# taz.de -- Die Schule in der Optimierungsfalle: Nur das Beste für mein Kind | |
> Spätestens nach der 4. Klasse sind Eltern aufgefordert, die beste Schule | |
> für ihre Kinder zu wählen. Muss das sein? Wie Eltern in die Verantwortung | |
> gedrängt werden. | |
Bild: Wenn es um die Wahl der "richtigen" Schule für ihr Kind geht, sind die E… | |
HAMBURG taz | In wenigen Wochen beginnt in Hamburg wieder das | |
Anmeldegeschäft. Für fast 30.000 Kinder müssen Eltern eine Grundschule oder | |
die weiterführende Schule ab Klasse fünf wählen. Im Kampf um die Schüler | |
schicken manche Schulen sogar schon PR-Agenturen vor. So zum Beispiel eine | |
Privatschule in der City-Süd, die zweisprachigen Unterricht auch in | |
normalen Fächern anbietet. Täglich fahren zwei Schulbusse über die | |
„Elbroute“ von Blankenese aus und die „Alsterroute“ von Eimsbüttel und | |
Eppendorf, um die jüngeren Kinder einzusammeln. Schulkleidung ist | |
erwünscht. | |
„Den richtigen Weg wählen“, heißt eine Broschüre der Stadt Hamburg, in d… | |
in Kurzform die 117 Stadtteilschulen und Gymnasien ihre Angebote | |
präsentieren. „Die Eltern sind schon aufgefordert, sich über die Schulen | |
und ihre Schulprofile zu informieren und die passende Schule für ihr Kind | |
zu wählen“, sagt ein Behördensprecher – gefragt, ob das denn sein müsse. | |
Das von der Wahl der Schule nicht so viel abhängen möge, wünschen sich | |
Eltern, die erleben, wie ihr Kind noch nicht mal auf die Grundschule | |
nebenan kommt, weil andere Eltern mit den Meldeadressen tricksen, die in | |
Hamburg darüber entscheiden, wen eine Schule nimmt und wen nicht. Die | |
Eltern tricksen, weil in Hamburgs inneren Stadtgebieten die Schülerzahlen | |
steigen. Sie tun es, weil diese oder jene Schule einen guten Ruf hat und | |
sie eine andere meiden wollen. | |
Eltern ziehen aus Vierteln weg, wenn sie dort keinen ausgeglichenen Anteil | |
von Angehörigen ihres eigenen Milieus haben, konstatierte schon 2008 die | |
Studie „Eltern unter Druck“ der Konrad- Adenauer-Stiftung. Und sie | |
handelten damit auch „höchst rational“, da sie wüssten, wie entscheidend | |
der Einfluss des Umfeldes für die Entwicklung des Kindes in den ersten | |
Jahren ist. Die Trennungslinie verläuft demnach zwischen Eltern, die sich | |
um ihre Kinder „kümmern“, sie „bewusst erziehen“, „intensiv fördern… | |
jenen, die die Entwicklung ihrer Kinder laufen lassen, so die | |
Studien-Herausgeberin Christine Henry-Huthmacher. Letztere seien etwas mehr | |
als ein Fünftel der Eltern. | |
## Gute Konzepte oder soziale Mischung | |
Geht es also gar nicht um gute Konzepte, die die Schulen unterscheiden, | |
sondern um die soziale Mischung? Mancher Schulleiter wundert sich, wie es | |
sein kann, dass er noch so viel Werbung machen kann und doch nicht mehr | |
Kinder kommen. In Hamburg wird jede der 117 Schulen einem Sozialindex | |
zugeordnet, diese Zuordnung ist öffentlich einsehbar. Die CDU hat im | |
Internet eine Schuldatenbank eingerichtet, in der Eltern den Index für jede | |
Schule nachschauen können, ebenso wie die durchschnittlichen Abi-Noten der | |
letzten Jahre. Aus dem jüngst veröffentlichen „Bildungsbericht 2014“ geht | |
hervor, dass der Lernstand der Kinder stark von eben dieser sozialen Lage | |
abhängt – allerdings nicht nur, wie Schulsenator Ties Rabe (SPD) im Vorwort | |
betont. Auch bei gleicher sozialer Lage einer Schule gebe es große | |
