| # taz.de -- Vor dem Wechsel aufs Gymnasium: Das Grundschulabitur | |
| > Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken: Wie unsere Autorin die | |
| > vierte Klasse ihres Sohnes an einer bayerischen Grundschule erlebt hat. | |
| Bild: Der Königsweg und ein paar Nebengipfel: Das wartet nach der vierten Klas… | |
| Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Monaten zum Abitur | |
| angetreten bin. Zehn-, zwölfmal bestimmt. Nachts, wenn die Träume kamen. In | |
| ihnen wandele ich durch die Gänge meines Gymnasiums, finde den Prüfungsraum | |
| nicht – oder finde den Weg aus der Schule nicht mehr heraus. Um zu | |
| erfahren, warum ich mehr als 25 Jahre nach meinem Abitur solche Albträume | |
| habe, muss ich auf keine Psychiatercouch. Im vergangenen Schuljahr ist mein | |
| Sohn durch den Prüfungsmarathon des bayerischen Grundschulabiturs getrieben | |
| worden. Und wir als Eltern mit. | |
| „Grundschulabitur“, so nennen viele Kritiker in Bayern den Übertritt nach | |
| der vierten Klasse in die weiterführenden Schulen. Dem bayerischen | |
| Bildungsministerium gilt es immer noch als unumstößliche Wahrheit, dass | |
| sich Kinder im Alter von 9 oder 10 Jahren am besten dafür eignen, | |
| ausgewählt und auf ihre zukünftige Schullaufbahn geschickt zu werden, | |
| sprich auf Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Andere Bundesländer | |
| sind in den letzten Jahren zunehmend den Weg gegangen, nach der Grundschule | |
| nur Empfehlungen auszusprechen und die Eltern die Schulform für ihre Kinder | |
| selbst wählen zu lassen, in Bayern aber ist das Übertrittszeugnis bindend. | |
| Im ersten Halbjahr der vierten Klasse werden 22 Pflichtproben in Deutsch, | |
| Mathe sowie Heimat- und Sachunterricht geschrieben. Hinzu kommen | |
| Leistungsnachweise in Englisch, Ethik, Religion, Musik oder Kunst. Die | |
| Leistungsnachweise erhöhen die Stoffmenge, die in kurzer Zeit in | |
| Kindergehirne gestopft werden muss, sie zählen aber nicht für die | |
| Entscheidung. Wer in den drei Hauptfächern einen Schnitt von 2,33 erzielt, | |
| darf auf das Gymnasium gehen. | |
| Anfang Mai entscheidet das Übertrittszeugnis über die weitere | |
| Schulkarriere. Es geht also, abzüglich von sechs Wochen Schulferien, um | |
| acht Monate. Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken. Acht Monate, in | |
| denen es immer wieder abends aus meinem Sohn herausbricht, als ich ihn zu | |
| Bett bringe: „Mama, was soll ich machen, wenn ich nicht aufs Gymnasium | |
| komme? Mama, alle aus meiner Klasse werden den Übertritt schaffen!“ Dieser | |
| drängende, gepresste Tonfall quält mich. Wie konnte es so weit kommen, dass | |
| mein neunjähriger Sohn bereits denkt: entweder Gymnasium oder Katastrophe? | |
| ## Im Epizentrum der Leistungsgesellschaft | |
| 13. September 2016. Der erste Schultag der vierten Klasse. Mein Mann bringt | |
| unseren Sohn zur Schule. Es herrscht Wiedersehensfreunde unter den | |
| Schülern, sie erzählen sich Ferienerlebnisse. Von Übertrittsangespanntheit | |
| keine Spur. Doch dass die vierte Klasse nicht mehr die dritte ist, das | |
| sollten wir schnell merken. | |
| Mein Mann, meine beiden Söhne und ich wohnen in Icking, im südlichen | |
| Speckgürtel von München. Im Isartal, das war schon immer eine gehobene | |
| Gegend. Als ich hier aufwuchs, in den Achtzigern, war es noch relativ | |
