# taz.de -- Vor dem Wechsel aufs Gymnasium: Das Grundschulabitur | |
> Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken: Wie unsere Autorin die | |
> vierte Klasse ihres Sohnes an einer bayerischen Grundschule erlebt hat. | |
Bild: Der Königsweg und ein paar Nebengipfel: Das wartet nach der vierten Klas… | |
Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Monaten zum Abitur | |
angetreten bin. Zehn-, zwölfmal bestimmt. Nachts, wenn die Träume kamen. In | |
ihnen wandele ich durch die Gänge meines Gymnasiums, finde den Prüfungsraum | |
nicht – oder finde den Weg aus der Schule nicht mehr heraus. Um zu | |
erfahren, warum ich mehr als 25 Jahre nach meinem Abitur solche Albträume | |
habe, muss ich auf keine Psychiatercouch. Im vergangenen Schuljahr ist mein | |
Sohn durch den Prüfungsmarathon des bayerischen Grundschulabiturs getrieben | |
worden. Und wir als Eltern mit. | |
„Grundschulabitur“, so nennen viele Kritiker in Bayern den Übertritt nach | |
der vierten Klasse in die weiterführenden Schulen. Dem bayerischen | |
Bildungsministerium gilt es immer noch als unumstößliche Wahrheit, dass | |
sich Kinder im Alter von 9 oder 10 Jahren am besten dafür eignen, | |
ausgewählt und auf ihre zukünftige Schullaufbahn geschickt zu werden, | |
sprich auf Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Andere Bundesländer | |
sind in den letzten Jahren zunehmend den Weg gegangen, nach der Grundschule | |
nur Empfehlungen auszusprechen und die Eltern die Schulform für ihre Kinder | |
selbst wählen zu lassen, in Bayern aber ist das Übertrittszeugnis bindend. | |
Im ersten Halbjahr der vierten Klasse werden 22 Pflichtproben in Deutsch, | |
Mathe sowie Heimat- und Sachunterricht geschrieben. Hinzu kommen | |
Leistungsnachweise in Englisch, Ethik, Religion, Musik oder Kunst. Die | |
Leistungsnachweise erhöhen die Stoffmenge, die in kurzer Zeit in | |
Kindergehirne gestopft werden muss, sie zählen aber nicht für die | |
Entscheidung. Wer in den drei Hauptfächern einen Schnitt von 2,33 erzielt, | |
darf auf das Gymnasium gehen. | |
Anfang Mai entscheidet das Übertrittszeugnis über die weitere | |
Schulkarriere. Es geht also, abzüglich von sechs Wochen Schulferien, um | |
acht Monate. Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken. Acht Monate, in | |
denen es immer wieder abends aus meinem Sohn herausbricht, als ich ihn zu | |
Bett bringe: „Mama, was soll ich machen, wenn ich nicht aufs Gymnasium | |
komme? Mama, alle aus meiner Klasse werden den Übertritt schaffen!“ Dieser | |
drängende, gepresste Tonfall quält mich. Wie konnte es so weit kommen, dass | |
mein neunjähriger Sohn bereits denkt: entweder Gymnasium oder Katastrophe? | |
## Im Epizentrum der Leistungsgesellschaft | |
13. September 2016. Der erste Schultag der vierten Klasse. Mein Mann bringt | |
unseren Sohn zur Schule. Es herrscht Wiedersehensfreunde unter den | |
Schülern, sie erzählen sich Ferienerlebnisse. Von Übertrittsangespanntheit | |
keine Spur. Doch dass die vierte Klasse nicht mehr die dritte ist, das | |
sollten wir schnell merken. | |
Mein Mann, meine beiden Söhne und ich wohnen in Icking, im südlichen | |
Speckgürtel von München. Im Isartal, das war schon immer eine gehobene | |
Gegend. Als ich hier aufwuchs, in den Achtzigern, war es noch relativ | |
gemischt: Handwerker, Landwirte und Akademiker lebten nebeneinander. Heute | |
wohnt hier das Bürgertum: Patentanwälte, Ingenieure, Ärzte, Berater. Man | |
verdient hier überdurchschnittlich. Glück ist, wenn das Leben nach Erfolg | |
aussieht, wenn das große Auto vor der Tür steht, die Reise nach Afrika | |