Leistungsunterschiede. Hier, bei der Verbesserung der Qualität der | |
Einzelschule, setzt er den Hebel an und nicht etwa bei der Schulstruktur, | |
über die zu reden in Hamburg tabu ist. | |
Und so werden in den nächsten Wochen wieder Mütter und Väter auf | |
Info-Abende und Tage der offenen Tür gehen und sich die Stadtteilschulen | |
und Gymnasien anschauen. Durch die Wahl der guten Institution und die | |
Abstimmung mit den Füßen, so eine seit Jahren propagierte Reform-Idee, | |
sollen Eltern zur Qualität beitragen. | |
Sabine Schäfer* hat in diesem Januar für ihre Tochter eine Schule gesucht. | |
Sie war verzweifelt, weil nur die mit dem Deutschen Schulpreis | |
ausgezeichnete Max-Brauer-Schule in Altona ihr wirklich gefiel. „Da haben | |
Schüler uns in den Klassen gezeigt, wie sie lernen. Das war sehr | |
anschaulich und schön zu sehen“, berichtet die Mutter. | |
## Seit Jahren überlaufen | |
Doch diese Schule gilt seit Jahren als überlaufen, deshalb schaute sich | |
Sabine Schäfer auch noch zwei Gymnasien an. „Da haben die Schüler eher | |
Waffeln gebacken“, berichtet sie. Und der Schulleiter hielt eine Rede: „Wir | |
legen Wert auf Leistung. Überlegen Sie, ob Sie ihr Kind hier anmelden.“ Sie | |
hätten dann ein „mulmiges Gefühl“ gehabt, sagt Schäfer. Trotzdem wurden | |
auch diese Gymnasien mit Anmeldungen überlaufen, mussten Container für | |
zusätzliche Klassen her. Denn die Alternative wären sonst nur noch andere | |
Stadtteilschulen mit niedrigem Sozialindex und negativem Image. | |
Schäfer meldete ihre Tochter an der Max-Brauer-Schule an, als zweiten und | |
dritten Wunsch nannte sie die beiden Gymnasien. In Hamburg werden die | |
Schulen nach Adressen zugeteilt, je näher man einer Schule wohnt, desto | |
eher kommt man zum Zug. Die Eltern wissen jedoch nicht, wie nah sie wohnen | |
müssen, um einen Platz an der Wunsch-Schule zu bekommen, das ändert sich in | |
jedem Jahr. Schaffen sie es nicht, und sind auch die als Zweit- und | |
Drittwunsch angegeben Gymnasien zu voll, "droht" den Kindern der Weg zu | |
einer weit entfernten Schule oder zu einer, auf der sie sie nicht sehen | |
möchten. Eine "Lotterie" nannten Eltern in St. Pauli dieses Verfahren, die | |
in einer Online-Petition gegen ein angebliches "Schulloch" in ihrem Viertel | |
protestierten - es gibt dort eine Stadtteilschule, aber die ist unbeliebt. | |
Ein Gymnasium gibt es nicht. | |
## Die Brille der Milieustudien | |
Durch die Brille der Sinus-Milieustudien betrachtet, ist der Konflikt auf | |
St. Pauli aufschlussreich. In den westlichen inneren Stadtgebieten | |
Hamburgs, zu denen St. Pauli gehört, wohnen nicht nur die "Etablierten" der | |
Oberschicht und die leistungsorientierten "Performer", sondern auch die | |
"Postmateriellen", die aufgeklärten Nach-68er. Letztere, so die | |
Folge-Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2013, haben massive | |
Kritik an der Ungerechtigkeit des Schulsystems, sind gegen eine | |
systematische Ausgrenzung sozial Benachteiligter und wahren Distanz zu | |
einer eindimensionalen Leistungskultur ohne Freude am Lernen. | |
De facto schickt die Mehrheit der innerstädtischen Eltern ihre Kinder | |
lieber aufs Gymnasium als auf die - durchweg vom Sozialindex her höher | |
belasteten - Stadtteilschulen. Und die Familien, vor allem die Mütter, | |
