# taz.de -- Debatte Realpolitik: Die Wahnwelt des Machbaren | |
> Vom Elend des Realismus in der Politik. Wie man ganz realistisch | |
> feststellen muss: Der Realismus ist kein Humanismus. | |
Bild: Der Inbegriff des militanten Realismus. | |
Natürlich denkt man zunächst, dass es für eine Politikerin oder einen | |
Politiker das Wichtigste überhaupt sei, ein Auge für das Wirkliche zu | |
haben. Dafür, wie die Dinge wirklich sind (und nicht wie man sie sich | |
wünscht), und dafür, was sich in dieser Wirklichkeit realistischerweise | |
machen lässt und was nicht. Dafür gibt es Sätze wie „Politik ist die Kunst | |
des Möglichen“. | |
Aber Realismus in der Politik bedeutet auch: Sich abfinden mit den | |
Gegebenheiten, das Scheitern einkalkulieren, und einen Unterschied | |
akzeptieren zwischen dem Ziel und seiner Erreichbarkeit und damit zwischen | |
Programm und Handlung. | |
Man weiß gar nicht, was von alldem fataler ist. Der Berufspolitiker als | |
Realist kann nicht unschuldig bleiben. Sein Realismus muss über das | |
(falsche!) „Der Zweck heiligt die Mittel“ hinausgehen. Oftmals führt das zu | |
einer surrealistischen Verkehrung: Der „realistische“ Sozialdemokrat | |
versucht den „Konservativen“ an antisozialer, nationalistischer und | |
undemokratischer Praxis zu übertreffen. | |
Allgemeiner: Der realistische Berufspolitiker ist gleichsam strukturell der | |
Mensch, der das Gegenteil von dem macht, was er sagt. Weil das Tun einer | |
anderen Form des Realistischen entspricht als das Sagen. Es ist | |
realistisch, hinter einem Sagen das Tun zu verbergen. Es ist, nur zum | |
Beispiel, realistisch, das Volk als dumm, träge und gewalttätig anzusehen. | |
## Paranoider Realismus | |
Wenn das Volk und die Regierung sich gegenseitig realistisch ansehen, dann | |
erwarten sie nicht viel voneinander, und von dem wenigsten in aller Regel | |
das am wenigsten erfreuliche. Der Realismus verspricht, uns vor | |
„überzogenen Erwartungen“ zu bewahren, und er verspricht auch, dass man | |
voneinander nicht zu viel fordert. Ein realistisches Bild der Politik sagt, | |
dass machtgierige, korrupte Idioten ein Volk von verblödeten, aggressiven | |
und niederträchtigen Halunken bedienen und betrügen. Es ist aber noch | |
realistischer, so was nie laut zu sagen. | |
Allerdings ist dieser Realismus auch paranoid. Der Berufspolitiker lebt in | |
einer Wahnwelt des Zweckmäßigen und des Machbaren. Machbar ist nur, was | |
sich verkaufen lässt, zweckmäßig nur, was bezahlt wird bzw. bezahlt werden | |
kann. Wir bilden uns ein, ein guter Politiker sei einer, der seinen eigenen | |
Lügen glaubt. Aber das ist ein Phantasma. Der gute Politiker glaubt | |
hingegen, dass es gut sei zu lügen oder nicht die ganze Wahrheit zu sagen. | |
Der realistische Politiker ist mithin eine psychisch kranke Person, die der | |
festen Überzeugung ist, alle anderen seien die psychisch Kranken. | |
Die Fatalität steigert sich, wenn mithilfe der Medien auch der Wähler (oder | |
Nichtwähler) sich in den „realistischen“ Berufspolitiker hineinfantasiert | |
wird. Er oder sie identifiziert sich mit einem Gegenüber, das aus lauter | |
Realismus auch ihn oder sie belügen muss, zugleich aber eine irreale | |
Rhetorik aufrecht erhält. Realistische Völker schauen ihren realistischen | |
Regierungen beim Lügen zu, und müssen es realistisch finden, betrogen, | |
ausgebeutet und gedemütigt zu werden. Wir in Deutschland des Jahres 2015 | |
haben so eine „realistische“ Regierung. | |
Es ist also paradoxerweise dieser Realismus, mit dem die Politik die | |
Wirklichkeit aus den Augen verlieren muss. Die Wirklichkeit wird | |
eingeschrumpft und zugleich gespalten. | |
## „Kindische“ Unschuld | |
Den militanten Realisten, die an ihren eigenen Realismus so heftig glauben | |
wie ansonsten nur ein Paranoiker an seine Paranoia, stehen weder die | |
Spinner, Träumer, Utopisten, Visionäre noch die Fundamentalisten, | |
Ideologen, Überzeugungstäter gegenüber, sondern zunächst einmal ganz | |
normale Menschen, die Wünsche haben und Ideen. Der erste Feind des | |
Realismus ist die Unschuld. Deshalb nennen sich die Realisten gern „reif“ | |
und „erwachsen“ und alle anderen „kindisch“ oder „unreif“. | |
Dieser Realismus ist eine Krankheit, die nur schwer zu heilen ist, weil | |
sich die Realisten selber als ärztliche Autorität begreifen. Sie begreifen | |
alles, was ihrem Realismus zuwiderläuft, als „krank“, und das schließt | |
einfache Dinge wie Ehrlichkeit, Moral und Hoffnung ein. Daher kann der | |
realistische Politiker leicht verantwortungslos sein; für alles, was er tut | |
oder unterlässt, ist ja nichts anderes als diese Wirklichkeit zuständig, | |