klappt und sommers der Rasenroboter surrend seine Runden über das | |
Grundstück zieht. Glück ist also, wenn es einem selbst gut geht. | |
In dieser Wohlstandswelt wollen Eltern, dass ihre Kinder aufs Gymnasium | |
kommen. Und sie sind bereit, dafür fast alles zu tun: Sie bringen ihre | |
Kinder zur Lerntherapie, sie besorgen Proben aus dem Vorjahr, manche geben | |
ihren Kindern Ritalin. Die Eltern kämpfen für den Übertritt. Welchen | |
Unfrieden der Übertritt in die Familien bringt, konnte ich sehen, wenn ich | |
mit den Eltern anderer Wackelkandidaten sprach. Ich sah Tränen in den Augen | |
der Mütter glitzern, hörte die Wut in den Stimmen der Väter. Nur wenige | |
wehrten sich grundsätzlich gegen dieses System, und wer es tat, eckte an. | |
In Icking gehen nach der vierten Klasse um die 80 Prozent der Kinder aufs | |
Gymnasium, nach Aussagen des Schulamts. Der Schnitt in Bayern liegt bei | |
ungefähr 40 Prozent. In Deutschland gingen 2014 laut dem Statistischen | |
Bundesamt 45 Prozent aller Schüler einer weiterführenden Schule aufs | |
Gymnasium. Icking liegt also im Epizentrum der | |
Grundschulleistungsgesellschaft. | |
Eigentlich begann der Weg meines Sohns in der Grundschule gut. Was ich oft | |
über ihn gehört habe: intelligent, wach, begeisterungsfähig, schnell im | |
Verknüpfen von Gedanken. Er ist zweisprachig aufgewachsen, mit Deutsch und | |
Französisch, mein Mann ist Belgier. In der zweiten Klasse sagte eine | |
Lehrerin über meinen Sohn: „Er reißt oft ethische Fragen an, die die ganze | |
Klasse nach vorne bringen.“ Ich freute mich damals. Fragen und Hinterfragen | |
ist ein Wert, der in unserer Familie zählt. Mein Sohn ging drei Jahre lang | |
in einen Waldorf-Kindergarten. Er bastelt gern, berührt, experimentiert. | |
Von einem seiner Experimente machte er ein Video: Er legte Silvesterknaller | |
auf einen Haufen, daneben eine Wasserbombe. Die Böller explodieren, das | |
Feuer erreicht die Wasserbombe, sie platzt, das Wasser löscht den kleinen | |
Brand. | |
In den ersten Jahren der Grundschule brachte mein Sohn gute Noten nach | |
Hause, Zweier, Dreier. Und in jedem Referat eine Eins. | |
Doch dann gab es da dieses Wort: Übertritt. Ich erinnere mich an einen | |
Elternabend zu Beginn der zweiten Klasse. Die Lehrerin sagte: „Bitte reden | |
Sie mit Ihrem Kind nicht über das Thema Gymnasium.“ Das klang für mich wie: | |
„Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.“ Die Lehrerin weiter: „Wichtig | |
ist, dass das Kind sich geliebt fühlt und sich nicht über Leistung | |
definiert.“ Ich fragte sie, warum dann im Klassenzimmer auf einem Plakat | |
für alle Kinder lesbar aufgelistet wurde, welche Schüler zu Hause – neben | |
den Hausaufgaben – Fleißaufgaben erledigt hatten. Stille. Die Lehrerin wand | |
sich. Die Antwort kam dann von den anderen Eltern: „Na ja, wir sind nun mal | |
eine Leistungsgesellschaft. Wir müssen unsere Kinder schon darauf | |
vorbereiten.“ Eine Mutter verplapperte sich und gab zu, dass sie ihr Kind | |
immer danach fragt, welche Noten die anderen denn so hätten. | |
Die Hegemonie einer Leistungsgesellschaft – das wurde mir an diesem Abend | |
klar – wird einfach hingenommen. Die Eltern spielen mit, halten sich an die | |
Regeln und rechtfertigen sie sogar. Seit diesem Elternabend bin ich wütend. | |
## Eltern müssen assistieren | |
In der dritten Klasse begann die neue Klassenlehrerin damit, uns Eltern | |
regelmäßig Mails zu schreiben, in denen sie angab, was in der nächsten | |
Schulaufgabe abgefragt würde. Teils schrieb sie uns genaue Seitenangaben | |
