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# taz.de -- Vor dem Wechsel aufs Gymnasium: Das Grundschulabitur
> Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken: Wie unsere Autorin die
> vierte Klasse ihres Sohnes an einer bayerischen Grundschule erlebt hat.
Bild: Der Königsweg und ein paar Nebengipfel: Das wartet nach der vierten Klas…
Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Monaten zum Abitur
angetreten bin. Zehn-, zwölfmal bestimmt. Nachts, wenn die Träume kamen. In
ihnen wandele ich durch die Gänge meines Gymnasiums, finde den Prüfungsraum
nicht – oder finde den Weg aus der Schule nicht mehr heraus. Um zu
erfahren, warum ich mehr als 25 Jahre nach meinem Abitur solche Albträume
habe, muss ich auf keine Psychiatercouch. Im vergangenen Schuljahr ist mein
Sohn durch den Prüfungsmarathon des bayerischen Grundschulabiturs getrieben
worden. Und wir als Eltern mit.
„Grundschulabitur“, so nennen viele Kritiker in Bayern den Übertritt nach
der vierten Klasse in die weiterführenden Schulen. Dem bayerischen
Bildungsministerium gilt es immer noch als unumstößliche Wahrheit, dass
sich Kinder im Alter von 9 oder 10 Jahren am besten dafür eignen,
ausgewählt und auf ihre zukünftige Schullaufbahn geschickt zu werden,
sprich auf Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Andere Bundesländer
sind in den letzten Jahren zunehmend den Weg gegangen, nach der Grundschule
nur Empfehlungen auszusprechen und die Eltern die Schulform für ihre Kinder
selbst wählen zu lassen, in Bayern aber ist das Übertrittszeugnis bindend.
Im ersten Halbjahr der vierten Klasse werden 22 Pflichtproben in Deutsch,
Mathe sowie Heimat- und Sachunterricht geschrieben. Hinzu kommen
Leistungsnachweise in Englisch, Ethik, Religion, Musik oder Kunst. Die
Leistungsnachweise erhöhen die Stoffmenge, die in kurzer Zeit in
Kindergehirne gestopft werden muss, sie zählen aber nicht für die
Entscheidung. Wer in den drei Hauptfächern einen Schnitt von 2,33 erzielt,
darf auf das Gymnasium gehen.
Anfang Mai entscheidet das Übertrittszeugnis über die weitere
Schulkarriere. Es geht also, abzüglich von sechs Wochen Schulferien, um
acht Monate. Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken. Acht Monate, in
denen es immer wieder abends aus meinem Sohn herausbricht, als ich ihn zu
Bett bringe: „Mama, was soll ich machen, wenn ich nicht aufs Gymnasium
komme? Mama, alle aus meiner Klasse werden den Übertritt schaffen!“ Dieser
drängende, gepresste Tonfall quält mich. Wie konnte es so weit kommen, dass
mein neunjähriger Sohn bereits denkt: entweder Gymnasium oder Katastrophe?
## Im Epizentrum der Leistungsgesellschaft
13. September 2016. Der erste Schultag der vierten Klasse. Mein Mann bringt
unseren Sohn zur Schule. Es herrscht Wiedersehensfreunde unter den
Schülern, sie erzählen sich Ferienerlebnisse. Von Übertrittsangespanntheit
keine Spur. Doch dass die vierte Klasse nicht mehr die dritte ist, das
sollten wir schnell merken.
Mein Mann, meine beiden Söhne und ich wohnen in Icking, im südlichen
Speckgürtel von München. Im Isartal, das war schon immer eine gehobene
Gegend. Als ich hier aufwuchs, in den Achtzigern, war es noch relativ
gemischt: Handwerker, Landwirte und Akademiker lebten nebeneinander. Heute
wohnt hier das Bürgertum: Patentanwälte, Ingenieure, Ärzte, Berater. Man
verdient hier überdurchschnittlich. Glück ist, wenn das Leben nach Erfolg
aussieht, wenn das große Auto vor der Tür steht, die Reise nach Afrika
klappt und sommers der Rasenroboter surrend seine Runden über das
Grundstück zieht. Glück ist also, wenn es einem selbst gut geht.