| gemischt: Handwerker, Landwirte und Akademiker lebten nebeneinander. Heute | |
| wohnt hier das Bürgertum: Patentanwälte, Ingenieure, Ärzte, Berater. Man | |
| verdient hier überdurchschnittlich. Glück ist, wenn das Leben nach Erfolg | |
| aussieht, wenn das große Auto vor der Tür steht, die Reise nach Afrika | |
| klappt und sommers der Rasenroboter surrend seine Runden über das | |
| Grundstück zieht. Glück ist also, wenn es einem selbst gut geht. | |
| In dieser Wohlstandswelt wollen Eltern, dass ihre Kinder aufs Gymnasium | |
| kommen. Und sie sind bereit, dafür fast alles zu tun: Sie bringen ihre | |
| Kinder zur Lerntherapie, sie besorgen Proben aus dem Vorjahr, manche geben | |
| ihren Kindern Ritalin. Die Eltern kämpfen für den Übertritt. Welchen | |
| Unfrieden der Übertritt in die Familien bringt, konnte ich sehen, wenn ich | |
| mit den Eltern anderer Wackelkandidaten sprach. Ich sah Tränen in den Augen | |
| der Mütter glitzern, hörte die Wut in den Stimmen der Väter. Nur wenige | |
| wehrten sich grundsätzlich gegen dieses System, und wer es tat, eckte an. | |
| In Icking gehen nach der vierten Klasse um die 80 Prozent der Kinder aufs | |
| Gymnasium, nach Aussagen des Schulamts. Der Schnitt in Bayern liegt bei | |
| ungefähr 40 Prozent. In Deutschland gingen 2014 laut dem Statistischen | |
| Bundesamt 45 Prozent aller Schüler einer weiterführenden Schule aufs | |
| Gymnasium. Icking liegt also im Epizentrum der | |
| Grundschulleistungsgesellschaft. | |
| Eigentlich begann der Weg meines Sohns in der Grundschule gut. Was ich oft | |
| über ihn gehört habe: intelligent, wach, begeisterungsfähig, schnell im | |
| Verknüpfen von Gedanken. Er ist zweisprachig aufgewachsen, mit Deutsch und | |
| Französisch, mein Mann ist Belgier. In der zweiten Klasse sagte eine | |
| Lehrerin über meinen Sohn: „Er reißt oft ethische Fragen an, die die ganze | |
| Klasse nach vorne bringen.“ Ich freute mich damals. Fragen und Hinterfragen | |
| ist ein Wert, der in unserer Familie zählt. Mein Sohn ging drei Jahre lang | |
| in einen Waldorf-Kindergarten. Er bastelt gern, berührt, experimentiert. | |
| Von einem seiner Experimente machte er ein Video: Er legte Silvesterknaller | |
| auf einen Haufen, daneben eine Wasserbombe. Die Böller explodieren, das | |
| Feuer erreicht die Wasserbombe, sie platzt, das Wasser löscht den kleinen | |
| Brand. | |
| In den ersten Jahren der Grundschule brachte mein Sohn gute Noten nach | |
| Hause, Zweier, Dreier. Und in jedem Referat eine Eins. | |
| Doch dann gab es da dieses Wort: Übertritt. Ich erinnere mich an einen | |
| Elternabend zu Beginn der zweiten Klasse. Die Lehrerin sagte: „Bitte reden | |
| Sie mit Ihrem Kind nicht über das Thema Gymnasium.“ Das klang für mich wie: | |
| „Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.“ Die Lehrerin weiter: „Wichtig | |
| ist, dass das Kind sich geliebt fühlt und sich nicht über Leistung | |
| definiert.“ Ich fragte sie, warum dann im Klassenzimmer auf einem Plakat | |
| für alle Kinder lesbar aufgelistet wurde, welche Schüler zu Hause – neben | |
| den Hausaufgaben – Fleißaufgaben erledigt hatten. Stille. Die Lehrerin wand | |
| sich. Die Antwort kam dann von den anderen Eltern: „Na ja, wir sind nun mal | |
| eine Leistungsgesellschaft. Wir müssen unsere Kinder schon darauf | |
