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# taz.de -- Debatte Schulnoten: Besser ohne
> Die meisten Eltern, Lehrer und Bildungsminister befürworten die
> numerische Leistungsbewertung. Unser Schulsystem wäre ohne sie gerechter.
Bild: Juhu, Ferien! Da sind Noten erstmal ziemlich egal
Eines muss man Zeugnisnoten zugutehalten: Sie bringen Eltern mitunter dazu,
zweimal im Jahr das Taschengeld aufzubessern. Zwei Mark für „sehr gut“,
eine Mark für „gut“. Und 50 Pfennig für „befriedigend“. Das waren in …
Grundschulzeit die üblichen Sätze.
Heute ist es für Eltern komplizierter, die Leistungen ihrer Kinder
einzuschätzen. Gehen diese beispielsweise auf die Berliner
Clara-Grunwald-Grundschule, bringen sie am Zeugnistag satte 90 Bewertungen
mit nach Hause. Allein das Fach Deutsch umfasst 25 Einzelkompetenzen wie
„Denkt über Sprache nach“ oder „Schreibt eigene Texte weitgehend richtig…
Statt dahinter eine Note einzutragen, kreuzt die Lehrkraft eine von vier
möglichen Kompetenzen an. Von „sehr“ bis „gering“ ausgeprägt.
Indikatorenzeugnis heißt diese Alternative zu den Schulnoten. Die Berliner
Grundschulen setzen sie seit fast zehn Jahren ein. In Schleswig-Holstein,
wo die Grundschulen schon jetzt notenfrei sind, werden ab dem übernächsten
Schuljahr ebenfalls Kompetenzen bewertet.
Auch andernorts müssen sich Eltern mit zensurfreien Zeugnisvarianten
anfreunden. In Bayern führen LehrerInnen mit Erst-, Zweit- und
DrittklässlerInnen neuerdings Lernentwicklungsgespräche (LEGs), in denen
individuelle Lernziele vereinbart werden. Und im Rest der Republik werden,
mit Ausnahme Sachsens, in den ersten beiden Schuljahren generell keine
Notenzeugnisse mehr verteilt, sondern „Lernstandberichte“, teilweise
ergänzt durch LEGs und Kompetenzprotokolle.
## Der Leistungsdruck steigt
Was die Modelle eint: Sie stellen die Stärken und Schwächen jeden Schülers
und jeder Schülerin differenzierter dar, als es eine Note pro Fach könnte.
Und sind somit – wie beteiligte LehrerInnen bekräftigen – gerade für
schlechte SchülerInnen motivierender, ihre Defizite anzupacken. Warum also
sollten die Vorzüge nicht auch an weiterführenden Schulen fruchten, wo der
Leistungsdruck – Stichwort G8 – steigt und Mobbing an der Tagesordnung ist?
Die Möglichkeit, auf Noten zu verzichten, bieten viele Länder nämlich auch
für die Mittelstufe – sofern Kollegium und Eltern das wollen. Nur: Die
wenigsten lassen sich darauf ein.
Und das liegt an den Vorbehalten, die Schulen ohne altbekannte Zensuren
offenbar wecken. An den gänzlich notenfrei konzipierten
Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg waren viele Eltern zunächst
derart verunsichert, dass das Ministerium wissen ließ: Die Beurteilungen
könnten auf Wunsch auch in Noten angegeben werden – was die Ursprungsidee
eindrucksvoll konterkariert. Für unnötige Verwirrung sorgte vor ein paar
Jahren auch die Notenreform für die Hamburger Stadtteilschulen. Seither
werden ab Klasse 7 Noten mit dem Zusatz „G“ oder „E“ versehen. Je nachd…
ob die Lehrkraft ein „grundlegendes“ oder „erweitertes“ Niveau feststel…
Jetzt müssen Eltern und Arbeitgeber lernen, dass sich hinter einer
akzeptabel klingenden G3 die Note „ungenügend“ verbirgt. Wer so reformiert,
braucht sich über die Vehemenz der Notenbefürworter nicht zu wundern.