In dieser Wohlstandswelt wollen Eltern, dass ihre Kinder aufs Gymnasium
kommen. Und sie sind bereit, dafür fast alles zu tun: Sie bringen ihre
Kinder zur Lerntherapie, sie besorgen Proben aus dem Vorjahr, manche geben
ihren Kindern Ritalin. Die Eltern kämpfen für den Übertritt. Welchen
Unfrieden der Übertritt in die Familien bringt, konnte ich sehen, wenn ich
mit den Eltern anderer Wackelkandidaten sprach. Ich sah Tränen in den Augen
der Mütter glitzern, hörte die Wut in den Stimmen der Väter. Nur wenige
wehrten sich grundsätzlich gegen dieses System, und wer es tat, eckte an.
In Icking gehen nach der vierten Klasse um die 80 Prozent der Kinder aufs
Gymnasium, nach Aussagen des Schulamts. Der Schnitt in Bayern liegt bei
ungefähr 40 Prozent. In Deutschland gingen 2014 laut dem Statistischen
Bundesamt 45 Prozent aller Schüler einer weiterführenden Schule aufs
Gymnasium. Icking liegt also im Epizentrum der
Grundschulleistungsgesellschaft.
Eigentlich begann der Weg meines Sohns in der Grundschule gut. Was ich oft
über ihn gehört habe: intelligent, wach, begeisterungsfähig, schnell im
Verknüpfen von Gedanken. Er ist zweisprachig aufgewachsen, mit Deutsch und
Französisch, mein Mann ist Belgier. In der zweiten Klasse sagte eine
Lehrerin über meinen Sohn: „Er reißt oft ethische Fragen an, die die ganze
Klasse nach vorne bringen.“ Ich freute mich damals. Fragen und Hinterfragen
ist ein Wert, der in unserer Familie zählt. Mein Sohn ging drei Jahre lang
in einen Waldorf-Kindergarten. Er bastelt gern, berührt, experimentiert.
Von einem seiner Experimente machte er ein Video: Er legte Silvesterknaller
auf einen Haufen, daneben eine Wasserbombe. Die Böller explodieren, das
Feuer erreicht die Wasserbombe, sie platzt, das Wasser löscht den kleinen
Brand.
In den ersten Jahren der Grundschule brachte mein Sohn gute Noten nach
Hause, Zweier, Dreier. Und in jedem Referat eine Eins.
Doch dann gab es da dieses Wort: Übertritt. Ich erinnere mich an einen
Elternabend zu Beginn der zweiten Klasse. Die Lehrerin sagte: „Bitte reden
Sie mit Ihrem Kind nicht über das Thema Gymnasium.“ Das klang für mich wie:
„Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.“ Die Lehrerin weiter: „Wichtig
ist, dass das Kind sich geliebt fühlt und sich nicht über Leistung
definiert.“ Ich fragte sie, warum dann im Klassenzimmer auf einem Plakat
für alle Kinder lesbar aufgelistet wurde, welche Schüler zu Hause – neben
den Hausaufgaben – Fleißaufgaben erledigt hatten. Stille. Die Lehrerin wand
sich. Die Antwort kam dann von den anderen Eltern: „Na ja, wir sind nun mal
eine Leistungsgesellschaft. Wir müssen unsere Kinder schon darauf
vorbereiten.“ Eine Mutter verplapperte sich und gab zu, dass sie ihr Kind
immer danach fragt, welche Noten die anderen denn so hätten.
Die Hegemonie einer Leistungsgesellschaft – das wurde mir an diesem Abend
klar – wird einfach hingenommen. Die Eltern spielen mit, halten sich an die
Regeln und rechtfertigen sie sogar. Seit diesem Elternabend bin ich wütend.
## Eltern müssen assistieren
In der dritten Klasse begann die neue Klassenlehrerin damit, uns Eltern
regelmäßig Mails zu schreiben, in denen sie angab, was in der nächsten
Schulaufgabe abgefragt würde. Teils schrieb sie uns genaue Seitenangaben
der Lehrbücher oder schickte Hinweise auf einen bestimmten Rechenweg. Ich
bin mir sicher, das hatten sich einige Eltern so gewünscht. Jedenfalls war
klar: Der ganze Stoff konnte nicht allein im Unterricht vermittelt werden.