| vorbereiten.“ Eine Mutter verplapperte sich und gab zu, dass sie ihr Kind | |
| immer danach fragt, welche Noten die anderen denn so hätten. | |
| Die Hegemonie einer Leistungsgesellschaft – das wurde mir an diesem Abend | |
| klar – wird einfach hingenommen. Die Eltern spielen mit, halten sich an die | |
| Regeln und rechtfertigen sie sogar. Seit diesem Elternabend bin ich wütend. | |
| ## Eltern müssen assistieren | |
| In der dritten Klasse begann die neue Klassenlehrerin damit, uns Eltern | |
| regelmäßig Mails zu schreiben, in denen sie angab, was in der nächsten | |
| Schulaufgabe abgefragt würde. Teils schrieb sie uns genaue Seitenangaben | |
| der Lehrbücher oder schickte Hinweise auf einen bestimmten Rechenweg. Ich | |
| bin mir sicher, das hatten sich einige Eltern so gewünscht. Jedenfalls war | |
| klar: Der ganze Stoff konnte nicht allein im Unterricht vermittelt werden. | |
| Eltern müssen assistieren, wenn sie wollen, dass aus ihren Kindern mal | |
| etwas wird. | |
| Auf diesen Deal wollte ich mich nicht einlassen. Ich hatte mich innerlich | |
| immer dagegen gewehrt, mit meinen Kindern Nachmittage zu verhocken, um zu | |
| pauken. Natürlich half ich hier und da, kontrollierte die Hausaufgaben. In | |
| der Stoffvermittlung aber vertraute ich darauf, dass die Schule ihren Job | |
| macht. Ich dachte: „Ich gehe ja nicht mehr zur Schule!“ | |
| Auch für den Übertritt wollte ich daran nichts ändern. Im vergangenen | |
| Herbst, zu Beginn der vierten Klasse meines Sohns, arbeitete ich viel und | |
| fuhr auf eine längere Pressereise. | |
| Auf dem Pausenhof, erzählt mein Sohn eines Tages, vergleichen die Kinder | |
| Noten. Die mit den Einsern und Zweiern ballen nach den Schulaufgaben | |
| siegreich die Faust. Tschaka! Alle haben verstanden: Ich muss jetzt über | |
| eine Hürde springen, und wenn ich das nicht tue, dann bin ich weg. | |
| ## Wir verschmelzen zu einem Team | |
| Im Oktober bringt mein Sohn eine Vier in einem Deutschdiktat nach Hause. | |
| Das ist neu. Er hatte während der Probe Bauchweh und wurde nicht fertig. | |
| „Ich dachte, ich muss durchhalten und darf erst danach zum Arzt“, erzählt | |
| er mir. Mein Mann und ich gehen zur Lehrerin, um zu fragen, ob er die Probe | |
| nachholen darf, weil klar war, dass er unter Schmerzen nicht die volle | |
| Leistung erbringen konnte. Die Schule lehnt das ab. Ich signalisiere ihm, | |
| dass „wir“ uns von dieser Vier wegarbeiten müssen. Wir verschmelzen zu | |
| einem Team. | |
| Als Schülerin war ich ehrgeizig, an meinen eigenen Übertritt kann ich mich | |
| nicht erinnern, die Grundschule fiel mir sehr leicht. Auf dem Gymnasium | |
| kamen dann auch mal schlechtere Noten, ich hatte aber immer das Gefühl: Die | |
| Eins oder Zwei, das bin ich. 1,8 im Abitur, 1,3 im Diplom. Als mein Sohn | |
| die erste Vier nach Hause bringt, merke ich: Das weckt alte Erinnerungen | |
| bei mir. | |
| Ich kenne das Gefühl, den eigenen Wert von außen bestimmen zu lassen. Als | |
| ich noch zur Schule ging, geriet ich in der achten Klasse auf dem Gymnasium | |
| ins Schlingern, kassierte Vierer und Fünfer ein. Ich fühlte die Abwertung | |
| durch die Lehrer, spürte ihre Interesselosigkeit mir gegenüber, der | |
| scheinbar begriffsstutzigen, wenig vielversprechenden Schülerin. Ich | |
| wechselte auf ein Ganztagsgymnasium mit Hausaufgabenbetreuung und gab Gas, | |
