| # taz.de -- Schüler über „Berlin Rebel High School“: „Das ist gewolltes… | |
| > Simon Schaake hat sein Abitur an der Schule für Erwachsenenbildung | |
| > nachgeholt. Im Interview erzählt er, warum die Schule einen Film wert | |
| > ist. | |
| Bild: Schule mit einer Prise Anarchie: An der SFE müssen alle selbst wissen, w… | |
| taz: Herr Schaake, ganz spontan: Was ist Ihr erster Gedanke bei dem Wort | |
| „Schule“? | |
| Simon Schaake: Ganz klar: Druck. | |
| Warum? | |
| Weil ich mich in der Schule nie so frei entfalten konnte, wie ich das | |
| wollte. Da gab es viel zu strikte Lehrpläne, die nicht auf die Kinder | |
| eingehen. Ich war gezwungen, Fächer, die mir einfach nicht lagen – Musik | |
| zum Beispiel – mit unmotivierten Lehrern durchzuziehen. Und zwar in einer | |
| Situation ständigen Konkurrierens. Diese Ellbogengesellschaft war letztlich | |
| der Grund, warum ich von der staatlichen Schule abgegangen bin. | |
| Am heutigen Donnerstag startet in den Kinos mit „Berlin Rebel High School“ | |
| ein Dokumentarfilm über die Schule, die Sie doch noch zum Abitur geführt | |
| hat. Warum ist die [1][Schule für Erwachsenenbildung (SFE)] einen Film | |
| wert? | |
| Weil es diese Form des Lehrens und Lernens so, glaube ich, in Deutschland | |
| nicht noch einmal gibt. All das, was den Leistungsdruck an staatlichen | |
| Schulen ausmacht, gibt es dort nicht. Stattdessen lernt man, Verantwortung | |
| zu übernehmen – sich selbst und anderen gegenüber. | |
| Wie genau sieht das aus? | |
| Es gibt keine Anwesenheitspflicht, keine Noten, keine Hausaufgaben. Die | |
| Schule ist selbstverwaltet und basisdemokratisch – jeder Mensch hat eine | |
| Stimme, egal ob Lehrkraft, Schüler oder Büroangestellter. Alle zwei Wochen | |
| wird in der Vollversammlung über alles diskutiert, was so ansteht – ein | |
| neuer Anstrich der Wände, die Höhe des Schulgelds oder der Putzplan. Denn | |
| geputzt wird von den Klassen reihum. | |
| Keine Noten, keine Klausuren, und Klassen können sogar ihre Lehrer*innen | |
| abwählen – endet das nicht im totalen Chaos? | |
| Doch, klar. (lacht) Ich würde sagen, das ist gewolltes Chaos – diese | |
| bestimmte Prise Anarchie. Der Filmtitel [2][„Berlin Rebel High School“] | |
| sagt es ja schon: Die Schüler an der SFE sind allesamt Rebellen – wenn auch | |
| jeder auf seine Weise. | |
| Was heißt das? | |
| Jeder, der da landet, hat seine Geschichte. Und das ist meistens eine | |
| Geschichte des Scheiterns: am staatlichen Schulsystem, am Druck, an | |
| Autorität, an der Leistungsgesellschaft. Aber alle raufen sich genug | |
| zusammen, um die Schule am Laufen zu halten. Für uns alle war es die letzte | |
| Chance aufs Abitur oder den Mittleren Schulabschluss. Ich bin kein Punk, | |
| der seine Rebellion nach außen trägt – aber meine schlechten Noten waren | |
| doch eine innerliche Rebellion gegen das Schulsystem. | |
| Wogegen genau mussten Sie vorher rebellieren? | |
| Gegen den Umgang miteinander – vonseiten der Lehrer, aber auch unter den | |
| Schülern. Ich war im ersten Jahrgang am neu eröffneten | |
| Hans-Carossa-Gymnasium in Kladow – da haben sonst vor allem wohlhabendere, | |
| gutbürgerliche Familien ihre Kinder hingeschickt. Die finanziellen | |
| Verhältnisse in meiner Familie waren vollkommen in Ordnung; meine Mutter | |
| ist Fotolaborantin, mein Vater Journalist. Aber wir hatten halt zu wenige | |
| Nullen auf dem Konto. Manche der Mitschüler waren mir gegenüber sehr | |
| herablassend und arrogant. | |
| Haben Sie ein Beispiel? | |
| Einmal hatten wir einen Stuhl zu wenig in der Klasse. Ein Schüler, der mir | |
| besonders negativ im Gedächtnis geblieben ist, kam sehr spät und hat sich | |
| meinen Stuhl genommen. Ich war schon da, aber gerade nicht am Platz. Als | |
| ich mir den Stuhl zurückholen wollte, sagte der andere zu mir: „Gib den | |
| wieder her – dir gehört hier gar nichts. Meine Eltern zahlen immerhin | |
| Steuern im Gegensatz zu deinen.“ | |
| Das ist hart. | |