Eltern müssen assistieren, wenn sie wollen, dass aus ihren Kindern mal
etwas wird.
Auf diesen Deal wollte ich mich nicht einlassen. Ich hatte mich innerlich
immer dagegen gewehrt, mit meinen Kindern Nachmittage zu verhocken, um zu
pauken. Natürlich half ich hier und da, kontrollierte die Hausaufgaben. In
der Stoffvermittlung aber vertraute ich darauf, dass die Schule ihren Job
macht. Ich dachte: „Ich gehe ja nicht mehr zur Schule!“
Auch für den Übertritt wollte ich daran nichts ändern. Im vergangenen
Herbst, zu Beginn der vierten Klasse meines Sohns, arbeitete ich viel und
fuhr auf eine längere Pressereise.
Auf dem Pausenhof, erzählt mein Sohn eines Tages, vergleichen die Kinder
Noten. Die mit den Einsern und Zweiern ballen nach den Schulaufgaben
siegreich die Faust. Tschaka! Alle haben verstanden: Ich muss jetzt über
eine Hürde springen, und wenn ich das nicht tue, dann bin ich weg.
## Wir verschmelzen zu einem Team
Im Oktober bringt mein Sohn eine Vier in einem Deutschdiktat nach Hause.
Das ist neu. Er hatte während der Probe Bauchweh und wurde nicht fertig.
„Ich dachte, ich muss durchhalten und darf erst danach zum Arzt“, erzählt
er mir. Mein Mann und ich gehen zur Lehrerin, um zu fragen, ob er die Probe
nachholen darf, weil klar war, dass er unter Schmerzen nicht die volle
Leistung erbringen konnte. Die Schule lehnt das ab. Ich signalisiere ihm,
dass „wir“ uns von dieser Vier wegarbeiten müssen. Wir verschmelzen zu
einem Team.
Als Schülerin war ich ehrgeizig, an meinen eigenen Übertritt kann ich mich
nicht erinnern, die Grundschule fiel mir sehr leicht. Auf dem Gymnasium
kamen dann auch mal schlechtere Noten, ich hatte aber immer das Gefühl: Die
Eins oder Zwei, das bin ich. 1,8 im Abitur, 1,3 im Diplom. Als mein Sohn
die erste Vier nach Hause bringt, merke ich: Das weckt alte Erinnerungen
bei mir.
Ich kenne das Gefühl, den eigenen Wert von außen bestimmen zu lassen. Als
ich noch zur Schule ging, geriet ich in der achten Klasse auf dem Gymnasium
ins Schlingern, kassierte Vierer und Fünfer ein. Ich fühlte die Abwertung
durch die Lehrer, spürte ihre Interesselosigkeit mir gegenüber, der
scheinbar begriffsstutzigen, wenig vielversprechenden Schülerin. Ich
wechselte auf ein Ganztagsgymnasium mit Hausaufgabenbetreuung und gab Gas,
stieg notenmäßig steil nach oben. Ich funktionierte aber weiter voll in dem
System, begann meinen persönlichen Wert anhand der Notenskala abzulesen.
Jahrelang habe ich daran gearbeitet, dieses Gefühl abzuschütteln. Ich hatte
mich davon befreit. Aber jetzt kommt es wieder. Die Schule streckt ihre
Finger nach mir aus.
## Die Depressionsrate unter Schülern steigt
Das enttäuschte Gesicht meines Sohns tut mir weh, eine schlechte Note
kränkt ihn. Ich will unbedingt, dass ihm alle Türen offen stehen. Aber ich
muss auch aufpassen, was die Noten mit unserer Beziehung anstellen. Auf
keinen Fall will ich ihn durch die gleiche Brille sehen, durch die die
Lehrer ihn sahen. Vor der Schule war ich immer begeistert von meinem Kind,
sah in ihm vor allem Potenzial. Spätestens seit der vierten Klasse wurde es
mir in regelmäßigen Abständen als Mängelwesen präsentiert, als Sorgenkind.
