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# taz.de -- Sozialhilfe für EU-Bürger: Wer nicht arbeitet, soll gehen
> Ein neues Gesetz schließt EU-Bürger auf Jobsuche von Sozialleistungen
> aus. Die zuvor geltende Rechtsprechung wurde von Richtern boykottiert.
Bild: Kriegt nicht jeder EU-Bürger in Deutschland
Berlin taz | Von der Öffentlichkeit wenig beachtet ist zum Jahresbeginn ein
neues Gesetz in Kraft getreten, das Kritiker ein
„EU-Bürger-Ausschlussgesetz“ nennen. Tatsächlich regelt es den Ausschluss
von Bürgern der Europäischen Union von Hartz-IV-Leistungen und Sozialhilfe
– es sei denn, die Betroffenen haben durch eigene Arbeit Ansprüche
erworben.
Europäer, die sich auf Arbeitssuche befinden, haben dagegen nach dem neuen
Gesetz erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland Anspruch auf
Sozialhilfe. Was ihnen abseits dessen für den Fall bleibt, dass sie in der
Bundesrepublik nicht gleich Arbeit finden, sind einmonatige
Überbrückungsleistungen – etwa für Essen und Unterkunft – sowie ein
Darlehen für Rückreisekosten ins Heimatland.
Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat mit ihrem Gesetz auf ein
Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) reagiert. Die Richter in
Kassel hatte EU-Bürgern das im Dezember 2015 zwar keinen Anspruch auf Hartz
IV (Sozialgesetzbuch II) nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland
zugesprochen – aber auf Sozialhilfe (SGB XII). Diese wird in gleicher Höhe
wie Arbeitslosengeld II gewährt, zuzüglich der Kosten für die Unterkunft.
## Kritiker zufrieden
Der Ton der Reaktionen damals fiel rau aus. Dass Rumänen, Bulgaren oder
Italiener nach einem halben Jahr in der Bundesrepublik Anspruch auf
Sozialhilfe haben sollen, passte vielen nicht: weder den Kommunen mit ihrer
Angst vor steigenden Ausgaben noch der Mehrheit der Kommentatoren oder
Politiker. „Sozialtourismus“, „Missbrauch der Freizügigkeit“, „Fehla…
hieß es allenthalben. Nun hat Nahles die Kritiker der damaligen
Entscheidung zufrieden gestellt.
Doch die Erleichterung könnte von kurzer Dauer sein. Laut einem
Rechtsgutachten des Deutschen Gewerkschaftsbundes verstößt das neue Gesetz
der Arbeitsministerin nicht nur gegen europäisches Recht – sondern auch
gegen deutsches.
Auch die Neue Richtervereinigung, ein Zusammenschluss kritischer
Richterinnen, schrieb in einer Stellungnahme im Dezember: „Das Gesetz
schafft neue Rechtsunsicherheit, nachdem das Bundessozialgericht einen
gangbaren Weg gefunden hatte, die aktuelle Rechtslage mit den verfassungs-
und menschenrechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen.“
Der Berliner Anwalt Volker Gerloff, der für etwa 20 Kläger um die
Bewilligung von Sozialhilfe streitet, sieht die Sache so „Der Gesetzgeber
zwingt das Bundesverfassungsgericht zu einer Entscheidung.“ Die BSG-Richter
hatten sich bei ihrer Entscheidung, der ein jahrelanger Rechtsstreit, auch
auf EU-Ebene, vorausgegangen war, explizit auf ihre Kollegen vom
Bundesverfassungsgericht berufen.
Die hatten 2012 geurteilt, dass die Gewährung eines Existenzminimums ein
aus dem Grundgesetz ableitbares Menschenrecht ist, welches deutschen und
ausländischen Staatsbürgern gleichermaßen zusteht. Das BSG nannte
formulierte lediglich die Bedingung eines „verfestigten Aufenthalts“, von
dem nach sechs Monaten ausgegangen werden kann.
