# taz.de -- Pegida und Ressentiment: Das blanke Nein | |
> Die Pegida-Demos ziehen vor allem verwirrte Einzelkämpfer und | |
> Rechtsradikale an. Doch daraus kann ein Muster illiberaler Demokratie | |
> werden. | |
Bild: Die Bewegung als ganze ist meist sprachlos: Pegida-Demonstranten in Dresd… | |
Populismus nährt sich von starkem Ressentiment. Plastisch beschrieben hat | |
schon Friedrich Nietzsche „das Ressentiment solcher Wesen, denen die | |
eigentliche Reaktion, die der Tat versagt ist, die sich nur durch eine | |
imaginäre Rache schadlos halten“, und er fährt fort: „Die Sklaven-Moral | |
bedarf, um zu entstehen, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie | |
bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren, | |
ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion“ („Genealogie der Moral“, 1887). | |
Dem liegt oft eine kolossale Ohnmachtserfahrung zugrunde, ein untröstliches | |
Gefühl des Zurückgesetztseins. Und eventuell einer | |
Ungerechtigkeitserfahrung, die ihren konkreten Anlass längst verdrängt hat, | |
aber die Weltbeobachtung und soziale Interaktion filtert. | |
Max Scheler hat 1912 Ressentiment mit „(heimlichem) Groll“ übersetzt, als | |
„dauernde psychische Einstellung, die durch systematisch geübte | |
Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte | |
entsteht, welche an sich normal sind und zum Grundbestande der menschlichen | |
Natur gehören“. Es handelt sich also (deshalb Re-Sentiment) um „das | |
wiederholte Durch- und Nachleben einer bestimmten [feindseligen] | |
emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen“, die den Kern der | |
Persönlichkeit affiziert und die Umwelt als grundsätzlich feindlich | |
wahrnimmt. | |
Akute Anfälle von Rachegefühl, Hass, Bosheit, Neid, Missgunst und Häme | |
verdichten sich im Ressentiment zu einem Syndrom. Folglich zielt auch | |
„Ressentimentkritik“ gar nicht auf Verbesserung des kritisierten Zustands, | |
also weder auf Reform noch Revolution ab. Sie gibt sich zufrieden im | |
„Hochgefühl der grundsätzlichen Opposition“, die sich durch wild | |
herangezogene Erfahrung immer wieder bestätigt findet. | |
Die Nähe zum Verschwörungsdenken ist evident, und dieses kann, wie Richard | |
Hofstadter das für die Vereinigten Staaten der 1950er Jahre festgestellt | |
hat, einen „paranoiden Politikstil“ kreieren. Die Frage ist nämlich: Wie | |
formiert sich eine auf den ersten therapeutischen Blick ganz individuelle | |
Disposition zur kollektiven Mentalität? Welche sozialstrukturellen | |
Voraussetzungen begünstigen sie? | |
## Die schweigende Mehrheit spricht – „endlich einmal“ | |
Eine ausgearbeitete politische Ethnografie populistischer Parteien und | |
Bewegungen in Massen- und Postdemokratien fehlt noch. Sie müsste ergründen, | |
wie sich Rachebedürfnisse in xenophobe und menschenfeindliche Denk- und | |
Handlungsmuster übersetzen. Und was es bedeutet, wenn sich Straßenprotest | |
in Wahlkabinen zu politisch quantifizierbaren Größen formiert und in | |
Parlamenten als Sperrminoritäten auftritt. | |
Zum Front National und zur FPÖ neigen typischerweise viele sozial isolierte | |
Individuen, überwiegend jüngere und ältere Männer. „Patriotische Europäer | |
gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) ist eine sehr heterogene | |
Bewegung, die verwirrte Einzelkämpfer, ressourcenstarke politische | |
Unternehmer und rechtsradikale Trittbrettfahrer anzieht – Beispiele sind | |
der Mann, der sein Plakat „GEZ abschaffen“ immer wieder in laufende Kameras | |
hält, ein Lutz Bachmann, der große Demos zu organisieren weiß, und ein | |
Haufen Funktionäre und Mitläufer aus Kreisen der NPD und anderer | |
rechtsradikaler Sekten in Warteposition. | |
Die Bewegung als ganze ist meist sprachlos, doch erklingt das | |
anspielungsreiche „Wir sind das Volk“, werden Deutschlandfahnen geschwenkt. | |
So artikuliert sich „endlich einmal“ die sonst schweigende Mehrheit. Dank | |
AfD kann nun auch der Nichtwähler zur Wahl gehen, und eventuell wird der | |