der Lehrbücher oder schickte Hinweise auf einen bestimmten Rechenweg. Ich | |
bin mir sicher, das hatten sich einige Eltern so gewünscht. Jedenfalls war | |
klar: Der ganze Stoff konnte nicht allein im Unterricht vermittelt werden. | |
Eltern müssen assistieren, wenn sie wollen, dass aus ihren Kindern mal | |
etwas wird. | |
Auf diesen Deal wollte ich mich nicht einlassen. Ich hatte mich innerlich | |
immer dagegen gewehrt, mit meinen Kindern Nachmittage zu verhocken, um zu | |
pauken. Natürlich half ich hier und da, kontrollierte die Hausaufgaben. In | |
der Stoffvermittlung aber vertraute ich darauf, dass die Schule ihren Job | |
macht. Ich dachte: „Ich gehe ja nicht mehr zur Schule!“ | |
Auch für den Übertritt wollte ich daran nichts ändern. Im vergangenen | |
Herbst, zu Beginn der vierten Klasse meines Sohns, arbeitete ich viel und | |
fuhr auf eine längere Pressereise. | |
Auf dem Pausenhof, erzählt mein Sohn eines Tages, vergleichen die Kinder | |
Noten. Die mit den Einsern und Zweiern ballen nach den Schulaufgaben | |
siegreich die Faust. Tschaka! Alle haben verstanden: Ich muss jetzt über | |
eine Hürde springen, und wenn ich das nicht tue, dann bin ich weg. | |
## Wir verschmelzen zu einem Team | |
Im Oktober bringt mein Sohn eine Vier in einem Deutschdiktat nach Hause. | |
Das ist neu. Er hatte während der Probe Bauchweh und wurde nicht fertig. | |
„Ich dachte, ich muss durchhalten und darf erst danach zum Arzt“, erzählt | |
er mir. Mein Mann und ich gehen zur Lehrerin, um zu fragen, ob er die Probe | |
nachholen darf, weil klar war, dass er unter Schmerzen nicht die volle | |
Leistung erbringen konnte. Die Schule lehnt das ab. Ich signalisiere ihm, | |
dass „wir“ uns von dieser Vier wegarbeiten müssen. Wir verschmelzen zu | |
einem Team. | |
Als Schülerin war ich ehrgeizig, an meinen eigenen Übertritt kann ich mich | |
nicht erinnern, die Grundschule fiel mir sehr leicht. Auf dem Gymnasium | |
kamen dann auch mal schlechtere Noten, ich hatte aber immer das Gefühl: Die | |
Eins oder Zwei, das bin ich. 1,8 im Abitur, 1,3 im Diplom. Als mein Sohn | |
die erste Vier nach Hause bringt, merke ich: Das weckt alte Erinnerungen | |
bei mir. | |
Ich kenne das Gefühl, den eigenen Wert von außen bestimmen zu lassen. Als | |
ich noch zur Schule ging, geriet ich in der achten Klasse auf dem Gymnasium | |
ins Schlingern, kassierte Vierer und Fünfer ein. Ich fühlte die Abwertung | |
durch die Lehrer, spürte ihre Interesselosigkeit mir gegenüber, der | |
scheinbar begriffsstutzigen, wenig vielversprechenden Schülerin. Ich | |
wechselte auf ein Ganztagsgymnasium mit Hausaufgabenbetreuung und gab Gas, | |
stieg notenmäßig steil nach oben. Ich funktionierte aber weiter voll in dem | |
System, begann meinen persönlichen Wert anhand der Notenskala abzulesen. | |
Jahrelang habe ich daran gearbeitet, dieses Gefühl abzuschütteln. Ich hatte | |
mich davon befreit. Aber jetzt kommt es wieder. Die Schule streckt ihre | |
Finger nach mir aus. | |
## Die Depressionsrate unter Schülern steigt | |
Das enttäuschte Gesicht meines Sohns tut mir weh, eine schlechte Note | |
kränkt ihn. Ich will unbedingt, dass ihm alle Türen offen stehen. Aber ich | |
muss auch aufpassen, was die Noten mit unserer Beziehung anstellen. Auf | |
keinen Fall will ich ihn durch die gleiche Brille sehen, durch die die | |
Lehrer ihn sahen. Vor der Schule war ich immer begeistert von meinem Kind, | |
sah in ihm vor allem Potenzial. Spätestens seit der vierten Klasse wurde es | |