die man nie und nimmer verändern kann. Nach dem Verschwinden der Götter und | |
dem Verlust der Geschichte ist diese Wirklichkeit das Maß aller Dinge und | |
die Entschuldigung für alles. Man darf sich gegen sie nicht versündigen. | |
Man kann sie aber im eigenen Sinne interpretieren. | |
Der realistische Politiker geht in die Politik, weil er dort angeblich | |
„etwas gestalten“ will. Sobald er aber an der Macht ist, erklärt er die | |
„Alternativlosigkeit“ seiner Entscheidungen. Eine realistische Entscheidung | |
ist die „genau richtige“, weil „einzig mögliche“, was zum Beispiel dur… | |
den „Wählerwillen“, die „Gesetzeslage“ oder die „Machtverhältnisse�… | |
legitimiert wird. Die realistische Politik entspricht insofern dem | |
Phantasma des freien Markts, als sich dort stets großes Chaos und | |
widerstrebende Impulse zur einzigen Wahrheit formen. So will sich auch der | |
realistische Politiker „natürlich“ verhalten. | |
## Politik ohne Subjekt | |
Einer der Preise, die dafür bezahlt werden müssen, ist die Trivialisierung | |
der Politik. Es lohnt nicht, Interesse an realistischer Politik zu zeigen. | |
Da sie die Verhältnisse widerspiegelt und kein politisches Subjekt mehr | |
kennt – gleichgültig, ob es sich um einen verkappten Mafioso oder eine | |
pflichtschuldige Beamtenseele handelt –, ist sie bloßer Widerschein. | |
Kein Drama, höchstens hier und da eine kleine Groteske (sexuelle | |
Verfehlungen oder gefälschte Doktorarbeiten). | |
Und so entsteht auch eine Art der realistischen Berichterstattung, eine | |
„realistische Presse“, die von einem schrumpfenden Heer von Schreibern | |
erzeugt wird, die sich eher als Berater, Propagandisten, Erfüller dieses | |
Realismus sehen und ihn außerdem bewachen: Der Politiker wird am ehesten | |
kritisiert, welcher den Pfad des politischen Realismus zu verlassen droht | |
(und sei’s, dass ihm eine verbale Fehlleistung unterläuft, die wirkliche | |
Absichten hinter der Anpassung an die Realität verrät). | |
Wenn sich aber Presse und Politik auf denselben „Realismus“ beziehen, | |
während man allenfalls noch um Stilfragen ringt, trivialisiert sich das | |
Verhältnis zwischen beiden. Die Gleichung zwischen realistischer Politik | |
und ihrem Medienecho provoziert das Verschwinden der Wirklichkeit. Denn | |
wenn die Dinge nun so sind, wie sie sind, sind sie irgendwie auch wieder | |
überhaupt nicht, da kann man nichts machen. Realistisch betrachtet, geht | |
diese politische Wirklichkeit immer weniger Menschen etwas an. Deshalb | |
loben sie sich Katastrophen und Promiskandale. | |
## Verwaltung als Zeitgewinn | |
Die realistische Politik gibt zwar vor, die Verhältnisse und auch Stimmung | |
und Wille des Volkes zu repräsentieren, bringt aber durch diesen | |
Rückkopplungseffekt das politische Subjekt zum Verschwinden. Alle Macht | |
geht vom Volke aus und wird wie ein Pingpongball zu ihm zurückgespielt. | |
Probleme löst man so nicht. | |
Realistische Politiker können auch gar keine Probleme lösen; was sie aber | |
gut können ist, Probleme verwalten. Wir können uns die Gesellschaft am | |
Übergang zur Postdemokratie als eine der ausgedehnten Problemverwaltungen | |
vorstellen. Nichts wird gelöst, aber alles registriert. Verwaltung gewinnt | |
der Macht Zeit. Zur gleichen Zeit aber werden Probleme durch Verwaltung | |
immer unlösbarer. | |
Der realistische Politiker hat eher selten das, was man Charisma nennt, | |
notwendig aber das aus Unterhaltung und Werbung bekannte „Image“. Er oder | |
sie drücken das Zutrauen in die Verwaltbarkeit und die Abwesenheit eines | |
beunruhigenden Lösungsvorschlags aus. Dass Angela Merkel das Image einer | |
„Mutti“ bekam, erklärt nicht nur einiges von ihrem politischen Erfolg, | |
sondern auch, kulturgeschichtlich und psychologisch, den Muttermythos in | |
Deutschland. Sie kann protektiv, aber auch ziemlich herzlos sein. Es gibt | |
nichts Trostärmeres, als von einer solchen Mutter berührt zu werden. | |
Es ist die Mutter, die uns den Realismus beibringt. Sie ist das Inbild des | |
militanten Realismus. Denn „realistisch“ ist, wie im normalen Alltagsleben, | |
so auch in der Politik, immer auch ein Synonym für Eigennutz. Wer zuerst an | |
sich selber denkt, ist ein Realist: Realistisch betrachtet, können wir | |
nicht das Sozialamt der Welt sein. Realistisch betrachtet, können wir uns | |
die Flüchtlinge nicht leisten. Realistisch gesehen, sollen die Griechen zum | |
Teufel gehen. Realismus ist, realistisch betrachtet, das Gegenteil von | |
Humanismus. | |
Und Deutschland ist eines der realistischsten Länder der Welt. | |
30 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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