Der Kampf gegen diese Perspektive kostet Kraft, und er macht wahnsinnig
wütend.
Die nächste Note ist eine Fünf, wieder in Deutsch. Ein No-go im
Übertrittsjahr. Ich spüre einen Angsthauch.
Kurz nach Weihnachten machen wir einen Termin beim Psychologen aus. Die
Klassenlehrerin hatte in einer Sprechstunde in einem leicht vorwurfsvollen
Ton angedeutet, mein Sohn habe vielleicht ADHS. Er könne sich schlecht
konzentrieren. Ich werde unruhig. Es stimmt ja: Er hat seine Antennen immer
in alle Richtungen offen, ist leicht zu begeistern, aber auch leicht
abzulenken. Kann das die Antwort sein?
Der Psychologe spricht eine Viertelstunde lang mit meinem Sohn. Danach
weigert er sich, eine Diagnose zu geben. „Warum soll ich ihn
pathologisieren?“, fragt er und wirft uns fast aus der Praxis. „Ihr Kind
ist komplett gesund. Worunter es leidet, ist der Druck.“
Allenfalls könne er sich ein Konzentrationstraining vorstellen. Also lassen
wir ihn ein Neuro-Feedback am PC machen, ungefähr zehnmal geht er zu einem
Konzentrationstraining, bei dem Elektroden auf seinem Kopf platziert
werden. So kann er mit seiner Gedankenkraft Flugzeuge und Skateboards auf
dem Bildschirm lenken.
## Im Winter beginnen die Stressymptome
Heute frage ich mich, warum wir das gemacht haben. Ich glaube, wir wollten
ihn wappnen.
Im Laufe des Winterhalbjahrs beginnt mein Sohn Stresssymptome zu zeigen: Er
vergisst ständig Dinge, verwechselt plötzlich wieder v und f, kann nicht
einschlafen. Einmal fällt ihm morgens auf, dass er seine Hausaufgaben
vergessen hat. Panisch steht er in der Küche, weint, zittert, schreit.
Dann habe ich einen Traum. Ich bin als Erwachsene in der Grundschule, muss
eine Probe schreiben, noch drei Minuten, ich greife nach dem Killer und
lösche alles weg.
Im Februar findet der Elterninformationsabend vor dem Übertrittszeugnis
statt. Vertreter von Gymnasium, Realschule und Hauptschule stellen ihre
Schulformen vor.
Eine Lehrerin des Gymnasiums ergreift dass Wort. Sie listet auf, was ein
zukünftiger Fünftklässler mitzubringen habe: logisches Denken, hohe
Gedächtnisleistung, selbstständiges, zügiges, ausdauerndes, ordentliches
und genaues Arbeiten, dazu emotionale Belastbarkeit und hohe
Frustrationstoleranz, gepaart mit einer hohen intrinsischen Motivation, mit
Ehrgeiz und Fleiß, zudem sprachliche und mathematische Kompetenz in allen
Bereichen. Es hört sich wie eine Stellenanzeige für oberes Management an.
Ja, am Anfang der fünften Klasse käme es öfters vor, dass Kinder, die
vorher notenmäßig sehr gut waren, weinten, weil sie nicht an Dreier oder
Vierer gewöhnt seien, erzählt die Lehrerin kalt. Aber so sei das, da
müssten sie durch.
## Der Elternverschreckungsabend
Dann zeigt sie ein Foto von einer Bergkette: Der höchste Gipfel, platziert
in der Mitte des Bildes, steht für das Abitur. In Rot eingezeichnet ist der
steilste Weg, der „schönste“, laut der Lehrerin, das ist die Direttissima
zum Ziel, sprich: der Weg durchs Gymnasium. Sie nennt das den „Königsweg“.