Einer Entscheidung über das Nahles-Gesetz durch das Verfassungsgericht
blickt Anwalt Gerloff zuversichtlich entgegen. Er sagt aber auch: „Hier
steht nicht weniger auf dem Spiel als das Selbstverständnis des deutschen
Staates als sozialer Rechtsstaat – daher lohnt es sich, weiter zu kämpfen.“
## In der Obdachlosigkeit gelandet
Gerloff kämpft seit Langem für Mandanten, die an Jobcenter oder Sozialamt
gescheitert sind – und stieß trotz der höchstrichterlichen Entscheidung
immer wieder an Grenzen. Besonders am Berliner Sozialgericht, mit 200
Kammern das größte in Deutschland, weigerten sich viele Richter ein Jahr
lang, dem BSG-Urteil zu folgen.
Anders zu entscheiden ist zwar ihr gutes Recht, doch wurden Entscheidungen
verschleppt, und auch Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz, also die
vorläufige Gewährung der Leistungen bis zur Entscheidung in der Sache,
wurden abgelehnt, wie Gerloff sagt. Einige seiner Mandanten, denen die
Mindestsicherung verwehrt wurde, sind in dieser Zeit in der Obdachlosigkeit
gelandet.
Gerloff spricht von einer „enthemmten Justiz“, angelehnt an die
Rechtsextremismus-Studie „Enthemmte Mitte“. Sein Vorwurf hat es in sich:
Die Richter des Berliner Sozialgerichts hätten die Anwendung des Rechts
durch nationalistische Fantasien ersetzt. Auch ein Richter des SG Berlin,
der anonym bleiben will, spricht vom „enorm großen Widerstand“ einiger
seiner Kollegen gegen das BSG-Urteil.
Durch das neue Gesetz können sich die aufständischen Richter im Nachhinein
bestätigt fühlen. Tatsächlich verging im Dezember 2015 nur eine Woche, bis
ein junger Richter auf Probe der 149. Kammer des SG Berlin die Klage eines
bulgarischen Staatsbürgers auf Leistungen zur Sicherung des
Existenzminimums abwies. Seiner Auffassung nach, hätten EU-Bürger weder
Anspruch Hartz IV noch auf Sozialhilfe.
## „Seid umarmt, Ihr Rumänen“
Die Urteilsbegründung des obersten Gerichtes war noch nicht veröffentlicht
– da ging das Gericht mit dem Urteil des Proberichters bereits in die
Offensive. Triumphierend wurde in einer Pressemitteilung verkündet: „Keine
Sozialleistungen für Unionsbürger auf Arbeitssuche – Sozialgericht Berlin
widerspricht dem Bundessozialgericht.“ Hinzu fügte die Pressestelle einen
Hinweis auf die Kritik, die das BSG-Urteil ausgelöst hatte, indem sie eine
Kolumne von Spiegel-Autor Jan Fleischhauer zitierte. Überschrift: „Seid
umarmt, Ihr Rumänen“.
Dieses Ressentiment wird besonders gern bemüht: Rumänen und Bulgaren,
vorzugsweise Sinti und Roma, könnten in Massen in Versuchung geraten, den
ärmlichen Zuständen ihrer Heimatländer zu entfliehen, um deutsche
Sozialleistungen abzugreifen. Dabei sind die Zahlen übersichtlich. Die
Statistik der Bundesagentur für Arbeit wies für Oktober etwa 334.000
Arbeitssuchende aus dem EU-Ausland aus. Aus Bulgarien waren 49.000, aus
Rumänien 44.000 Menschen arbeitssuchend gemeldet. Wie viele von ihnen sich
bereits seit mehr als sechs Monaten in Deutschland aufhielten und daher bis
dato Anspruch auf Sozialhilfe hatten, geht aus den Zahlen nicht hervor.
Dass die Befürchtungen vor einer Massenzuwanderung ins deutsche
Sozialsystem unbegründet waren, gab auch Ministerin Nahles indirekt zu,
nachdem das Bundeskabinett ihr neues Gesetz im Oktober abgenickt hatte: Nur
wenige Menschen seien von der Neuregelung betroffen – aber das bestehende
Schlupfloch habe die Ministerin trotzdem rechtzeitig schließen wollen.