| stieg notenmäßig steil nach oben. Ich funktionierte aber weiter voll in dem | |
| System, begann meinen persönlichen Wert anhand der Notenskala abzulesen. | |
| Jahrelang habe ich daran gearbeitet, dieses Gefühl abzuschütteln. Ich hatte | |
| mich davon befreit. Aber jetzt kommt es wieder. Die Schule streckt ihre | |
| Finger nach mir aus. | |
| ## Die Depressionsrate unter Schülern steigt | |
| Das enttäuschte Gesicht meines Sohns tut mir weh, eine schlechte Note | |
| kränkt ihn. Ich will unbedingt, dass ihm alle Türen offen stehen. Aber ich | |
| muss auch aufpassen, was die Noten mit unserer Beziehung anstellen. Auf | |
| keinen Fall will ich ihn durch die gleiche Brille sehen, durch die die | |
| Lehrer ihn sahen. Vor der Schule war ich immer begeistert von meinem Kind, | |
| sah in ihm vor allem Potenzial. Spätestens seit der vierten Klasse wurde es | |
| mir in regelmäßigen Abständen als Mängelwesen präsentiert, als Sorgenkind. | |
| Der Kampf gegen diese Perspektive kostet Kraft, und er macht wahnsinnig | |
| wütend. | |
| Die nächste Note ist eine Fünf, wieder in Deutsch. Ein No-go im | |
| Übertrittsjahr. Ich spüre einen Angsthauch. | |
| Kurz nach Weihnachten machen wir einen Termin beim Psychologen aus. Die | |
| Klassenlehrerin hatte in einer Sprechstunde in einem leicht vorwurfsvollen | |
| Ton angedeutet, mein Sohn habe vielleicht ADHS. Er könne sich schlecht | |
| konzentrieren. Ich werde unruhig. Es stimmt ja: Er hat seine Antennen immer | |
| in alle Richtungen offen, ist leicht zu begeistern, aber auch leicht | |
| abzulenken. Kann das die Antwort sein? | |
| Der Psychologe spricht eine Viertelstunde lang mit meinem Sohn. Danach | |
| weigert er sich, eine Diagnose zu geben. „Warum soll ich ihn | |
| pathologisieren?“, fragt er und wirft uns fast aus der Praxis. „Ihr Kind | |
| ist komplett gesund. Worunter es leidet, ist der Druck.“ | |
| Allenfalls könne er sich ein Konzentrationstraining vorstellen. Also lassen | |
| wir ihn ein Neuro-Feedback am PC machen, ungefähr zehnmal geht er zu einem | |
| Konzentrationstraining, bei dem Elektroden auf seinem Kopf platziert | |
| werden. So kann er mit seiner Gedankenkraft Flugzeuge und Skateboards auf | |
| dem Bildschirm lenken. | |
| ## Im Winter beginnen die Stressymptome | |
| Heute frage ich mich, warum wir das gemacht haben. Ich glaube, wir wollten | |
| ihn wappnen. | |
| Im Laufe des Winterhalbjahrs beginnt mein Sohn Stresssymptome zu zeigen: Er | |
| vergisst ständig Dinge, verwechselt plötzlich wieder v und f, kann nicht | |
| einschlafen. Einmal fällt ihm morgens auf, dass er seine Hausaufgaben | |
| vergessen hat. Panisch steht er in der Küche, weint, zittert, schreit. | |
| Dann habe ich einen Traum. Ich bin als Erwachsene in der Grundschule, muss | |
| eine Probe schreiben, noch drei Minuten, ich greife nach dem Killer und | |
| lösche alles weg. | |
| Im Februar findet der Elterninformationsabend vor dem Übertrittszeugnis | |
| statt. Vertreter von Gymnasium, Realschule und Hauptschule stellen ihre | |
| Schulformen vor. | |
| Eine Lehrerin des Gymnasiums ergreift dass Wort. Sie listet auf, was ein | |
| zukünftiger Fünftklässler mitzubringen habe: logisches Denken, hohe | |
| Gedächtnisleistung, selbstständiges, zügiges, ausdauerndes, ordentliches | |
