss der Journalist Aufmerksamkeit | |
| generieren, aber mehr noch emotionale Bindung und Unterhaltungswert. | |
| Zustimmung und Erfolg für einen Journalisten liegen darin, einen populären | |
| Politiker noch populärer und einen unpopulären Politiker noch unpopulärer | |
| zu machen. | |
| 2. Das Mainstreaming von Wahrnehmungen und Haltungen, das gleichsam | |
| vorauseilend die Konsensproduktion an die Stelle politischer Willensbildung | |
| setzt. Natürlich nutzen etwa „Krawallfeuilletonisten“ den | |
| Aufmerksamkeitswert einer abweichenden Meinung (unnütz zu sagen: meistens | |
| nach rechts), aber sie karnevalisieren die Diskurse. | |
| 3. Die Unfähigkeit zur programmatischen Konfrontation. Wenn es nicht mehr | |
| um Ideen und Überzeugungen, sondern um Personen geht, dann wird Politik von | |
| der Diskurs- zur Geschmacksfrage. | |
| 4. Wenn Politik, im wohlgemerkt konservativen Diskurs, als die Fähigkeit | |
| verstanden wird, Freund und Feind zu unterscheiden, dann wäre demokratische | |
| Politik die Sorge für Chancengleichheit, Transparenz und Wandlungsfähigkeit | |
| im Austragen der Interessenkonflikte und nicht die Kunst, die Konflikte zum | |
| Verschwinden zu bringen. | |
| 5. Entpolitisierung als ein strukturelles Verdrängen des Impulses, sich an | |
| den Prozessen der politischen Willensbildung zu beteiligen, entsteht nicht | |
| allein durch die beiden Erkenntnisse: Es ist unmöglich, mich zu beteiligen, | |
| und es ist unnütz, mich zu beteiligen – sondern auch durch die | |
| Ermächtigung. Ich kann mich nur beteiligen, wenn ich etwas davon verstehe. | |
| Dagegen spricht indes schon eine real existierende Expertokratie in der | |
| Politikpraxis selbst, die Politiker sind „Kommunikatoren“, die | |
| Entscheidungen werden im Hintergrund durch Experten gefällt. Da, wo | |
| wirklich „etwas verstanden“ (und etwas entschieden) wird, ist der Zugang | |
| verboten – auch für „Volksvertreter“, wie die TTIP-Verhandlungen zeigen. | |
| ## Funktionierender Neoliberalismus | |
| Natürlich gibt es eine antidemokratische Stimmung und eine | |
| antidemokratische Tradition in Deutschland mehr als in anderen | |
| Gesellschaften, die Verachtung der Politiker als Protagonisten eines | |
| „schmutzigen Geschäfts“ und des Parlaments als „Schwatzbude“ erhält d… | |
| die Entpolitisierung neue Nahrung, genauso die Fantasie der „Lügenpresse“, | |
| die ja nicht wegen ihrer kritischen Distanz zur offiziellen Politik so | |
| genannt wird, sondern eher wegen ihrer demokratischen Restaufmerksamkeit. | |
| Wenn man den Neoliberalismus beim Wort nimmt, nämlich als eine Neufassung | |
| des Konzepts von Liberalismus unter der Vorherrschaft der Ökonomie, dann | |
| funktioniert er, indem er immer wieder neue „Freiheiten“ verspricht. Pierre | |
| Bourdieu hat das in einen Donnersatz gepackt: „Diese Politik, die sich | |
| schamlos eines Vokabulars der Freiheit, des Liberalismus, der | |
| Liberalisierung, der Deregulierung bedient, ist in Wirklichkeit eine | |
| Politik der Entpolitisierung und zielt paradoxerweise darauf ab, die Kräfte | |
| der Ökonomie von all ihren Fesseln zu befreien, ihnen dadurch einen fatalen | |
| Einfluss einzuräumen und die Regierungen ebenso wie die Bürger den derart | |
| von ihren Fesseln ,befreiten‘ Gesetzen der Ökonomie zu unterwerfen.“ | |
| Eine nur noch in diesem neoliberalen Sinne freie Presse kann die Demokratie | |
| nicht retten. Sie betreibt das Geschäft der Entpolitisierung nicht nur im | |
| Ganzen, sondern auch im Kerngeschäft des politischen Journalismus. | |
| Kampagne, Mainstreaming, das Verwandeln von politischen Konflikten in | |
| Soap-Opera-Dramaturgien, Personalisierung und Selbstinszenierung von | |
| Journalisten und Medien sind Instrumente der Entpolitisierung der Politik, | |
| während es umgekehrt für die Politisierung von Alltag und Dingwelt weder | |
| Sprache noch Kritik gibt. | |
| Ein simples Journalistenbashing hilft aber auch nicht weiter. In der | |
| Postpolitik wird nicht die Macht zwischen Regierung und Volk ausgehandelt, | |
| sondern es wird das ausgehandelt, was man sich wechselseitig an Wahrheiten | |
| zumutet. Zu den sonderbaren Freiheiten des Neoliberalismus gehört es auch, | |
| dass marktförmig ausgehandelt wird, wie viel man von der Wirklichkeit sehen | |
| will und wie viel lieber nicht. Wer spielt da schon gern die Rolle des | |
| Spielverderbers? | |
| 12 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Seesslen | |
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