# taz.de -- Unter Armen: Der Stolz bleibt | |
> Bremerhaven-Lehe ist der ärmste Stadtteil im Norden. Die Verwahrlosung, | |
> nach der Medien hier immer wieder suchen, ließe sich auch anderswo | |
> finden. | |
Bild: Nach dem Niedergang: Der Stolz in Lehe ist geschrumpft, doch man hat sich… | |
BREMERHAVEN/BERLIN taz | Es muss etwas in Bremerhaven geben, das bei | |
Außenstehenden fiebrige Visionen auslöst. Vielleicht sitzt die Stadt auf | |
einer Erdspalte, aus der giftige Dämpfe ausströmen, so wie im griechischen | |
Delphi, und die Bremerhavener selbst sind diesem Gift mit der Zeit | |
gegenüber resistent geworden. Dann aber wäre es ein Gift, welches vor allem | |
Boulevard-Journalisten betört, Journalisten vom Spiegel oder Sat.1. Sie | |
kommen nach Bremerhaven und sehen der Apokalypse ins Auge. Das klingt | |
schlimm, schlimmer, es klingt: am schlimmsten. | |
Am allerallerschlimmsten aber ist der Bremerhavener Stadtteil Lehe. Laut | |
Schuldneratlas des Wirtschafts- und Inkassodienstleisters Creditreform | |
einer der ärmsten Stadtteile Deutschlands und jener Bezirk, in dem ich die | |
zweite Hälfte meiner Jugend und meine Eltern den ihrigen Teil ihres | |
Arbeitslebens verbracht haben. Sie wohnen noch heute dort in einer schönen | |
Jahrhundertwende-Villa. Und nein, mein Vater ist kein Drogenbaron wie El | |
Chapo. Er ist Journalist [1][bei der Nordsee-Zeitung] Bremerhaven. Und | |
nein, er dealt auch nicht nebenbei, soweit ich weiß. Auch meine Mutter | |
dealt nicht, sie unterrichtet Ballett. | |
Lehe ist einer der wenigen zentrumsnahen Stadtteile Bremerhavens, der vom | |
Luftangriff der Nacht des 18. auf den 19. September 1944 verschont | |
geblieben ist. Fährt man aus Mitte herüber, dann überquert man eine | |
magische Grenze, die Grenze zwischen den 1950er-Jahren und der Gründerzeit. | |
Man biegt vom Freigebiet auf die Hafenstraße ein, eine schnurgerade Allee. | |
Rechter Hand Grundstücke, die am verschlungenen Fluss Geeste liegen, auf | |
den auch der Garten meiner Eltern trifft. Gegenüber der Geeste grasen | |
Ochsen. Dahinter kommt quasi nichts mehr bis Hamburg. Zur Linken läuft die | |
Goethestraße parallel. | |
Hier ist mein Vater aufgewachsen, hier befand sich das Geschäft meiner | |
Großeltern, Kriegsgeflüchtete aus Berlin und Pommern. Er spielte in der | |
Goethe Fußball und schaute Samstagnachmittags in der Kneipe an der Ecke | |
„[2][Fury]“. Viele seiner Kollegen wohnen im Grünen am Stadtrand, er wohnt | |
noch immer im Bezirk, in seiner alten Nachbarschaft. In einem | |
Arbeiterbezirk, in dem der Stolz nach dem Niedergang von Fischerei und | |
Schiffbau kleiner geworden ist. Was nicht heißt, dass man sich hier | |
aufgegeben hätte. | |
Das suggeriert ein Beitrag von Sat.1, in dem ein Reporter durch Lehe läuft | |
und von Armut, Kriminalität und Leerstand spricht. Ein junger Mann hält | |
einen Hund auf dem Arm, den hätte er einem verwahrlosten Obdachlosen | |
abgenommen. Schlimmergeht’snatürlich nicht. | |
## Hütchenspielertrick des Establishments | |
Dialektisch am [3][Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte] geschult war | |
mir Leichtmatrose der Revolution natürlich sofort klar: Hier sollen Ärmste | |
den Armen vorgeführt werden – um von der eigenen Tristesse abgelenkt zu | |
werden, um nicht verbündet der Haute Bourgeoisie die Paläste einzurennen. | |
Ein alter Hütchenspielertrick des Establishments. Das Bild, das blieb, war | |
jedenfalls jenes des ärmsten Stadtteil Deutschlands. Armut gibt es | |
natürlich in Lehe, aber die selektive Verwahrlosung, die hier aufgespürt | |
wird, könnte man so auch in Berlin-Mitte finden. Meine Erinnerungen sind | |
andere. Sie sind persönlich, individuell, vielleicht aus dem Elfenbeinturm | |
heraus gesehen. Aber nichtsdestotrotz: wahr. | |
Das Haus meiner Eltern, in welches wir Anfang der 90er-Jahre zogen, war | |
damals völlig verwaist. Eine alte Jahrhundertwende-Villa, der verstorbene | |
Besitzer wohlhabend und exzentrisch. Die Fenster zur Straße waren | |
abgehangen wie die wenigen verbliebenen Möbel, die Sonne verfing sich im | |
aufgewirbelten Staub, die Fenster zum Garten waren zugewuchert. Ein | |
magischer Ort, aus der Zeit gefallen, eine Trutzburg gegen die Welt. | |
Nach Jahren der „Finsternis“ mit nur drei TV-Kanälen gab es hier weite | |
Fluchten und Kabelfernsehen. Am ersten Abend lag ich im leeren Wohnzimmer | |
und schaute Kabel 1. Es lief der „Prinz aus Zamunda“ mit Eddy Murphy, der | |
im Getto von Queens seine große Liebe findet. Das passte ja irgendwie. | |
