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# taz.de -- Unter Reichen: Man spielt Tennis
> In Hamburgs Elbvororten leben die meisten Vermögenden. Wie ist es, dort
> aufzuwachsen, einen Habitus anzunehmen, der einem Tür und Tor öffnet?
Bild: Ortsspezifische Selbstverständlichkeiten: Man fährt Ski, übt Klavier u…
Ich kann mich noch sehr gut an das Missgeschick erinnern. Es passierte in
irgendeinem Sommer, als ich um die neun Jahre alt war. Ich hatte auf der
Übungswiese ein paar Bälle geschlagen und wartete danach auf dem Parkplatz
auf meinen Vater, der noch mit einem Caddy quatschte. Aus Langeweile zog
ich einen Golfball aus der Tasche, warf ihn in die Luft, ließ ihn auf dem
Boden aufspringen und fing ihn wieder auf.
Ich war ein ganz normales Kind der Hamburger Elbvororte und machte mir
wenig Gedanken. Ich lebte in der ortsspezifischen Selbstverständlichkeit
des „man“: Man spielt hier Tennis, Hockey, Golf, man fährt Ski,
zwischendurch übt man Klavier oder Geige – und man kann sich beim besten
Willen nicht vorstellen, dass ein Großteil der Bewohner dieser Stadt nicht
zu diesem „man“ dazugehört.
Und doch hatte ich manchmal das Gefühl, meine Familie gehörte selbst nicht
ganz zu dieser Elbvorort-Welt. Nach einer Partie Tennis, nach einer Runde
Golf setzten wir uns nie auf die Terrasse des Clubs, und dass mein Vater
lieber mit einem Platzwart als mit dem Clubmeister sprach, war mir auch
nicht verborgen geblieben. Wir und reich, wohlhabend, privilegiert? Das
konnte ja nicht sein.
Reich das waren die anderen, diejenigen, die wir Kinder Bonzen nannten: die
einen Swimmingpool im Keller hatten und im Garten auch einen, in deren Haus
eine englischsprachige Supernanny herumhüpfte, die dunkle Autos fuhren,
deren Geschwindigkeitsanzeige bis 260 reichte, und in deren Küche, die so
groß war wie unser Wohnzimmer, zwei Meter hohe Kühlschränke darauf
warteten, per Knopfdruck Eiswürfel in Longdrink-Gläser zu spucken.
Wir und wohlhabend? Das konnte wirklich nicht sein. Wenn wir ausnahmsweise
mal ein Eis essen gingen, gab es für uns Kinder immer nur eine Kugel, nie,
nie, nie den Spaghettieis-Teller! Eigene Anziehsachen wurden mir auch
nicht gekauft, alles kam von meinem Bruder, der es von unserem Cousin
mütterlicherseits hatte, der es von seinem Cousin väterlicherseits …
## Meiner Schwester war die Karre peinlich
Und dann war da noch unser Auto: Ein roter Polo, den schon meine Tante
gefahren hatte und auf dessen Dach eine Art Moos gedeihte! Meiner Schwester
war die Karre so peinlich, dass sie lieber, musste sie irgendwo hingebracht
werden, eine Ecke vor dem Ziel ausstieg, um nicht gesehen zu werden.
Mich störte das Auto weniger, ich war schon lange ausgestiegen, und zwar
aus meiner Autophase, damals, als ich mit sechs zur Schule zu radeln
begann. Aber an jenem Sommertag auf dem Parkplatz, als ich auf meinen Vater
wartete, stach mir der Zustand unseres Autos doch stark ins Auge, das Moos
auf dem Dach, der rostige Stoßdämpfer, das zerschlissene Polster der
Rückbank.
Jedenfalls entschied ich mich, nachdem ich den Golfball ein weiteres Mal in
die Höhe geworfen und ihn auf dem Boden hatte aufprallen lassen, wo er
aufgrund einer Unebenheit schräg weggesprungen war, um auf der Kühlerhaube
eines Jaguar zu landen, die Beule im Blech lieber nicht gesehen zu haben.
Ich wollte meine Eltern schließlich nicht in finanzielle Schwierigkeiten
bringen. Nachher müssten sie noch, so dachte ich, wie bei Monopoly zur
Begleichung des Schadens eine Hypothek auf unser Haus aufnehmen. Wofür sie
bestimmt nicht viel bekommen hätten.