Auf dem Bild gibt es niedere Nebengipfel, die „alternative Ziele“ genannt
werden, zum Beispiel eine Ausbildung. Einerseits wird so getan, als sei
jeder Weg gleichwertig. Als gehe der Druck auf die Kinder, unbedingt aufs
Gymnasium zu gehen, nur von den Eltern aus, nicht von dem Schulsystem. Sie
sagt: „Die Aggressivität von den Eltern gegenüber den Lehrern nimmt zu.“
Ich kann es verstehen. Mir juckt es an diesem Abend in den Fingern. Ich
würde dieser Frau mit ihrer verlogenen Semantik am liebsten an die Gurgel
gehen. Ein Vater neben mir sagt: „Ich würde ihr so gern mal meine Meinung
geigen!“ Er traut sich nicht. Das ist eine Erfahrung, die ich immer wieder
mache: Wer Grundsätzliches kritisiert, wie zum Beispiel einen von der
örtlichen Bank gesponserten Malwettbewerb in der Grundschule, wird
abgewatscht.
An dem Abend erzählt die Lehrerin auch, dass sich fast die Hälfte aller
bayerischer Grundschüler gestresst fühle und dass die Depressionsrate unter
den Gymnasiasten steige. Ich erinnere mich auch an einen Beitrag des
Bayerischen Rundfunks, der über eine psychosomatische Klinik berichtete,
die mit depressiven Abiturienten gefüllt ist.
Draußen vor der Tür stehen nach dem Abend die Eltern zusammen, viele mit
fassungslosen Gesichtern. Ich spreche seitdem von diesem Ereignis nur noch
als „Elternverschreckungsabend“.
## Dekonstruktion in der vierten Klasse
Einige Tage danach treffe ich eine Schulberaterin in München, der ich von
meinen Sorgen erzähle. Sie sagt: „Hier in München werden auch Kinder aufs
Gymnasium gepusht, die da gar nichts verloren haben. Sie purzeln in der
Mittelstufe wieder runter.“ Ab der achten Klasse steige die Zahl der
Schüler in den Realschulen stark an, manche hätten dann plötzlich doppelt
so viele Schüler. Die Beraterin erzählt mir auch, dass 40 Prozent der
bayerischen Abiturienten ihre Hochschulreife nicht an einem Gymnasium
erwerben, sie gehen an Fachoberschulen oder holen das Abitur anders nach.
Und dass ich davon ausgehen könnte, dass bei uns in Icking ein höheres
Niveau an den Grundschulen herrsche als in der Innenstadt. „Die Proben sind
härter oder werden härter bewertet.“ Nach dem Gespräch fühle ich mich
getröstet.
Im April kommt mein Sohn mit Unterlagen nach Hause, auf denen steht:
„Landesbildungsanstalt Baden-Württemberg“. Arbeitsblätter, die dort
Fünftklässler lösen auf dem Gymnasium. Es geht um Märchen. Die Kinder
müssen ein Märchen schreiben, in denen fünf Elemente vorkommen, die aus
der Erzähltheorie stammen: ein Held, das Böse, ein Helfer, ein magischer
Gegenstand und eine Zauberformel. Sie sollen ihr eigenes Märchen bauen. Das
ist Dekonstruktion in der vierten Klasse: Wie entzaubere ich die Welt?
Im Mai kriegen wir es dann endlich, das Übertrittszeugnis. Mein kluger
Junge, der mit neun Monaten zu sprechen begann, der sich das Französisch
seines Vaters spielend angeeignet hat, gehört jetzt zu den drei Kindern
seiner Klasse, die als ungeeignet fürs Gymnasium gelten, weil er eine 2,66
im Durchschnitt hat und keine 2,33.
## „Mama, weißt du, der Stress tut mir nicht gut“
Es ist eigentlich ein Witz. Wenn ich es nicht im Innersten als Beleidigung
empfinden würde. Ich weiß: Da gehen Kinder aufs Gymnasium, die weniger
begabt sind als er, die aber besser auswendig lernen können. Aber ich
möchte auch nicht wie der gekränkte Fuchs in der Fabel von Fontane sein,
der sich ärgert, dass er die Trauben nicht erhaschen kann, und dann sagt,
sie sind zu sauer. Wir gehen trotzdem abends essen und feiern unseren Sohn
dafür, dass er sich so angestrengt hat.
Im zweiten Halbjahr der vierten Klasse schreibt er bessere Noten. Am
Schuljahresende hat er den Schnitt, den er fürs Gymnasium gebraucht hätte.