mir in regelmäßigen Abständen als Mängelwesen präsentiert, als Sorgenkind. | |
Der Kampf gegen diese Perspektive kostet Kraft, und er macht wahnsinnig | |
wütend. | |
Die nächste Note ist eine Fünf, wieder in Deutsch. Ein No-go im | |
Übertrittsjahr. Ich spüre einen Angsthauch. | |
Kurz nach Weihnachten machen wir einen Termin beim Psychologen aus. Die | |
Klassenlehrerin hatte in einer Sprechstunde in einem leicht vorwurfsvollen | |
Ton angedeutet, mein Sohn habe vielleicht ADHS. Er könne sich schlecht | |
konzentrieren. Ich werde unruhig. Es stimmt ja: Er hat seine Antennen immer | |
in alle Richtungen offen, ist leicht zu begeistern, aber auch leicht | |
abzulenken. Kann das die Antwort sein? | |
Der Psychologe spricht eine Viertelstunde lang mit meinem Sohn. Danach | |
weigert er sich, eine Diagnose zu geben. „Warum soll ich ihn | |
pathologisieren?“, fragt er und wirft uns fast aus der Praxis. „Ihr Kind | |
ist komplett gesund. Worunter es leidet, ist der Druck.“ | |
Allenfalls könne er sich ein Konzentrationstraining vorstellen. Also lassen | |
wir ihn ein Neuro-Feedback am PC machen, ungefähr zehnmal geht er zu einem | |
Konzentrationstraining, bei dem Elektroden auf seinem Kopf platziert | |
werden. So kann er mit seiner Gedankenkraft Flugzeuge und Skateboards auf | |
dem Bildschirm lenken. | |
## Im Winter beginnen die Stressymptome | |
Heute frage ich mich, warum wir das gemacht haben. Ich glaube, wir wollten | |
ihn wappnen. | |
Im Laufe des Winterhalbjahrs beginnt mein Sohn Stresssymptome zu zeigen: Er | |
vergisst ständig Dinge, verwechselt plötzlich wieder v und f, kann nicht | |
einschlafen. Einmal fällt ihm morgens auf, dass er seine Hausaufgaben | |
vergessen hat. Panisch steht er in der Küche, weint, zittert, schreit. | |
Dann habe ich einen Traum. Ich bin als Erwachsene in der Grundschule, muss | |
eine Probe schreiben, noch drei Minuten, ich greife nach dem Killer und | |
lösche alles weg. | |
Im Februar findet der Elterninformationsabend vor dem Übertrittszeugnis | |
statt. Vertreter von Gymnasium, Realschule und Hauptschule stellen ihre | |
Schulformen vor. | |
Eine Lehrerin des Gymnasiums ergreift dass Wort. Sie listet auf, was ein | |
zukünftiger Fünftklässler mitzubringen habe: logisches Denken, hohe | |
Gedächtnisleistung, selbstständiges, zügiges, ausdauerndes, ordentliches | |
und genaues Arbeiten, dazu emotionale Belastbarkeit und hohe | |
Frustrationstoleranz, gepaart mit einer hohen intrinsischen Motivation, mit | |
Ehrgeiz und Fleiß, zudem sprachliche und mathematische Kompetenz in allen | |
Bereichen. Es hört sich wie eine Stellenanzeige für oberes Management an. | |
Ja, am Anfang der fünften Klasse käme es öfters vor, dass Kinder, die | |
vorher notenmäßig sehr gut waren, weinten, weil sie nicht an Dreier oder | |
Vierer gewöhnt seien, erzählt die Lehrerin kalt. Aber so sei das, da | |
müssten sie durch. | |
## Der Elternverschreckungsabend | |
Dann zeigt sie ein Foto von einer Bergkette: Der höchste Gipfel, platziert | |
in der Mitte des Bildes, steht für das Abitur. In Rot eingezeichnet ist der | |
steilste Weg, der „schönste“, laut der Lehrerin, das ist die Direttissima | |
zum Ziel, sprich: der Weg durchs Gymnasium. Sie nennt das den „Königsweg“. | |
Auf dem Bild gibt es niedere Nebengipfel, die „alternative Ziele“ genannt | |
werden, zum Beispiel eine Ausbildung. Einerseits wird so getan, als sei | |
jeder Weg gleichwertig. Als gehe der Druck auf die Kinder, unbedingt aufs | |
Gymnasium zu gehen, nur von den Eltern aus, nicht von dem Schulsystem. Sie | |
sagt: „Die Aggressivität von den Eltern gegenüber den Lehrern nimmt zu.“ | |