zahlen dafür einen gewissen Preis. Ihre Mitarbeit am Schulerfolg der Kinder | |
sei quasi eingeplant, so die Studie der Adenauer-Stiftung. Mütter der | |
Mittelschicht sähen sich nach Ende der Grundschulzeit "in der | |
Verantwortung, permanent über den Lernstoff auf dem Laufenden zu bleiben | |
und ihren Kindern zu helfen". | |
Die Studie basiert auf 255 mehrstündigen Interviews mit Müttern und Vätern | |
verschiedener Milieus. Dreiviertel von ihnen wünschen für ihr Kind das | |
Abitur. Das "Mantra", mehr Bildung sei wichtig für die Zukunft, setze | |
Familien unter Druck. Doch während die Oberschicht das Thema Schulerfolg an | |
professionelle Dienstleister - etwa Privatschulen - delegiere und Eltern am | |
unteren Rand der Gesellschaft sich mangels Resourcen zurückzögen, sei die | |
Mitte der Gesellschaft täglich mit Schule beschäftigt. | |
## "Ein mühsamer Leidensweg" | |
"Ich kenne viele Eltern, für die die Schule ein mühsamer Leidensweg ist", | |
sagt der Journalist und Schulaktivist Reinhard Kahl. Dort heiße es "Morgen | |
schreiben wir Klassenarbeit", und abends setze man sich dann mit dem Kind | |
hin und lerne. | |
"Ohne elterliche Unterstützung geht es meist nicht", sagt auch Michael | |
Schulte-Markwort, der als Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der | |
Uniklinik Eppendorf vielen erschöpften Schülern begegnet. "Die Kinder | |
wachsen mit dem Gefühl auf, dass sie anstrengend sind", sagt | |
Schulte-Markwort. Die Mütter arbeiteten, doch gleichzeitig gehe es in der | |
Schule nicht ohne ihre Hilfe. In seinem neuen Buch "Burnout-Kids", das im | |
Februar erscheint, kritisiert der Kinderpsychiater einen "enormen | |
Leistungsdruck" und fordert "ab sofort" kleine Klassen mit höchstens 15 | |
Schülern. Die Kinder bräuchten dringend mehr Zugewandtheit. Auch müsste es | |
endlich ein Schüler-Feedback für die Lehrer geben. Diese nähmen sich viel | |
zu viel heraus. | |
## Das Stärke-Schwächen-Profil | |
Dennoch sieht Schulte-Markwort die Eltern in der Pflicht, die Schule | |
sorgsam auszuwählen. Sie müssten ein "individuelles Stärke-Schwäche-Profil" | |
für ihr Kind erstellen: "Das erwarte ich von aufgeklärten Eltern." Für die | |
einen Kinder sei die Schule um die Ecke richtig. Für die anderen könne eine | |
entferntere Schule mit hoher Leistungsforderung richtig sein. Schließlich | |
brauche nicht jedes Kind ständig soziale Kontakte. | |
Aber beginnt mit der Schulwahl nicht der Einstieg ins Hamsterrad? Müssen | |
Eltern sich unablässig um die optimale Förderung ihrer Kinder kümmern? | |
Müssten sie sich nicht darauf verlassen können, dass ihr Kind in jeder | |
Schule gut aufgehoben ist? | |
Sabine Boeddinghaus, Mutter von fünf Söhnen und schulpolitische Sprecherin | |
der Linken in Hamburg, findet diesen Anspruch richtig. "Jede Schule muss | |
gut sein. Das benachteiligt sonst die Kinder, deren Eltern nicht wählen | |
können." Zudem sei der Unterricht an Schulen, die sich nach außen "toll | |
präsentierten", nicht zwingend gut. | |
Der schulpolitische Sprecher der Hamburger CDU, Robert Heinemann, will | |
dagegen mit der Schuldatenbank den Eltern das Wählen erleichtern. Man habe | |
die Datenbank eingerichtet, um Transparenz herzustellen, sagt er. Zum | |
Beispiel könnten Eltern dort erfahren, welche Schule frisch kocht oder wann | |
zuletzt die "Schulinspektion" vor Ort war und deren Berichte einfordern. | |