Der Richter und Pressesprecher des Berliner Sozialgerichts, Marcus Howe,
der auch die Pressemitteilung verfasste, verteidigt gegenüber der taz die
Entscheidungspraxis seiner Kollegen im vergangenen Jahr – und nennt die
Haltung des BSG „erstaunlich“. Für ihre Entscheidung, so Howe weiter,
hätten die Richter in Kassel „einige Auslegungsschritte“ vornehmen müssen.
Howe nennt zwei Hauptkritikpunkte: Einerseits habe das BSG seine
Kompetenzen überschritten, indem es das Recht nicht nur ausgelegt hätte,
sondern mit dem Urteil erst geschaffen habe. Dafür wäre eine Vorlage beim
Bundesverfassungsgericht notwendig gewesen. Andererseits gebe es Zweifel,
ob das Grundgesetz jedem in Deutschland lebenden Menschen ein
Existenzminimum zubillige, sofern auch sein Heimatland ausreichende
Sozialleistungen garantiert und eine Rückkehr zumutbar ist.
## Ausgehungert nach Hause
Genau das werden die Karlsruher Richter entscheiden müssen. „Mit derselben
Argumentation könnten auch deutsche Arbeitslose an die Tafeln oder sonstige
karitative Einrichtungen verwiesen werden,“ sagt Gerloff. Der Berliner
Anwalt meint, dass Menschen „ausgehungert“ werden sollen, um sie zur
Ausreise zu zwingen, oder auch: „Ausländer raus als juristisches Prinzip“.
Gerloff betont, dass sich die betroffenen Menschen legal in Deutschland
befinden und nicht etwa zur Ausreise aufgefordert seien. Dies ist
gesetzlich nach drei Monaten möglich, findet in der Praxis aber so gut wie
keine Anwendung. Viele seiner Mandanten leben bereits seit vielen Jahren im
Land.
Trotz ihrer ablehnenden Haltung sprachen die Richter am SG Berlin nahezu
keine Urteile in Klageverfahren, die Gerloff und seine Kollegen zunächst
beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in Potsdam und dann bis zum BSG
hätten anfechten könnten. Verhandlungstermine wurden nicht angesetzt oder
die Verfahren ruhend gestellt. Eine klare Hinhaltetaktik, auch wenn Howe
sagt: „Das ist mir unbekannt“. Einige Entscheidungen, die es doch nach
Potsdam schafften, sowohl im Eilrechtsschutz als auch in der Sache, wurden
dort kassiert.
Dass sich einige Berliner Richter um Entscheidungen drückten, erklärt
Gerloff mit der Sorge vor der Revision, die sie dann zwingend zulassen
müssten. Dann drohte nämlich Ungemach: Denn die Richter des BSG ließen
keinen Zweifel daran, dass sie ihre Rechtsprechung nicht ändern würden.
Mitte Juni waren gar zwei Richter aus Kassel am SG Berlin und warben in
einer Veranstaltung für ihre Auffassung. Ohne Erfolg. Auch der kritische
SG-Richter spricht vom „Machtmissbrauch“ einiger Kollegen. Diese hätten
Entscheidungen verschleppt weil sie wussten, dass sie damit rechtlich
scheitern.
Unterdessen liegt in Karlsruhe bereits eine Vorlage des Sozialgerichts
Mainz. Diese argumentiert gegen das BSG-Urteil von einer ganz anderen
Seite: Weil die Kasseler Richter entschieden haben, dass der
Ermessensspielraum der Sozialämter bei der Gewährung der Hilfen nach dem
Sozialgesetzbuch XII auf null reduziert sei, würde der grundrechtliche
Anspruch auf Existenzminimum nicht erfüllt. Gerloff hofft nun auf eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, „an die sich dann hoffentlich
auch die Richter der unteren Gerichte halten werden“.
11 Jan 2017
## AUTOREN
Erik Peter
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