Wenn man aufs Dach steigt, sieht man das Gelände vor der Stadthalle, auf | |
dem damals der Jahrmarkt stattfand. Dort, am Schießstand, steckten mir als | |
Kind fremde Menschen Geld zu, damit ich weiterschoss. Ich traf jedes Mal | |
wie ein ausgebildeter Sniper, was meine pazifistischen Eltern sicher | |
beunruhigte. Weiter hinten der Hafen, die Kräne der Stromkaje und der | |
Columbusbahnhof, von dem die Ozeanriesen nach Amerika abgefahren sind. | |
## Das vermeintliche Ghetto | |
Man sieht bei gutem Wetter die Wesermündung und ahnt dahinter fast schon | |
New York. Man sieht dies alles von Lehe aus, dem vermeintlichen Ghetto, dem | |
mutmaßlich ärmsten Stadtteil Deutschlands, in dem Mülltonnen brennen sollen | |
und Arbeitslose ihre Hunde verwahrlosen lassen. | |
Schräg gegenüber unseres Hauses in der Hafenstraße hatten Freunde meiner | |
Eltern, Pipo und Janine, ihr vom Magazin Feinschmecker ausgezeichnetes | |
italienisches Restaurant. In dem habe ich meine erste Dorade selbst | |
filetiert und nach der Schule mit den Jungs der Familie, Giuseppe und | |
Fabrizio, [4][Vitello Tonnato] vorgesetzt bekommen. Wir saßen hier | |
beisammen und waren neidisch auf den ältesten Sohn Benedetto, denn der | |
hatte längst eine Freundin, sah cool aus und spielte für die Jugend von | |
Werder Bremen. Dagegen waren wir natürlich ganz kleine Nummern. | |
Ein paar Geschäfte daneben lag unser Videoladen, in dem die Auswahl an | |
Pornos zugegeben besser war als jene an Arthouse-Filmen. Die Hafenstraße | |
hinunter gab es Secondhandläden die Labyrinthen glichen, in denen ich mit | |
meiner Mutter nach Schätzen suchte. Im alten Kino gegenüber der Kirche | |
sahen Giuseppe und ich „Weiße Jungs bringens nicht“ mit Wesley Snipes und | |
Woody Harrelson und träumten mit nur 1,70 Meter Körpergröße von einer | |
Karriere in der NBA. Dann kam die Nordsee-Zeitung, bei der mein Vater | |
arbeitete, in der ich die Agenturmeldungen aus Nadeldruckern rattern sah | |
und an seinem Arbeitsplatz zum ersten Mal etwas in die Suchmaske von Google | |
tippte. Ich glaube [5][die drei Buchstaben R, A und F]. | |
An der Zeitung lag [6][ein weiteres Kino, das „Atlantis“], in dem wir „Wh… | |
we were Kings“ über Muhammad Alis legendären Kampf gegen George Foreman | |
schauten und uns mit etwa 60 Kilo Kampfgewicht in den Ring von Kinshasa | |
dachten. Am Ende der Hafenstraße war damals die Tanzschule meiner Mutter. | |
Weiße, helle modernistische Räume mit schmalen Bauhausfenstern und Parkett, | |
auf denen hübsche Mädchen Pirouetten drehten. | |
## Giftige Dämpfe | |
Eine Ecke weiter dann noch ein Kino, das „Aladdin“, in dem wir an Giuseppes | |
Geburtstag mit den Jungs „Hook“ sahen und später auf der Straße zu fliegen | |
übten wie verlorene Jungen. Was für eine Traum- und Kinodichte im Getto das | |
war. Zugegeben: Mittlerweile sind all diese Kinos geschlossen. | |
Vielleicht sind es die giftigen Dämpfe aus den Bremerhavener Erdspalten, | |
das schlechte Thunfisch-Karma des Vitello Tonnato, das zu viel an Kino, das | |
Brom in der Meeresluft. Vielleicht ist der Grüne Tee meiner Mutter von | |
„Himmelstau“ doch hartes Designer-Dope, das Mehl Koks und der Zucker im | |
formschönen Streuer kristallines MDMA, sodass ich voll bis oben hin mit | |
synthetischer Liebe das Elend nicht sehen konnte. Vielleicht. | |
Aber vielleicht hat ein Ort wie Lehe, an dem mein alter Freund Moritz | |
gerade eine Art Künstlerkolonie anleiert und man mit EU-Mitteln die Schulen | |
saniert, an dem man beim Portugiesen für 10 Euro eine sensationelle | |
Fischplatte bekommt und die Penner im Park Arm in Arm mit meiner Schwester | |
heulen, weil unsere kleine Katze Pixie eine Woche verschwunden war – | |
vielleicht ist so ein Ort ja gar nicht so schlimm. Weder in der Erinnerung | |
noch im Hier und Jetzt. | |
Ruben Donsbach,34, verantwortlicher Redakteur für das MagazinFräulein,kommt | |
aus Bremerhaven und lebt in Berlin | |
15 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nordsee-zeitung.de/ | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=mDZ2uXULqy0 | |
[3] http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/marx_bonaparte_1869 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Vitello_tonnato#/media/File:Vitello_tonnato_2… | |
[5] https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=raf+ | |
[6] http://www.massenmedien.de/kino/bremerhaven/kinos.htm | |
## AUTOREN | |
Ruben Donsbach | |
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