# taz.de -- Realität und Jobcenter: Die anderen Kinder von Rathenow | |
> In Rathenow sollen Jugendliche lernen, wie Arbeiten geht. So hat es ihnen | |
> das Jobcenter verordnet. Die Probleme beginnen viel früher. | |
Bild: Frau Dinse hilft jungen Menschen aus Rathenow ins Leben | |
RATHENOW taz | Das Unheil kommt per Post, und dieses Mal hat es Dennis | |
erwischt. Vor Tagen schon, aber er will davon nichts wissen. Also öffnet | |
die, die für ihn nur „Frau Dinse“ heißt, den Umschlag. Dann sagt sie: | |
„Scheiße“. Dennis schweigt. | |
Dennis ist 24 Jahre alt und bekommt Hartz IV. Er sitzt im Büro von Kerstin | |
Dinse, einer Sozialpädagogin der Akademie Seehof, in einem Flachbau im | |
Industriegebiet der brandenburgischen Stadt Rathenow. Weil das Jobcenter | |
das so angeordnet hat. Sie soll ihm helfen, in die Berufswelt zu finden. | |
„Aktivierung“ heißt das in der Jobcenter-Sprache. Heute muss sie ihm helfen | |
zu verstehen, was das Jobcenter schon wieder von ihm will. | |
Im Brief steht: Er sei seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen, also | |
wird ihm ab Februar das Geld entzogen, komplett. Dennis hat einen Antrag | |
nicht rechtzeitig eingereicht, ein früherer Arbeitgeber seinen Job nicht | |
bestätigt, Versicherungsnachweise und Kontoauszüge fehlen. Manchmal öffnet | |
Dennis solche Briefe wochenlang nicht. Denn sie kommen aus einer Welt, wo | |
Menschen ihren Anteil für die Gesellschaft zu leisten haben. | |
Dennis hat damit ein Problem und noch viele andere mehr. Deshalb heißt er, | |
wie alle Jugendlichen in diesem Text, eigentlich anders. Er hat zwei | |
angefangene Ausbildungen hinter sich und einen Drogenentzug. Und wenn man | |
ehrlich ist: Das ist gar nicht mal so schlecht, immerhin hatte er sich | |
schon mehrmals erfolgreich beworben. Erfolg ist ein Begriff, der hier eine | |
andere Bedeutung bekommt. | |
Rathenow. 24.000 Einwohner. Zu den größten Arbeitgebern der Region gehören | |
Amazon und Zalando und ein Klinikkonzern. Rund 10 Prozent der Menschen im | |
erwerbsfähigen Alter haben keine Arbeit, weil es keine gibt. Oder sie | |
befinden sich in Schulungsmaßnahmen, so wie die 21 jungen Männer und | |
Frauen, die derzeit in einem sechsmonatigen Kurs an der Akademie lernen | |
sollen, wie das geht mit der Arbeitswelt, früh aufzustehen, Verpflichtungen | |
einzuhalten, verlässlich zu sein. | |
## Jugendliche mit multiplen Vermittlungshemmnissen | |
Keiner von ihnen hat eine Berufsausbildung, wenige ein Praktikum bis zum | |
Ende geschafft, dafür die meisten Kinder und Schulden. Offiziell heißen | |
sie: „Jugendliche mit multiplen Vermittlungshemmnissen, | |
Verweigerungshaltung für Aktivierungs- und Integrationsmaßnahmen“. Dennis, | |
der mit dem Jobcenter-Brief, sagt: „Man lernt hier, dass es doch irgendwie | |
einen Weg gibt.“ | |
Er fällt in dieser Gruppe auf. Große Augen im kantigen Gesicht, statt | |
Jogginghosen und Sneakers trägt er Jeans und Hemd über einem T-Shirt, die | |
Lederschuhe geputzt. Womit Dennis auch auffällt: Er ist leise. | |
Oft sitzt er einfach nur so da am Tisch, hört zu, aber lacht nicht mit, | |
wenn die anderen über Videos mit Affen lachen oder von der durchkifften | |
Nacht erzählen. Lange lief bei Dennis alles geradlinig. Er macht einen | |