Vielleicht, weil er im Konzentrationstraining Erfolgserlebnisse hatte und
sich dann auch in der Schule mehr zutraute. Vor allem aber ist der Druck
plötzlich weg. „Mama, weißt du, der Stress tut mir einfach nicht gut“, sa…
mein Sohn einmal vor dem Schlafengehen. Und es versetzt mir einen Stich,
dass er dabei aussieht wie ein Erwachsener. Als ich zehn war, kannte ich
das Wort „Stress“ noch gar nicht.
Kurz bevor das Schuljahr endet, spreche ich mit dem Schuldirektor. Als
Leiter der Schülerzeitung, in der sich mein Sohn jede Woche engagiert
hatte, kennt er unser Kind gut. Er ist ehrlich betroffen, sagt: „Ihr Sohn
ist wesentlich begabter, als er es hier an der Schule hat zeigen können.“
Ich würde es drastisch umformulieren: als es die Schule an ihm zeigen
konnte.
Der Entschluss, wie es weitergehen soll, fällt Wochen vor dem Zeugnistag,
am „Elternverschreckungsabend“. Mein Sohn geht auf eine Waldorfschule. Wir
schicken ihn zu Probetagen, er kommt mit leuchtenden Augen zurück. „Da will
ich hin“, sagt er.
## Dieses Jahr hat uns näher gebracht
Ich freue mich auf die Waldorfschule. Und hoffe, dass mein Sohn dort mehr
lernt, als nur Leistung zu bringen, dass verknüpfendes Denken gefördert
wird: Er wird im landwirtschaftlichen Praktikum auf dem Bauernhof arbeiten.
Beim Bruchrechnen wird er einen Apfel zerteilen und sehen, wieso drei
Viertel weniger ist als ein Ganzes. Ich wünsche mir für meinen Sohn, dass
er einfach er werden darf und eines Tages in sich spürt, wie und als was er
arbeiten möchte. Wir haben uns auch Realschulen angesehen, es ist dasselbe
System, das bedient wird, nur wird man Verkäufer anstatt Manager. Excel
lernen die Kinder in der sechsten Klasse. Das passt nicht zu ihm.
Ich bin meinem Sohn dankbar. Dieses Jahr hat uns einander nähergebracht.
Für ihn musste ich noch einmal in meine inneren Bergwerke steigen und
zutage fördern, wie sehr ich trotz allem ein ehrgeiziger Mensch bin, ein
Produkt der Leistungsgesellschaft, die aus Menschen besteht, die die
Leistungen ihrer Kinder für die eigenen halten. In der Grundschule meines
Sohns wird erwartet, dass die Eltern mitarbeiten. Und hier in Icking wird
auch erwartet, dass die Mutter nachmittags zu Hause bei den Kindern ist.
Mein Sohn hat mir gezeigt, dass ich als Erwachsene genug Kraft und Mut
habe, mich noch einmal von dem vorgegebenen Bewertungssystem zu lösen.
Am letzten Schultag geht die Klasse mitsamt Eltern mittags Pizza essen.
Mein Sohn will unbedingt hin, seine Freunde sehen, bevor sie auf eine
andere Schule gehen. Eine Handvoll Mütter fallen der Lehrerin um den Hals.
Mir kann die Lehrerin, sie sitzt schräg gegenüber, eineinhalb Stunden lang
nicht in die Augen sehen. Und obwohl ihr im Namen der ganzen Klasse ein
nicht gerade billiges Abschlussgeschenk überreicht wurde, übergeben einige
Eltern der Lehrerin noch Extrageschenke. Im Nachhinein erfahre ich, eines
davon war so teuer, dass sie es ablehnen musste.
Wir fahren in den Urlaub. Das Wort „Gymnasium“ fällt nicht ein einziges
Mal. Wir brauchen es nicht. Wir fahren mit unseren Mountainbikes die
„Parenzana“, eine einstige Eisenbahntrasse, von Slowenien nach Kroatien,
auf holperigen Schotterpisten. Wir fahren durch Tunnel und über Viadukte,
bei Sonne und Regen, ungefähr 30 Kilometer am Tag. Von Etappe zu Etappe.
22 Sep 2017
## AUTOREN
Margarete Moulin
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