Die Frage ist nur, welche Eltern damit etwas anfangen können. Um die | |
Berichte der Schulinspektoren zu verstehen, brauche es "schon ein gewisses | |
Fachwissen", sagt Stefanie von Berg, schulpolitische Sprecherin der | |
Hamburger Grünen. Auch seien die Berichte oft etwas älter, und ob eine | |
Schule gut sei, könne sich auch sehr schnell ändern. Von Berg rät Eltern, | |
die künftigen Schulen mit ihren Kindern ruhig mehrmals anzuschauen. Manche | |
Schulen bieten für Kinder "Hospitationen" an, dann können sie einen Tag | |
lang schauen, wie das Klima ist. | |
Doch ist das Prinzip, dass die Eltern die Schule für ihre Kinder wählen, | |
überhaupt sinnvoll? Der Schulforscher Ulrich Vieluf hat da seine Zweifel. | |
"Ich verstehe nicht, warum das Elternwahlrecht so hoch gehängt wird", sagt | |
Vieluf. "Man spielt mit sehr vielen Unbekannten. Die Vorstellung, dass | |
Eltern die richtige Wahl für ihr Kind treffen, ist kühn." Wenn es denn sein | |
müsse, solle man die Homepages der Schulen studieren. Wenn dort nur Feiern | |
und Highlights erwähnt sind, aber nichts über den Alltag zu sehen ist, etwa | |
Schüler, die ein eigenes Forum haben, sage das schon etwas über fehlende | |
Partizipation der Kinder aus. | |
## Die Rolle des einzelnen Lehrers | |
Letztlich hängt immer noch zu viel vom einzelnen Lehrer ab, bei dem man | |
"Pech oder Glück" haben kann. Auch an Stadtteilschulen gibt es noch | |
Kollegen, die mit alten Methoden arbeiten. Die stur ihren | |
Mathe-Frontalunterricht machen und es Eltern zu Hause überlassen, dafür zu | |
sorgen, dass der Nachwuchs das versteht. Aber was tun, wenn es nur den | |
einen Tag der offenen Tür gibt, um sich zwischen Waffelstand und | |
Turnhallen-Getobe über eine Schule zu informieren? Wer macht sich als | |
Eltern schon gern unbeliebt und stellt Lehrern unangenehme Fragen? | |
Ein guter Trick ist, ältere Schüler beim Info-Tag ins Gespräch zu | |
verwickeln. Wie das Klima so ist, wie die Lehrer. Aber auch darauf ist kein | |
Verlass, wohlmöglich wird die nette junge Pädagogin, die eine | |
Oberstufenschülerin empfiehlt, kurze Zeit, nachdem sie eine 5. Klasse | |
übernimmt, schwanger. | |
"Ein wichtiges Kriterium ist, dass die Schulen in Jahrgangs-Teams | |
arbeiten", sagt Vieluf. "Und dass auch Zeiten für die Zusammenkünfte dieser | |
Teams vorgesehen sind." Denn wenn Lehrer gemeinsam für eine Klassenstufe | |
zuständig sind, kontrollierten sie sich gegenseitig. "Dann ist es nicht so | |
entscheidend, ob man Glück mit einem einzelnen Lehrer hat." Auch nach einem | |
"Schüler-Feedback", bei dem Kinder die Lehrer beurteilen, sollten Eltern | |
ruhig fragen, rät Vieluf, der früher Staatsrat bei der Hamburger | |
Schulbehörde war und jetzt Studien zur Lernentwicklung durchführt. | |
Sabine Schäfer ist dem Schicksal entronnen, eine Gymnasiumsmutter zu | |
werden. Ihre Tochter bekam den begehrten Platz an der Max-Brauer-Schule, | |
weil ihre Wohnung noch im diesjährigen Aufnahmeradius lag. In den | |
Sommerferien mussten sie aus beruflichen Gründen an die Ostsee umziehen. | |
Auch dort gibt es gute Schulen. Ihre Tochter besucht jetzt eine | |
Gemeinschaftsschule und fühlt sich wohl. "Ich frage immer, ob ich ihr was | |
helfen kann", berichtet die Mutter. "Aber dann sagt sie: Nee, lass mal | |
Mama, das kann ich allein." | |
7 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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