| und genaues Arbeiten, dazu emotionale Belastbarkeit und hohe | |
| Frustrationstoleranz, gepaart mit einer hohen intrinsischen Motivation, mit | |
| Ehrgeiz und Fleiß, zudem sprachliche und mathematische Kompetenz in allen | |
| Bereichen. Es hört sich wie eine Stellenanzeige für oberes Management an. | |
| Ja, am Anfang der fünften Klasse käme es öfters vor, dass Kinder, die | |
| vorher notenmäßig sehr gut waren, weinten, weil sie nicht an Dreier oder | |
| Vierer gewöhnt seien, erzählt die Lehrerin kalt. Aber so sei das, da | |
| müssten sie durch. | |
| ## Der Elternverschreckungsabend | |
| Dann zeigt sie ein Foto von einer Bergkette: Der höchste Gipfel, platziert | |
| in der Mitte des Bildes, steht für das Abitur. In Rot eingezeichnet ist der | |
| steilste Weg, der „schönste“, laut der Lehrerin, das ist die Direttissima | |
| zum Ziel, sprich: der Weg durchs Gymnasium. Sie nennt das den „Königsweg“. | |
| Auf dem Bild gibt es niedere Nebengipfel, die „alternative Ziele“ genannt | |
| werden, zum Beispiel eine Ausbildung. Einerseits wird so getan, als sei | |
| jeder Weg gleichwertig. Als gehe der Druck auf die Kinder, unbedingt aufs | |
| Gymnasium zu gehen, nur von den Eltern aus, nicht von dem Schulsystem. Sie | |
| sagt: „Die Aggressivität von den Eltern gegenüber den Lehrern nimmt zu.“ | |
| Ich kann es verstehen. Mir juckt es an diesem Abend in den Fingern. Ich | |
| würde dieser Frau mit ihrer verlogenen Semantik am liebsten an die Gurgel | |
| gehen. Ein Vater neben mir sagt: „Ich würde ihr so gern mal meine Meinung | |
| geigen!“ Er traut sich nicht. Das ist eine Erfahrung, die ich immer wieder | |
| mache: Wer Grundsätzliches kritisiert, wie zum Beispiel einen von der | |
| örtlichen Bank gesponserten Malwettbewerb in der Grundschule, wird | |
| abgewatscht. | |
| An dem Abend erzählt die Lehrerin auch, dass sich fast die Hälfte aller | |
| bayerischer Grundschüler gestresst fühle und dass die Depressionsrate unter | |
| den Gymnasiasten steige. Ich erinnere mich auch an einen Beitrag des | |
| Bayerischen Rundfunks, der über eine psychosomatische Klinik berichtete, | |
| die mit depressiven Abiturienten gefüllt ist. | |
| Draußen vor der Tür stehen nach dem Abend die Eltern zusammen, viele mit | |
| fassungslosen Gesichtern. Ich spreche seitdem von diesem Ereignis nur noch | |
| als „Elternverschreckungsabend“. | |
| ## Dekonstruktion in der vierten Klasse | |
| Einige Tage danach treffe ich eine Schulberaterin in München, der ich von | |
| meinen Sorgen erzähle. Sie sagt: „Hier in München werden auch Kinder aufs | |
| Gymnasium gepusht, die da gar nichts verloren haben. Sie purzeln in der | |
| Mittelstufe wieder runter.“ Ab der achten Klasse steige die Zahl der | |
| Schüler in den Realschulen stark an, manche hätten dann plötzlich doppelt | |
| so viele Schüler. Die Beraterin erzählt mir auch, dass 40 Prozent der | |
| bayerischen Abiturienten ihre Hochschulreife nicht an einem Gymnasium | |
| erwerben, sie gehen an Fachoberschulen oder holen das Abitur anders nach. | |
| Und dass ich davon ausgehen könnte, dass bei uns in Icking ein höheres | |
| Niveau an den Grundschulen herrsche als in der Innenstadt. „Die Proben sind | |
| härter oder werden härter bewertet.“ Nach dem Gespräch fühle ich mich | |
| getröstet. | |
| Im April kommt mein Sohn mit Unterlagen nach Hause, auf denen steht: | |