Wie stark deren Front ist, zeigte sich zuletzt im Februar, als die
Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Marlis Tepe, die Abschaffung aller
Schulnoten forderte. Mit individuellen Berichten werde man den persönlichen
Lernfortschritten der Kinder besser gerecht, argumentierte sie. Die
Kultusministerien hielten sofort dagegen: Schule muss leistungsorientiert
bleiben. Schließlich soll sie ja auf den Eintritt in unsere
Leistungsgesellschaft vorbereiten. Das zweite Argument, das Ministerien und
einflussreiche Interessenvertreter wie der Deutsche Philologenverband
anführten: Noten seien unverzichtbar, um SchülerInnen miteinander
vergleichen zu können.
Klingt stimmig – ist es aber nicht. Zum einen, weil es mit der
Vergleichbarkeit ja so eine Sache ist. Seit Jahren werden die
Abiturschnitte fast im ganzen Land besser. In Thüringen hatten zuletzt vier
von zehn AbiturientInnen einen Einserschnitt. Auch das bundesweite
Zentralabitur, das einige Länder dieses Jahr erstmals zulassen, wird nicht
so schnell für einheitliche Standards sorgen. Schon jetzt ist klar, dass
die Ministerien nur einen geringen Teil der Prüfungsaufgaben aus dem
gemeinsamen Pool nehmen werden.
## Vorteile für Akademikerkinder
So betrachtet, sichern Schulnoten nur den Status quo eines ungerechten
Schulsystems, das SchülerInnen mit „leichtem“ Abitur bei der
Studienplatzvergabe Vorteile verschafft. Viel gewichtiger ist aber der
zweite Gerechtigkeitsaspekt: Für den Übertritt auf das Gymnasium spielen
Schulnoten in fast allen Bundesländern eine zentrale Rolle – und das
begünstigt Kinder aus Akademikerfamilien, wie zahlreiche Studien belegen.
Nichtakademikerkinder sowie Kinder mit Migrationshintergrund siebt das
Schulsystem aber oft genau an dieser Stelle aus. Weil ihre Eltern
möglicherweise nicht auf eine Empfehlung fürs Gymnasium drängen. Weil die
Notenvergabe – leider – nicht vor subjektiven Faktoren wie Sympathie oder
unterbewussten Vorurteilen geschützt ist.
Dass es ohne Noten gerechter zugehen könnte, zeigt eine Projektschule in
Hamburg. Dank einer Ausnahme im Schulgesetz darf die
Max-Brauer-Stadtteilschule bis zur Oberstufe auf Noten verzichten. In den
fünf Jahren ohne Noten verdoppelte sich nach eigenen Angaben die Zahl der
SchülerInnen mit gymnasialer Empfehlung von durchschnittlich 30 auf knapp
70 Prozent. Oder anders formuliert: Diejenigen, die an anderen Schulen und
Schulsystemen früh ausgesiebt würden, kommen dank Kompetenzrastern und
individueller Lernförderung bis spätestens Klasse zehn auf Gymnasialniveau.
Keine andere Stadtteilschule Hamburgs bringt so viele AbiturientInnen
hervor. Keine schneidet beim Abi-Schnitt besser ab.
In unserer Leistungsgesellschaft sind – ob man will oder nicht – Noten
unabdingbar, um SchülerInnen miteinander vergleichen zu können. Nicht aber,
um bessere Leistungen zu erzielen wenn man der Hamburger Wunderschule
glaubt. Das wäre doch ein Grund, liebe Rektorinnen und Rektoren, selbst den
Versuch zu wagen. Vorausgesetzt, die Eltern können sich an Zeugnisse ohne
Noten gewöhnen.
30 Apr 2017
## AUTOREN
Ralf Pauli
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