Realschulabschluss, Notenschnitt 2,9, mit seiner Band spielt er Songs von | |
AC/DC und REM auf Stadtfesten, beginnt eine Lehre zum Elektroniker, echte | |
Niederlagen kennt er nicht. Wie die meisten seiner Freunde zieht er weg aus | |
Rathenow. Dann fällt er durch die Prüfung. Zweiter Anlauf: schulische | |
Ausbildung in Berlin, abgebrochen nach zwei Jahren. Die erste | |
Jobcenter-Maßnahme: abgammeln vor Computern. Er zieht wieder zu Hause ein. | |
Stress mit den Eltern, Stress mit der Freundin. Gras, Speed, Koks, | |
Stechapfel. Um die Drogen zu finanzieren, verkauft er seine Instrumente. | |
Abhängigkeit. Einsamkeit. | |
Trotzdem macht er weiter. Jobbt am Fließband. Jobbt an der Kasse bei dm. | |
Schreibt Bewerbungen für Ausbildungen, rennt als Packer durchs Lager von | |
Amazon. Kein schlechter Job, gute Bezahlung. Im vergangenen Sommer versucht | |
er, sich umzubringen. Das ist sein neuestes Vermittlungshemmnis. | |
## Die tagesaktuellen Katastrophen | |
Kerstin Dinse braucht eine Pause. Kohl, Gehacktes, Apfelkompott und Ruhe. | |
Beratungszeit mit der Kollegin. Über ihrem Schreibtisch hängen Bilder, ihr | |
Name als Graffiti und eine Elfe, die ihr ein Teilnehmer auf eine Holzplatte | |
gemalt hat. Die fehlt nun in dessen Kleiderschrank. Jeden Tag um 9.30 Uhr | |
stürmen die Jugendlichen in ihr Büro, laden die tagesaktuellen Katastrophen | |
ab und gehen dann eine Rauchen. | |
Jobcenter-Termin vergessen. Lebenslauf für die Bewerbung nicht | |
nachgereicht. Eltern, die selbst Hartz IV beziehen und trotzdem von ihren | |
Kindern fordern, einen Anteil zur Miete aufzutreiben. | |
Weiß sie, dass jemand kein Geld für Essen hat, bietet sie ihm Toastbrot und | |
Pfandflaschen an, sie antwortet der früheren Teilnehmerin, die per WhatsApp | |
wissen will, wie noch mal dieser Auflauf geht, korrigiert Eileens | |
Lebenslauf. Sie fragt, wem sie den schicken will. „Vergessen“, antwortet | |
Eileen. So geht das jeden Tag. | |
„Wir versuchen, den Jugendlichen die Angst zu nehmen“, sagt Frau Dinse. | |
Angst davor, Assis zu sein, die nur schmarotzen. Angst davor, sanktioniert | |
zu werden. Angst davor, ehrlich zu reden. Deshalb dürfen die Teilnehmer in | |
der Akademie darüber sprechen, dass sie Drogen nehmen. Die Nacht vor | |
Berliner Spätis versoffen haben. Dass schon wieder der Strom oder das Handy | |
abgestellt wurden. Nicht wissen, wie sie ihren Freund überreden sollen, auf | |
die Kinder aufzupassen, um eine Ausbildung annehmen zu können. Und | |
überhaupt: Sagen zu dürfen, dass die Kinder sie anstrengen. Hier, in Frau | |
Dinses Büro, werden die Jugendlichen selbst wieder Kinder. | |
Kerstin Dinse ist keine Lehrerin, die Jugendlichen beibringt, wie man | |
Bewerbungen schreibt. Sie ist Übersetzerin, von der Jobcenter-Welt, in der | |
es um Pflichten geht und Leistung, zum Chaos, in dem die Jugendlichen leben | |
– und zurück. Wer in ihren Kurs kommt, soll am Ende die andere Welt wieder | |
verstehen können. | |
## „Ich will ein Baum sein. In einem schönen Wald“ | |
Eine Übung: Weiter denken als bis zur nächsten Hartz-IV-Zahlung. „Ich | |
weiß“, sagt Frau Dinse, „dass fünf Jahre für euch eine lange Zeit sind. | |
Aber denkt darüber nach: Was wünscht ihr euch?“ | |
Felix: „Ich wünsche mir, nicht umziehen zu müssen.“ Vierzehnmal musste er | |
