# taz.de -- Schlagloch Nationalismus in Europa: Von politisch bis populistisch | |
> Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ kontert Angela Merkel mit „Mehr | |
> Freiheit wagen“. Die Folge ist mehr Nationalismus in Europa. | |
Bild: Freie Sicht? Langer Weg! Die Geschichte der europäischen Demokratie hat … | |
Wählt man eigentlich, um Demokratie als aktive politische Teilhabe zu | |
fordern, zu fördern oder zu verteidigen? Oder wählt man, um jene Kräfte zu | |
ermächtigen, die am nützlichsten für die eigene wirtschaftliche | |
Verbesserung oder zumindest den Erhalt des Status‘ erscheinen? | |
Was für eine Frage, hätte ein freundlicher Theoretiker in den fünfziger | |
Jahren noch gesagt. Das eine ist doch ohne das andere nicht vorstellbar. | |
Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus, nicht nur als ein ökonomisches | |
System von „Privatisierung“, „Deregulierung“ und „Globalisierung“, … | |
auch als Denkweise, sieht die Sache allerdings schon anders aus. | |
Hier gibt es nämlich zwei Arten von „Freiheit“: Die Demokratie versprach | |
die Freiheit durch die Politik. Die Bürgerinnen und Bürger sollten durch | |
Teilhabe, durch Information, durch das aktive und passive Wahlrecht, durch | |
rechtsstaatliche Instrumente der Kontrolle ihre Interessen durchsetzen und | |
ihre Freiheit entfalten, möglichst in immer weiteren Bereichen des | |
sozialen, politischen und kulturellen Lebens. | |
Das war das Programm von Willy Brandt, als er 1969 erklärte, man solle | |
„mehr Demokratie“ wagen; die Geschichte der Demokratie sei erst am Anfang. | |
2005 griff Bundeskanzlerin Angela Merkel das Ideogramm wieder auf und | |
sprach davon, „mehr Freiheit wagen“ zu wollen. Offensichtlich meinte sie | |
genau das Gegenteil von dem, was Willy Brandt im Sinne hatte. | |
## Freiheit Politik | |
Wie alle Adepten des Neoliberalismus versprach sie nicht Freiheit in der | |
Politik und Freiheit durch Politik, sondern Freiheit von Politik. Der homo | |
oeconomicus soll seine Fähigkeiten möglichst frei von Eingriff und | |
„Gängelung“ durch Staat, Bürokratie und Europa entfalten. Eine | |
„marktkonforme Demokratie“ ist das Projekt der Verschiebung der Freiheit | |
von der Politik auf die Ökonomie, der Umwandlung von Politik in | |
Anti-Politik. | |
Bis in die siebziger Jahre hinein glaubte man, der Kapitalismus habe seine | |
zyklische Krisenproduktion überwunden. Doch mit den neuen Krisen kam auch | |
der Widerspruch zurück: Um die notwendigen Korrekturen nach den jeweiligen | |
Krisen durchzuführen, musste die Ökonomie verstärkt nach der Politik | |
greifen und sie daran hindern, die Freiheit der Marktentfaltung zu | |
reduzieren. | |
Dass die Politik selber zum Mittel wurde, den Märkten eine Freiheit von der | |
Politik zu gewährleisten, führte natürlich dazu, dass die Freiheit durch | |
Politik, also mehr als die punktuellen Berührungen durch Wahlen, ein | |
Projekt der Demokratisierung des Lebens obsolet wurde. Da Bürgerinnen und | |
Bürger zugleich auch „Marktteilnehmer“ waren, konnten sie auf diese | |
Verschiebung der Freiheit kaum angemessen reagieren. | |
Die Freiheit von Politik wuchs in den Krisen und in den Folgezeiten ins | |
scheinbar Unermessliche. Alle sollten von Deregulationen profitieren. Die | |
Unternehmen wurden frei, die Menschen auch Sonntags und Nachts arbeiten zu | |
lassen, und die Konsumenten wurden frei, auch Sonntags und Nachts | |