Ich kann es verstehen. Mir juckt es an diesem Abend in den Fingern. Ich | |
würde dieser Frau mit ihrer verlogenen Semantik am liebsten an die Gurgel | |
gehen. Ein Vater neben mir sagt: „Ich würde ihr so gern mal meine Meinung | |
geigen!“ Er traut sich nicht. Das ist eine Erfahrung, die ich immer wieder | |
mache: Wer Grundsätzliches kritisiert, wie zum Beispiel einen von der | |
örtlichen Bank gesponserten Malwettbewerb in der Grundschule, wird | |
abgewatscht. | |
An dem Abend erzählt die Lehrerin auch, dass sich fast die Hälfte aller | |
bayerischer Grundschüler gestresst fühle und dass die Depressionsrate unter | |
den Gymnasiasten steige. Ich erinnere mich auch an einen Beitrag des | |
Bayerischen Rundfunks, der über eine psychosomatische Klinik berichtete, | |
die mit depressiven Abiturienten gefüllt ist. | |
Draußen vor der Tür stehen nach dem Abend die Eltern zusammen, viele mit | |
fassungslosen Gesichtern. Ich spreche seitdem von diesem Ereignis nur noch | |
als „Elternverschreckungsabend“. | |
## Dekonstruktion in der vierten Klasse | |
Einige Tage danach treffe ich eine Schulberaterin in München, der ich von | |
meinen Sorgen erzähle. Sie sagt: „Hier in München werden auch Kinder aufs | |
Gymnasium gepusht, die da gar nichts verloren haben. Sie purzeln in der | |
Mittelstufe wieder runter.“ Ab der achten Klasse steige die Zahl der | |
Schüler in den Realschulen stark an, manche hätten dann plötzlich doppelt | |
so viele Schüler. Die Beraterin erzählt mir auch, dass 40 Prozent der | |
bayerischen Abiturienten ihre Hochschulreife nicht an einem Gymnasium | |
erwerben, sie gehen an Fachoberschulen oder holen das Abitur anders nach. | |
Und dass ich davon ausgehen könnte, dass bei uns in Icking ein höheres | |
Niveau an den Grundschulen herrsche als in der Innenstadt. „Die Proben sind | |
härter oder werden härter bewertet.“ Nach dem Gespräch fühle ich mich | |
getröstet. | |
Im April kommt mein Sohn mit Unterlagen nach Hause, auf denen steht: | |
„Landesbildungsanstalt Baden-Württemberg“. Arbeitsblätter, die dort | |
Fünftklässler lösen auf dem Gymnasium. Es geht um Märchen. Die Kinder | |
müssen ein Märchen schreiben, in denen fünf Elemente vorkommen, die aus | |
der Erzähltheorie stammen: ein Held, das Böse, ein Helfer, ein magischer | |
Gegenstand und eine Zauberformel. Sie sollen ihr eigenes Märchen bauen. Das | |
ist Dekonstruktion in der vierten Klasse: Wie entzaubere ich die Welt? | |
Im Mai kriegen wir es dann endlich, das Übertrittszeugnis. Mein kluger | |
Junge, der mit neun Monaten zu sprechen begann, der sich das Französisch | |
seines Vaters spielend angeeignet hat, gehört jetzt zu den drei Kindern | |
seiner Klasse, die als ungeeignet fürs Gymnasium gelten, weil er eine 2,66 | |
im Durchschnitt hat und keine 2,33. | |
## „Mama, weißt du, der Stress tut mir nicht gut“ | |
Es ist eigentlich ein Witz. Wenn ich es nicht im Innersten als Beleidigung | |
empfinden würde. Ich weiß: Da gehen Kinder aufs Gymnasium, die weniger | |
begabt sind als er, die aber besser auswendig lernen können. Aber ich | |
möchte auch nicht wie der gekränkte Fuchs in der Fabel von Fontane sein, | |
der sich ärgert, dass er die Trauben nicht erhaschen kann, und dann sagt, | |
sie sind zu sauer. Wir gehen trotzdem abends essen und feiern unseren Sohn | |
dafür, dass er sich so angestrengt hat. | |
Im zweiten Halbjahr der vierten Klasse schreibt er bessere Noten. Am | |
Schuljahresende hat er den Schnitt, den er fürs Gymnasium gebraucht hätte. | |
