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# taz.de -- Schlagloch Lügenpresse: Den Trennstrich gezogen
> Die „Lügenpresse“-Propagandisten von Pegida wollen nicht erzählt werden,
> sondern Erzählung sein. Sie entziehen sich dem demokratisches Diskurs.
Bild: Eher kein kritischer Einwurf
Was ist eigentlich die Aufgabe einer „freien Presse“? Schwer zu sagen. Es
hat wohl etwas damit zu tun, gegenüber einer unübersichtlichen,
chaotischen, widersprüchlichen Welt „Erzählungen“ zu erzeugen.
Der ehrenwerte Journalist versucht eine Erzählung zu kreieren, die sich
möglichst, nun ja, realistisch an die Partikel des Wirklichen hält. Er und
sie versuchen möglichst viele Partikel des Wirklichen zusammenzubringen,
bevor sie eine Erzählung anbieten, die sie mit den Instrumenten der
Aufklärung bearbeiten. Der ehrenwerte Journalist reflektiert die Grenzen
seiner Erzählfähigkeit und die Grenzen der Erzählbarkeit. Er steht sich
selbst und seiner Erzählung kritisch gegenüber und ist bereit, sie im
Zweifelsfall zu revidieren.
Der nicht so ehrenwerte Journalist kreiert die Erzählung, die er schon mehr
oder weniger fertig im Kopf hat, die Erzählung, die seiner Einstellung,
seinem Milieu, seinem Wissensstand, seinen Interessen entspricht. Er wird
im Zweifelsfall Partikel der Wirklichkeit ausblenden oder entsprechend
interpretieren, um seiner eigenen Erzählung von der Welt nicht zu
widersprechen. Der nicht so ehrenwerte Journalist will die Welt seiner
Erzählung (oder der seiner Auftraggeber) unterordnen. Womöglich erklärt er
seinen Lesern und Leserinnen immerhin, wie die Erzählung aussieht, die er
im Kopf hat, bevor er die Welt aktuell erzählbar machen will.
Der ehrlose Journalist dagegen kreiert die Erzählung, die von ihm gefragt
und abgefragt wird. Von seinen Auftraggebern und von deren Kunden, den
Zuschauern, Zuhörern und Lesern. Dem ehrlosen Journalisten sind die
Partikel der Wirklichkeit nur Anlass und Material, marktgängige,
interessengesteuerte Geschichten zu erzeugen. Er ist weder selbstkritisch
wie der ehrenwerte Journalist noch konsistent wie der nicht so ehrenwerte
Journalist, sondern opportunistisch und skrupellos.
Natürlich gibt es diese Unterscheidung in der Wirklichkeit einer freien
Markt-Presse nicht so klar, wie sie in der Theorie scheinen mag. Je härter
das Geschäft wird, desto grauer seine Zonen.
## Beispiel Ukraine-Berichterstattung
Die Ukraine-Berichterstattung der freien deutschen Presse ist mehrheitlich
voreingenommen, genormt, propagandistisch infiziert und auch politisch
gefährlich. Das heißt aber nicht, dass die Erzählung der Gegenseite weniger
voreingenommen, genormt, propagandistisch infiziert und am Ende politisch
gefährlich wäre.
Zweifellos hat ein Sog den deutschen Journalismus bezüglich der
Ukraine-Krise erfasst, in der Produktion einer Erzählung, die „uns“ passt,
und mehr noch, die ein entsprechendes „Wir“ erst erzeugt. Mit einer
denkwürdig militanten Nebenerscheinung, nämlich dem radikalen Ausschluss
aller Kritik und Selbstkritik, der Denunziation aller Dissidenz.
Gegenschnitt: „Lügenpresse!“ Die furchtbare Pegida-Bewegungsversammlung von
Nazis, die jetzt schon wissen, dass sie nachher keine gewesen sein werden,
hält dieses Schild nicht umsonst hoch, auch das in direkter Übernahme des
Neonazi-Rituals: „Die Presse lügt. Die Presse lügt“ skandieren sie, denn
sie wollen Erzählung werden und nicht erzählt werden.
Jede Art von antidemokratischer Selbstinszenierung beginnt mit dem großen
Bruch: Ab hier gibt es zwei Wahrheiten, zwei Wirklichkeiten, die eine, die
allgemeine (liberale und „linke“, die ungläubige und ketzerische), die
andere, die wahre, die an Logik und Empathie nicht gebundene privilegierte
und eschatologische Wahrheit einer Religion oder eines religiös
modellierten Codes. Es ist das große Konstrukt: WIR und DIE ANDEREN.
Insofern bedeutet das „Lügenpresse“ der Pegida ganz und gar nicht, dass man
den Medien als Nachrichtenübermittlung oder Erzählmaschine nicht traute.
Man ist da, ganz im Gegenteil, nachgerade Presse-süchtig. Wenn ein als
Lügenschleuder bekanntes Blatt eine Lügengeschichte über das Verbot von
„Weihnachtsmärkten“ durch üble Allianzen von Islamisten und „Liberalen�…
druckt, dann wird dies umstandslos „geglaubt“.
„Lügenpresse“ ist also kein kritischer Einwurf, sondern es beschreibt den
Trennungsstrich zwischen einer „falschen“ Weltsicht der Allgemeinheit und
der „richtigen“ Weltsicht der Privilegierten im Innenraum der alogischen
und empathielosen „Wahrheit“. Es erklärt den Bruch mit der humanistischen
Erzählungspluralität.
## Hilfloser Journalismus
Politiker, die mit dieser Bewegung oder ihren Mitläufern „reden wollen“,
begreifen, dass „das Volk“ (eine Fiktion, die sich bei Bedarf verwirklichen
lässt) in Deutschland immer rechts steht und sich durch das kategorische
„Lügenpresse“ dem demokratischen Diskurs entzogen hat. Weil es sich aber
auch um „Wähler“ handelt, wollen sie „das Volk“ eben irgendwie rechts
wieder „abholen“.
Die Spaltung von Pegida vollzieht sich genau an diesem Punkt, zwischen den
„Gesprächsbereiten“, die vielleicht wieder in die Mainstream-Erzählung
zurückfließen (diese freilich weiter nach rechts treiben), und jenen, die
das „Lügenpresse“-Schild nicht anders verstehen als konsequenten, radikalen
und im Kern „religiösen“ Bruch mit der demokratischen Vielstimmigkeit.
Die freie Presse, ein kompliziertes, manchmal ekliges und manchmal
kreatives Durcheinander von ehrenwerten, nicht so ehrenwerten und ehrlosen
Personen und Institutionen, ist drauf und dran, die Fähigkeit zu verlieren,
Erzählungen der Welt zu erzeugen, mit denen eine demokratische, liberale
und kapitalistische, oder auch eine postdemokratische, digitalkontrollierte
und finanzkapitalistische Gesellschaft „richtig“ leben kann. Der Markt kann
sich „Qualitätsjournalismus“ bald nicht mehr leisten, und der einzelne
Berufsjournalist kann sich nicht mehr leisten, durchweg ehrenwert zu
bleiben.
Die nicht erzählte oder schlecht erzählte Welt aber ist genau die, in der
sich Intoleranz, Fundamentalismus und Terror am Ende ausbreiten. Die
Faschisten jeder Couleur wissen, warum sie als Erstes die freie Presse
angreifen. Die Demokratie, oder was aus ihr geworden ist, weiß aber nicht,
wie sie sie verteidigen könnte.
13 Feb 2015
## AUTOREN
Georg Seesslen
## TAGS
Journalismus
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