| „Landesbildungsanstalt Baden-Württemberg“. Arbeitsblätter, die dort | |
| Fünftklässler lösen auf dem Gymnasium. Es geht um Märchen. Die Kinder | |
| müssen ein Märchen schreiben, in denen fünf Elemente vorkommen, die aus | |
| der Erzähltheorie stammen: ein Held, das Böse, ein Helfer, ein magischer | |
| Gegenstand und eine Zauberformel. Sie sollen ihr eigenes Märchen bauen. Das | |
| ist Dekonstruktion in der vierten Klasse: Wie entzaubere ich die Welt? | |
| Im Mai kriegen wir es dann endlich, das Übertrittszeugnis. Mein kluger | |
| Junge, der mit neun Monaten zu sprechen begann, der sich das Französisch | |
| seines Vaters spielend angeeignet hat, gehört jetzt zu den drei Kindern | |
| seiner Klasse, die als ungeeignet fürs Gymnasium gelten, weil er eine 2,66 | |
| im Durchschnitt hat und keine 2,33. | |
| ## „Mama, weißt du, der Stress tut mir nicht gut“ | |
| Es ist eigentlich ein Witz. Wenn ich es nicht im Innersten als Beleidigung | |
| empfinden würde. Ich weiß: Da gehen Kinder aufs Gymnasium, die weniger | |
| begabt sind als er, die aber besser auswendig lernen können. Aber ich | |
| möchte auch nicht wie der gekränkte Fuchs in der Fabel von Fontane sein, | |
| der sich ärgert, dass er die Trauben nicht erhaschen kann, und dann sagt, | |
| sie sind zu sauer. Wir gehen trotzdem abends essen und feiern unseren Sohn | |
| dafür, dass er sich so angestrengt hat. | |
| Im zweiten Halbjahr der vierten Klasse schreibt er bessere Noten. Am | |
| Schuljahresende hat er den Schnitt, den er fürs Gymnasium gebraucht hätte. | |
| Vielleicht, weil er im Konzentrationstraining Erfolgserlebnisse hatte und | |
| sich dann auch in der Schule mehr zutraute. Vor allem aber ist der Druck | |
| plötzlich weg. „Mama, weißt du, der Stress tut mir einfach nicht gut“, sa… | |
| mein Sohn einmal vor dem Schlafengehen. Und es versetzt mir einen Stich, | |
| dass er dabei aussieht wie ein Erwachsener. Als ich zehn war, kannte ich | |
| das Wort „Stress“ noch gar nicht. | |
| Kurz bevor das Schuljahr endet, spreche ich mit dem Schuldirektor. Als | |
| Leiter der Schülerzeitung, in der sich mein Sohn jede Woche engagiert | |
| hatte, kennt er unser Kind gut. Er ist ehrlich betroffen, sagt: „Ihr Sohn | |
| ist wesentlich begabter, als er es hier an der Schule hat zeigen können.“ | |
| Ich würde es drastisch umformulieren: als es die Schule an ihm zeigen | |
| konnte. | |
| Der Entschluss, wie es weitergehen soll, fällt Wochen vor dem Zeugnistag, | |
| am „Elternverschreckungsabend“. Mein Sohn geht auf eine Waldorfschule. Wir | |
| schicken ihn zu Probetagen, er kommt mit leuchtenden Augen zurück. „Da will | |
| ich hin“, sagt er. | |
| ## Dieses Jahr hat uns näher gebracht | |
| Ich freue mich auf die Waldorfschule. Und hoffe, dass mein Sohn dort mehr | |
| lernt, als nur Leistung zu bringen, dass verknüpfendes Denken gefördert | |
| wird: Er wird im landwirtschaftlichen Praktikum auf dem Bauernhof arbeiten. | |
| Beim Bruchrechnen wird er einen Apfel zerteilen und sehen, wieso drei | |
| Viertel weniger ist als ein Ganzes. Ich wünsche mir für meinen Sohn, dass | |
| er einfach er werden darf und eines Tages in sich spürt, wie und als was er | |
| arbeiten möchte. Wir haben uns auch Realschulen angesehen, es ist dasselbe | |
| System, das bedient wird, nur wird man Verkäufer anstatt Manager. Excel | |