Vielleicht, weil er im Konzentrationstraining Erfolgserlebnisse hatte und | |
sich dann auch in der Schule mehr zutraute. Vor allem aber ist der Druck | |
plötzlich weg. „Mama, weißt du, der Stress tut mir einfach nicht gut“, sa… | |
mein Sohn einmal vor dem Schlafengehen. Und es versetzt mir einen Stich, | |
dass er dabei aussieht wie ein Erwachsener. Als ich zehn war, kannte ich | |
das Wort „Stress“ noch gar nicht. | |
Kurz bevor das Schuljahr endet, spreche ich mit dem Schuldirektor. Als | |
Leiter der Schülerzeitung, in der sich mein Sohn jede Woche engagiert | |
hatte, kennt er unser Kind gut. Er ist ehrlich betroffen, sagt: „Ihr Sohn | |
ist wesentlich begabter, als er es hier an der Schule hat zeigen können.“ | |
Ich würde es drastisch umformulieren: als es die Schule an ihm zeigen | |
konnte. | |
Der Entschluss, wie es weitergehen soll, fällt Wochen vor dem Zeugnistag, | |
am „Elternverschreckungsabend“. Mein Sohn geht auf eine Waldorfschule. Wir | |
schicken ihn zu Probetagen, er kommt mit leuchtenden Augen zurück. „Da will | |
ich hin“, sagt er. | |
## Dieses Jahr hat uns näher gebracht | |
Ich freue mich auf die Waldorfschule. Und hoffe, dass mein Sohn dort mehr | |
lernt, als nur Leistung zu bringen, dass verknüpfendes Denken gefördert | |
wird: Er wird im landwirtschaftlichen Praktikum auf dem Bauernhof arbeiten. | |
Beim Bruchrechnen wird er einen Apfel zerteilen und sehen, wieso drei | |
Viertel weniger ist als ein Ganzes. Ich wünsche mir für meinen Sohn, dass | |
er einfach er werden darf und eines Tages in sich spürt, wie und als was er | |
arbeiten möchte. Wir haben uns auch Realschulen angesehen, es ist dasselbe | |
System, das bedient wird, nur wird man Verkäufer anstatt Manager. Excel | |
lernen die Kinder in der sechsten Klasse. Das passt nicht zu ihm. | |
Ich bin meinem Sohn dankbar. Dieses Jahr hat uns einander nähergebracht. | |
Für ihn musste ich noch einmal in meine inneren Bergwerke steigen und | |
zutage fördern, wie sehr ich trotz allem ein ehrgeiziger Mensch bin, ein | |
Produkt der Leistungsgesellschaft, die aus Menschen besteht, die die | |
Leistungen ihrer Kinder für die eigenen halten. In der Grundschule meines | |
Sohns wird erwartet, dass die Eltern mitarbeiten. Und hier in Icking wird | |
auch erwartet, dass die Mutter nachmittags zu Hause bei den Kindern ist. | |
Mein Sohn hat mir gezeigt, dass ich als Erwachsene genug Kraft und Mut | |
habe, mich noch einmal von dem vorgegebenen Bewertungssystem zu lösen. | |
Am letzten Schultag geht die Klasse mitsamt Eltern mittags Pizza essen. | |
Mein Sohn will unbedingt hin, seine Freunde sehen, bevor sie auf eine | |
andere Schule gehen. Eine Handvoll Mütter fallen der Lehrerin um den Hals. | |
Mir kann die Lehrerin, sie sitzt schräg gegenüber, eineinhalb Stunden lang | |
nicht in die Augen sehen. Und obwohl ihr im Namen der ganzen Klasse ein | |
nicht gerade billiges Abschlussgeschenk überreicht wurde, übergeben einige | |
Eltern der Lehrerin noch Extrageschenke. Im Nachhinein erfahre ich, eines | |
davon war so teuer, dass sie es ablehnen musste. | |
Wir fahren in den Urlaub. Das Wort „Gymnasium“ fällt nicht ein einziges | |
Mal. Wir brauchen es nicht. Wir fahren mit unseren Mountainbikes die | |
„Parenzana“, eine einstige Eisenbahntrasse, von Slowenien nach Kroatien, | |
auf holperigen Schotterpisten. Wir fahren durch Tunnel und über Viadukte, | |
bei Sonne und Regen, ungefähr 30 Kilometer am Tag. Von Etappe zu Etappe. | |
22 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Margarete Moulin | |
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