ein oder andere „friedfertige Bürger“ Amok laufen. | |
Journalisten werden die Mikrofone und Kameras weggehauen, weil „die | |
Lügenpresse“ – ein Nazi-Kampfbegriff aus der Zeit der Weimarer Republik – | |
nicht gut gelitten ist. Die eingesammelten Statements bleiben erratisch, | |
aber Ohnmachtsgefühl und Opferduktus kommen in ihnen überdeutlich zum | |
Ausdruck. Da ist viel gefühlter Niedergang, sei es der aus der | |
individuellen Berufskarriere ins Dasein als Renten- oder Transferempfänger | |
mit kleinem Portemonnaie, des abstiegsängstlichen Mittelständlers oder der | |
des gut gefüllten Wohlstandsbauchs, der nicht abspecken will. | |
Die Dekadenz, die dabei artikuliert oder fantasiert wird, ist eine höchst | |
relative, weil sie den Zustand anderer oder anderswo nicht als Maßstab | |
nimmt. Es dürfte kein Zufall sein, wenn sich das Enragement (In-Wut-sein) | |
gerade in Dresden äußert, dessen Opfer- und Verlustgeschichte auch | |
Neubürger vor sich hertragen, obwohl diese Stadt durch öffentliche | |
Investitionen und Subventionen nach 1990 reichlich entschädigt worden ist. | |
## Projektionsfläche Brüssel | |
Populismus, eine im 19. Jahrhundert aufkommende Bewegung „des“ Volkes gegen | |
„die da oben“, war immer verschobener Klassenkampf. Der nahm nicht die | |
möglichen Verursacher der eigenen, stets relativen Deprivation ins Visier, | |
sondern erstens Minderheiten, die noch weit unter einem stehen, zweitens | |
„die politische Klasse“, der die Schuld an der eigenen Misere zugeschoben | |
wird, drittens die veröffentlichte Meinung und viertens eine | |
Projektionsfläche wie „Brüssel“. | |
Enragement verwandelt sich nicht in Engagement (Sicheinbringen), die | |
kollektive Aktion bleibt destruktiv, ihre „schöpferische Tat“ ist das | |
blanke Nein. Und man mag sich angesichts der Neigung zur Xenophobie oder | |
ihrer Latenz auch gar nicht wünschen, dass sich das emotionale Magma in | |
eine „rational“ kalkulierte Strategie transformiert und Populisten | |
regierungsfähig werden – wie in Budapest, Antwerpen und Moskau, vielleicht | |
bald auch in Paris und Wien. | |
Daraus kann in ganz Europa ein Muster illiberaler Demokratie werden, das | |
sich lästiger Komplexität durch Plebiszite entledigt und ansonsten mal | |
antisemitisch, mal „islamkritisch“, mal antiintellektuell und immer mit | |
Politikverachtung auf demokratischen Politikern herumhackt. Wenn der | |
russische Staatspräsident seine Fühler in Richtung Le Pen und Gauland | |
ausstreckt, ist das sicher kein Zufall, auch nicht, dass bei | |
Pegida-Demonstrationen (oder ihrem „linken“ Vexierspiel in Berlin) Putin | |
akklamiert wird. | |
„Der Mob ist das Volk in seiner Karikatur und wird deshalb so leicht mit | |
ihm verwechselt“, schrieb Hannah Arendt 1951. „Kämpft das Volk in allen | |
großen Revolutionen um die Führung der Nation, so schreit der Mob in allen | |
Aufständen nach dem starken Mann, der ihn führen kann. Der Mob kann nicht | |
wählen, er kann nur akklamieren oder steinigen.“ | |
Diese Revolte beginnt schon, ihre Kinder zu fressen – Lucke und Henkel | |
gelten im Pegida-Sumpf als Weicheier. Sehr viel hängt jetzt davon ab, ob | |
sich die AfD in einem wahlfreien Jahr als Auffangbecken für Pegida-Gefühle | |
stabilisiert und wie die etablierten Parteien darauf reagieren. | |
Hier gibt es nichts falsch zu verstehen: Wenn in Deutschland und Europa | |
Kritik anzubringen ist an Modalitäten der Einwanderung, an der Aufnahme von | |
Flüchtlingen oder generell an sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, | |
dann musste man wahrlich nicht auf Pegida warten, um sie zu artikulieren | |
und Missstände abzustellen. Und wer mit dem Pegida-Nachbarn diskutieren | |
will, der rüste sich für den Faktencheck, z. B. beim [1][Mediendienst | |
Integration]. | |
5 Jan 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://mediendienst-integration.de/dossier/fakten-check.html | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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