| Ja, aber es war ja nicht nur das. Es war auch dieser wilhelminische Geist, | |
| der an deutschen Gymnasien immer noch vorherrscht. Statt die individuellen | |
| Fähigkeiten jedes Schülers zu fördern, wird nur aussortiert. Da werden die | |
| Schüler nicht zum Denken erzogen, sondern zum Gehorchen. In Kladow mussten | |
| wir noch bis zur neunten Klasse aufstehen, wenn der Lehrer den Raum betrat. | |
| Als ich die zehnte Klasse wiederholen musste, habe ich ans | |
| Freiherr-vom-Stein-Gymnasium in Spandau gewechselt. Da war es zwar | |
| menschlich besser, meine Noten blieben aber schlecht. Die Resignation hat | |
| mich faul gemacht, ich kam mit dem Druck nicht klar. Als ich dann auch die | |
| elfte Klasse nicht bestanden habe, musste ich gehen – und blieb auf einem | |
| sehr schlechten Realschulabschluss sitzen. Selbst eine Ausbildung zu finden | |
| wäre damit schwer geworden. Und das war ja auch nicht mein Ziel, ich habe | |
| mich immer als Abiturient gesehen. | |
| Wie kamen Sie zur SFE? | |
| Ich war dann in einer Art Selbstfindungsphase, habe ein halbes Jahr im | |
| Kindergarten gearbeitet, dann eine Weile bei meinem Vater im Pressebüro. | |
| Irgendwann kam der Brief vom Kreiswehrersatzamt, da war ich gezwungen, | |
| irgendwas zu machen. Ich habe dann meinen Zivildienst in Frankreich gemacht | |
| und im doppelten Sinn meine Koffer gepackt, all den Stress in Berlin | |
| zurückgelassen. Da reifte das erste Mal der Gedanke, dass ich das Abitur ja | |
| auch auf anderem Weg nachholen kann. Mein Vater hat mir dann von der SFE | |
| erzählt, und ich habe mich angemeldet. | |
| Abiturienten der SFE müssen die Prüfung an einer staatlichen Schule ablegen | |
| – und zwar in acht Fächern. Für andere Berliner Gymnasiasten sind es nur | |
| fünf. Wie gut haben Sie sich vorbereitet gefühlt? | |
| Sehr gut sogar. Man hat zweieinhalb Jahre Zeit, sich ausschließlich auf | |
| diese Prüfungen vorzubereiten. Als ich 2009 an die Schule kam, war ja klar, | |
| dass ich für die Matheprüfung Vektor- und Wahrscheinlichkeitsrechnung | |
| beherrschen muss. Die Lehrpläne an der SFE sind zwar an die staatlichen | |
| Pläne angelehnt, aber der Unterricht ist viel flexibler, es gibt viel mehr | |
| Raum für Wiederholungen. Wie viel man von den Möglichkeiten mitnimmt, hängt | |
| aber an jedem Schüler selbst. | |
| Inwiefern? | |
| Einige kommen mit einem sehr blauäugigen Bild an die SFE. Sie hören | |
| „antiautoritäre Schule“ und denken: „Super, da werde ich auf Händen dur… | |
| Abitur getragen.“ Aber das Gegenteil ist ja der Fall. Es kommt viel eher | |
| dem Lernen an der Universität nahe: Du musst dich jeden Morgen selbst | |
| motivieren, hinzugehen – obwohl du nicht musst. Am Ende zählt das Ergebnis. | |
| Wie du den Weg dorthin bestreitest, ist deine Sache. Die Lehrkräfte sind | |
| da, um zu helfen – aber wollen musst du es selbst. Manchmal saßen wir nur | |
| zu dritt in der Klasse, das war dann quasi Privatunterricht. Die | |
| Selbstdisziplin hatten halt nicht alle. | |
| Aber Sie schon? | |
| Ja. Es gab nur einmal eine Woche, in der ich nicht zum Unterricht gegangen | |
| bin. Klar bin ich mal zu einer Stunde nicht erschienen, oder ich bin früher | |
| gegangen oder später gekommen. Aber den Stoff habe ich immer nachgeholt. | |
| Offenbar mit Erfolg. | |
| Am Ende habe ich mein Abitur mit Noten bestanden, die mir meine früheren | |
| Lehrer niemals zugetraut hätten. Am Gymnasium hatte ich immer eine Fünf in | |
| Mathe – im Abitur habe ich die Prüfung mit 14 Punkten bestanden, also einer | |
| glatten Eins. Dass ich es an den staatlichen Schulen nicht geschafft habe, | |
| liegt also ganz offensichtlich nicht an meiner Intelligenz. | |
| 11 May 2017 | |
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| [1] http://www.sfeberlin.de/ | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=jeM3j_TDc60 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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