Ich hielt das Haus für eine Bruchbude, es stammte tatsächlich aus einem
anderen Jahrhundert. Der Krempel darin schien mir ziemlich angestaubt,
Stühle mit seltsam geschwungenen Lehnen, Sessel, deren kurze Beine in
Löwenfüßchen ausliefen, dazu Ölschinken an den Wänden und Drucke, auf denen
Putten herumtollten oder die Helden der Ilias sich in Pose warfen. Wie sehr
beneidete ich da meinen Freund Dennis! Er wohnte in einiger Entfernung in
einem großen modernen Wohnblock. Mit Aufzug! Im zehnten Stock! Mit
Imbissbuden statt Bäumen gleich vor der Haustür! Wir waren nicht nur
unterprivilegiert, wir lebten auch am falschen Ort.
Ein Jahr danach kam ich aufs Gymnasium. Einen so schwer aussprechbaren
Nachnamen wie Dennis hatte unter meinen Klassenkameraden niemand. Was aus
Dennis geworden ist, weiß ich nicht. Die Wege trennten sich nach der
Grundschule und das war’s. Nur einmal noch, vier, fünf Jahre später, bin
ich ihm begegnet. Es war abends, bei irgendeiner Party und es war gut, dass
ich ihn kannte, denn er war ziemlich kräftig geworden, hatte ein paar Jungs
mitgebracht, die es auch waren, und schien sich umzusehen, was er mit
seiner Kraft anfangen sollte.
Auch in das Viertel, der Osdorfer Born, in dem Dennis lebte, kam ich nicht
mehr. Es spielte in unserem Alltag dennoch eine Rolle. Wenn sich einer aus
unser Klasse daneben benahm, rülpste oder sonst wie rüpelte, sagten wir:
„Ey, du Borner!“ Wir benutzten das ortsspezifische Herkunftsmerkmal
schlicht als Synonym für das Wort „Proll“.
Wir hatten es damals wirklich nicht leicht, eingekeilt zwischen Bornern und
Bonzen! Wo gehörten wir hin?
## „Ich wette, ihr könnt auch Latein!“
Zwei, drei Jahre später, mit siebzehn, achtzehn, entdeckten wir St. Pauli.
Die Bars, die Musik, die Melange aus unterschiedlichsten Menschen: Das zog
uns alles unwiderstehlich an (das Ausgezogene schreckte uns hingegen sehr).
Auf St. Pauli schienen die klaren räumlichen Grenzen zwischen den
unterschiedlichen sozialen Welten aufgehoben. Was auch hieß, dass ich erst
auf St. Pauli wieder mit dem Born in Berührung kam.
Eines Nachts stand ich mit zwei Freunden in einer Billo-Pizzeria am
Hans-Albers-Platz herum. Wir hatten einiges getrunken und sprachen sehr
angeregt über Literatur, Kunst oder Politik, im Gefühl, wir seien selbst
Literaten, Künstler, Politiker. Zwei Jugendliche hörten uns am Nebentisch
eine Weile zu. „Ich habe echt Lust, euch gleich eins auf die Fresse zu
geben“, sagte der eine. Der andere: „Ich wette, ihr könnt auch noch
Latein!“
Er hatte leider recht. Wir zogen es deshalb vor, uns zu retirieren – mit
einem gepflegten „Salve“ als dem Einzigen, was hängengeblieben war vom
Latein, das man uns über Jahre einzuprügeln versucht hatte. Aber es ging ja
nicht ums Wissen, wie wir später feststellten, wir Lateiner! Es ging um den
Habitus, der uns Tür und Tor öffnen würde. Auch auf St. Pauli. Etwa in den
Bars, an deren Tresen es um „Dekonstruktion“ ging, um
„Deterritorialisierung“ und „Reterritorialisierung“, um „disjunktive
Synthesen“. Das klang unseren Ohren fein nach Latein!
Als ich nach dem Abitur die Schule verließ, habe ich mich einige Jahre an
der Uni darum bemüht, dieses neue philosophische Latein zu lernen. Nebenbei
gab ich Fußball- und Basketballkurse an einer Förderschule – im Osdorfer
Born. Was ich dabei über mich und meine Herkunft, was ich dabei über die
Elbvororte, in denen ich aus Zufall mittlerweile wieder lebe, erfahren
habe, ist nicht viel. Ich weiß nun, dass sich hier einige in ihrem
künstlichen Paradies aus Homogenität und Reichtum verschließen und jedem
Populismus hinterherlaufen, der ihnen die Abschottung aufrecht zu erhalten
verspricht.
Daneben gibt es einige andere, die aus der einfachen und deswegen in der
Geschichte seit den Tagen Roms nur umso heftiger geleugneten Wahrheit, dass
Geld stinkt, die Überzeugung gewinnen, Wohlstand sei dafür da, geteilt zu
werden. Denn kein Geld stinkt auch.
Maximilian Probst, 38, volontierte bei der taz.nord, schreibt heute für die
Zeit und wohnt wieder in den Elbvororten.
14 Aug 2016
## AUTOREN
Maximilian Probst
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