das bereits, gerade hat er gar keine Wohnung und schläft auf der Couch bei | |
Freunden. | |
Nicole: „Ich will ein Baum sein. In einem schönen Wald, mit Moos und | |
Pilzen.“ Dann überlegt die vierfache Mutter, deren Freund bald in den Knast | |
muss. „Ein Mensch will ich jedenfalls nicht mehr sein.“ | |
Eileen: „Die Zeit fünf Jahre zurückzudrehen.“ Keine Kinder, keinen Mann, | |
dafür eine Ausbildung. Einzelhandel. Sie ist 23 Jahre alt und hat eine | |
Tochter und einen Sohn. Ist der Kurs für andere eine Anordnung des | |
Jobcenters, ist er für Eileen eine Auszeit. Gerade hat sie darum gebeten, | |
weitere sechs Monate bleiben zu dürfen. Fortschritt, findet Kerstin Dinse. | |
Fragt man Eileen, wie sie als Jugendliche so war, antwortet sie: | |
„Alkoholikerin und gelb.“ Heute trägt sie schwarzes Haar, glitzernde | |
Fingernägel und Sneakers mit Goldverzierung. Vielleicht war ihre frühe | |
Schwangerschaft ein Glück, jahrelang trank sie, nahm Drogen, außer Partys | |
gab es nicht viel, was sie wollte. Dann das erste Kind, endlich wieder | |
nüchtern von einem Tag auf den anderen, dann die Ernüchterung: Für | |
alleinerziehende Mütter mit Hauptschulabschluss ist es fast unmöglich in | |
Rathenow Arbeit zu finden. | |
## „Ein stinknormales Leben.“ Hast du das nicht? | |
Sie habe einen sehr guten Eindruck hinterlassen, sagte ihr der Chef des | |
Supermarkts, in dem sie im Dezember Praktikantin war. Die Ausbildungsstelle | |
bekommt trotzdem eine andere. Ihr Glück sucht Eileen in neuen Schuhen, | |
Hosen, Jacken, die fast jeden Tag per Post bei ihr eintreffen. Früher | |
putzte sie ihre Wohnung, stundenlang, weil sie nicht wusste, was sie sonst | |
mit der Zeit anfangen soll. Lebenssinn, noch so ein Begriff, der hier in | |
Rathenow wenig bedeutet. | |
Dennis macht nicht mit bei den Überlegungen zur Zukunft. Erst später gibt | |
er zu, wie klein seine Träume geworden sind. Er wünscht sich eine | |
Ausbildung, Veranstaltungstechniker am liebsten oder Notfallsanitäter, | |
Kaufmann, wenn es sein muss. Regelmäßige Arbeitszeiten, ein Bier mit den | |
Kumpels zu trinken, auch mal Feiern gehen zu können. „Ein stinknormales | |
Leben.“ Hast du das nicht? „Mit 300 Euro kann man nicht leben.“ Ohne Trä… | |
aber auch nicht. Sein letzter ist ihm im Behördenwirrwarr abhanden | |
gekommen: Schweden. | |
Einige Teilnehmer dürfen ins Ausland reisen. Jugendliche, die keinen Urlaub | |
kennen. Für die Probearbeit in einem Betrieb eine Herausforderung ist. Zwei | |
Monate sollen sie in italienischen Handwerksbetrieben arbeiten oder in | |
schwedischen Kindergärten. Rauskommen, durchatmen, Erfolge erleben, darum | |
geht es bei dem Programm. Dennis will mit. Kerstin Dinse hält das für eine | |
gute Idee, das Jobcenter auch. | |
Doch dann, im Januar, wird Dennis eine neue Sachbearbeiterin zugeteilt. Die | |
bestimmt, dass er schnell Arbeit finden muss. Für eine Ausbildung, meint | |
sie, sei es für ihn jetzt zu spät. Nach Schweden soll er nicht fahren. Im | |
Auftrag des Staats entscheidet sie: Dennis’ Interessen müssen gegenüber den | |
Interessen der Allgemeinheit zurückstehen. „Scheiße“, sagt Kerstin Dinse | |
dazu. Dennis schweigt. | |
26 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
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