| lernen die Kinder in der sechsten Klasse. Das passt nicht zu ihm. | |
| Ich bin meinem Sohn dankbar. Dieses Jahr hat uns einander nähergebracht. | |
| Für ihn musste ich noch einmal in meine inneren Bergwerke steigen und | |
| zutage fördern, wie sehr ich trotz allem ein ehrgeiziger Mensch bin, ein | |
| Produkt der Leistungsgesellschaft, die aus Menschen besteht, die die | |
| Leistungen ihrer Kinder für die eigenen halten. In der Grundschule meines | |
| Sohns wird erwartet, dass die Eltern mitarbeiten. Und hier in Icking wird | |
| auch erwartet, dass die Mutter nachmittags zu Hause bei den Kindern ist. | |
| Mein Sohn hat mir gezeigt, dass ich als Erwachsene genug Kraft und Mut | |
| habe, mich noch einmal von dem vorgegebenen Bewertungssystem zu lösen. | |
| Am letzten Schultag geht die Klasse mitsamt Eltern mittags Pizza essen. | |
| Mein Sohn will unbedingt hin, seine Freunde sehen, bevor sie auf eine | |
| andere Schule gehen. Eine Handvoll Mütter fallen der Lehrerin um den Hals. | |
| Mir kann die Lehrerin, sie sitzt schräg gegenüber, eineinhalb Stunden lang | |
| nicht in die Augen sehen. Und obwohl ihr im Namen der ganzen Klasse ein | |
| nicht gerade billiges Abschlussgeschenk überreicht wurde, übergeben einige | |
| Eltern der Lehrerin noch Extrageschenke. Im Nachhinein erfahre ich, eines | |
| davon war so teuer, dass sie es ablehnen musste. | |
| Wir fahren in den Urlaub. Das Wort „Gymnasium“ fällt nicht ein einziges | |
| Mal. Wir brauchen es nicht. Wir fahren mit unseren Mountainbikes die | |
| „Parenzana“, eine einstige Eisenbahntrasse, von Slowenien nach Kroatien, | |
| auf holperigen Schotterpisten. Wir fahren durch Tunnel und über Viadukte, | |
| bei Sonne und Regen, ungefähr 30 Kilometer am Tag. Von Etappe zu Etappe. | |
| 22 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Margarete Moulin | |
| ## TAGS | |
| Grundschule | |
| Gymnasium | |
| Zeugnisse | |
| Jugendhilfe | |
| Schule | |
| Gymnasium | |
| Hamburg | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Freistaat Bayern | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Psychologin über Beratung via E-Mail: „Keine Angst ist falsch“ | |
| Empathie zeigen in Emails, geht das? Ja, sagt Lisa Marie Tammena, Beraterin | |
| bei jugendnotmail.de. Manchmal geht das sogar besser als mündlich. | |
| Schülervertreter gegen Hausaufgaben: Mehr Freizeit bitte! | |
| Für viele Kinder sind sie das Schlimmste in der Schulzeit – Hausaufgaben. | |
| Geht es nach dem Landesschülerausschuss, ist damit bald Schluss. | |
| Pro & Contra: Gymnasium für alle? | |
| Schleswig-Holstein hat die Gymnasialempfehlung wieder eingeführt, in | |
| Niedersachsen hat die SPD das verhindert. Können denn alle Kinder aufs | |
| Gymnasium? | |
| Hamburger Gymnasien sortieren aus: Abschulen ist Trumpf | |
| Immer mehr SchülerInnen müssen Gymnasien frühzeitig verlassen und landen an | |
| Stadtteilschulen. Die sind mit der Integration überfordert. | |
| Debatte Schulnoten: Besser ohne | |
| Die meisten Eltern, Lehrer und Bildungsminister befürworten die numerische | |
| Leistungsbewertung. Unser Schulsystem wäre ohne sie gerechter. | |
| Bayern kehrt zum G9 zurück: Länger lernen ist wieder besser | |
| Schon ab September sollen Kinder in Bayern wieder neun Jahre aufs Gymnasium | |
| gehen dürfen. Eine Rückkehr zum alten System soll es trotzdem nicht sein. |