einzukaufen. Von jeder Freiheit, die der Ökonomie von der Politik gewährt | |
wurde, bekamen die Bürger ein klein wenig ab. Gleichzeitig verloren sie | |
immer mehr politische Freiheit. | |
## Parodistisches Extrembild Italien | |
Im Berlusconismus schuf sich diese absurde Anti-Politik – man wählt mehr | |
oder weniger demokratisch eine politische Kraft, die verspricht, die | |
Politik mehr oder weniger abzuschaffen – ein parodistisches Extrembild. | |
Aber eigentlich führten die geänderten ökonomischen Bedingungen in allen | |
europäischen Ländern in die Freiheitsfalle. | |
In Deutschland scheint bereits die Hälfte der Menschen für das Projekt der | |
„repräsentativen Demokratie“ verloren, um so mehr, als „Europa“ die Fe… | |
und Widersprüche dieses Systems nicht etwa zu korrigieren, sondern ins | |
Unermessliche zu steigern versucht. | |
Wenn überhaupt, dann nutzt man daher die Europawahl dazu, Signale zu | |
versenden oder ökonomische Vor- und Nachteile abzuwägen. Begeisterung sieht | |
jedenfalls anders aus. Es ist auch diese Begeisterungslosigkeit, die zum | |
Anti-Politischen, zum Apolitischen und zum Populistischen führt. | |
Der Widerspruch zwischen verschwindender Politik („Demokratisierung“) und | |
hegemonialer Antipolitik („Ökonomisierung“) erzeugt nicht nur den | |
Apolitischen, der keinen Zusammenhang zwischen seinem Leben und den | |
politischen Events zu sehen vermag, sondern auch einen verzweifelten, oft | |
bösartigen Versuch der Wiedergewinnung des Politischen. Die | |
Rest-Politischen, die Anti-Politischen und ein Teil der Apolitischen nennen | |
diese „Sammelbecken“ populistisch. | |
## Komm in mein Sammelbecken | |
Die Wiedergewinnung des Politischen durch nationalistische, offen | |
rassistische und antidemokratische Impulse ist gleichsam das negative | |
Abbild der hegemonialen Anti-Politik. Letzten Endes geht es in diesen | |
Bewegungen darum, die Demokratie (oder doch die Postdemokratie) | |
abzuschaffen, damit eine Art „Volk“ wieder Subjekt der Geschichte werden | |
kann. | |
In dieser dritten Verschiebung von Freiheit sammelt sich mehr als der böse | |
Bodensatz der westlichen Gesellschaften mit ihren wachsenden | |
Ungerechtigkeiten. Wir blicken in eine Zukunft Europas, das von Bürokraten, | |
Oligarchen und Halbfaschisten beherrscht wird. | |
Warum also haben wir gewählt? Haben wir die Rest-Demokratie verteidigt? | |
Haben wir die ökonomisierte Anti-Politik, dieses Versprechen, beim | |
Konsumieren, beim Karrieremachen, beim ökonomischen Spiel, weitgehend von | |
politischer Einmischung frei zu werden, voran gebracht? Wurde die | |
halbfaschistische Repolitisierung vorangetrieben, die Rechte und Freiheiten | |
immer nur für die jeweils eigene Klientel verlangen und alle anderen zum | |
Teufel gehen lassen? | |
Bildeten sich hier und dort Inseln eines klassischen | |
Demokratie-Verständnisses, die Freiheit durch Politik (und zwar für alle) | |
fordern, und nicht Freiheit von Politik? Inseln, die politische Kontrolle | |
der Ökonomie fordern anstelle von ökonomischer Kontrolle der Politik? Oder | |
geht alles genauso weiter wie vor der Wahl? Sicher ist nur: Die Geschichte | |
der europäischen Demokratie hat noch nicht einmal angefangen. | |
28 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Georg Seesslen | |
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