# taz.de -- 40 Jahre Mehringhof: „Westberlin brodelte“ | |
> Das alternative Kreuzberger Kulturzentrum Mehringhof feiert seinen 40. | |
> Geburtstag. Ein Gespräch mit Mitbegründer Rainer Nitsche. | |
Bild: Aufnahme aus dem Jahr 1996: Fahrräder reparieren im Mehringhof | |
taz: Herr Nitsche, was hatten Sie eigentlich am 7. Dezember 1979 an? | |
Rainer Nitsche: Ein Jackett, das ich mir gerade in Italien gekauft hatte. | |
Teuer? | |
Es war nicht teuer, aber es war sehr elegant. Dann noch ein normales Hemd | |
und Jeans halt. Aber keine Turnschuhe. | |
Das war der Tag, an dem Ihre Mitstreiter und Sie den Vertrag mit der | |
Druckerei Berthold AG über den Kauf des Fabrikgebäudes Gneisenaustraße 2 | |
unterzeichneten. Hatten Sie da Bammel, dass noch etwas schiefgehen könnte? | |
Ne. Als wir den Termin hatten, war alles ganz wunderbar klar. Die Berthold | |
AG hatte einen Prokuristen, einen sehr angenehmen Menschen, der sich | |
gefreut hat, dass es endlich jemanden gibt, der ihnen diese Riesenfabrik | |
abnimmt. Es gab eigentlich keine Phase, in der wir dachten, es könnte nicht | |
klappen. | |
Der Bezirk und die damals regierende SPD hatten allerdings nichts | |
unterlassen, Sie als Geschäftspartner madig zu machen. | |
Das war etwas paradox. Den Tipp, dass es in Kreuzberg an dieser prominenten | |
Ecke etwas zu kaufen gibt, haben wir aus dem Rathaus bekommen, aus dem | |
Kreuzberger Stadtplanungsamt. Als es dann aber ans Eingemachte ging und die | |
Verhandlungen mit der Sparkasse begannen, versuchte der damalige | |
Finanzsenator Klaus Riebschläger – natürlich ein Sozialdemokrat, da war ja | |
alles SPD damals – im Aufsichtsrat der Sparkasse dagegenzuschießen. Der | |
damalige Juso-Vorsitzende Walter Momper aber hat uns unterstützt. Zu | |
unseren Unterstützern gehörte auch die CDU-Fraktion in der BVV Kreuzberg. | |
Die wollten einem mächtigen Unternehmen wie der Berthold AG nicht in die | |
Verkaufsverhandlungen pfuschen. | |
Hat sich die Berthold AG davon beeindrucken lassen? | |
Das war schon beeindruckend. Während einige unserer Leute schrecklich | |
aufgeregt waren, blieben die Berthold-Leute total cool. Die haben sich | |
nicht mal nervös machen lassen, als die SPD davon fantasierte, wir wollten | |
den Mehringhof nur kaufen, um im Keller Bomben zu basteln. Die fanden auch | |
gut, welche bunte Mischung von Projekten da reinwollte. | |
Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie ein Fabrikgebäude mitten in Kreuzberg | |
kaufen wollten. Zu der Zeit wurde doch eher besetzt? | |
Das hat vor allem mit der Schule für Erwachsenenbildung (SfE) zu tun, auf | |
die die Initiative zum Kauf zurückging. Das war und ist heute noch eine | |
selbstverwaltete Privatschule, die damals aus den gemieteten Räumen in | |
Tempelhof rauswollte. Weil die Schüler Schulgeld zahlen mussten, | |
beziehungsweise das über Bafög ging, kam für die SfE eine Besetzung nicht | |
in Frage. Das ging auch anderen Projekten so, die teilweise indirekt über | |
staatliche Mittel finanziert wurden. | |
Für die Schule für Erwachsenenbildung war aber der Mehringhof viel zu groß. | |
Sie mussten also noch andere Projekte finden. War das schwer? | |
Westberlin brodelte damals vor Initiativen. Von Kinderläden bis freie | |
Schulen, es gab Initiativen in verschiedensten sozialen Bereichen. Viele | |
hatten auch das Gefühl: Jetzt ist es mal genug mit Opposition und Streiten, | |
jetzt stellen wir selber etwas auf die Beine. Wir müssen zeigen, was wir | |
draufhaben und wie wir es besser machen können. Das war eine richtige | |
Befreiung von den theoretischen Linienkämpfen, die es damals immer noch, | |
etwa unter den K-Gruppen, gab. Und es entwickelte sich so eine richtige | |
Gründerphase. | |
Sie brauchten zum Kauf ein Eigenkapital von 400.000 Mark. Woher hatten Sie | |
das? | |
Das war erst mal ein hoher Berg, aber wir hatten sechs Gründungsmitglieder, | |
neben der SfE etwa Stattbuch, den Gesundheitsladen, Netzwerk Selbsthilfe, | |
aber auch andere wie den Fahrradladen, die Räume suchten und Unterstützer | |
fanden. So kam das Geld zusammen. Auch Günter Grass hat uns damals 20.000 | |
Mark geliehen. | |
Sie haben dann die Mehringhof Grundstücksverwaltungs GmbH gegründet. | |
Plötzlich waren Sie Vermieter. Gab es da auch mal böses Blut? | |
Ich war am Anfang auch in der Geschäftsführung. Wir mussten die Müllabfuhr | |
organisieren, die Entwässerung, eine neue ökologisch vernünftige Heizung, | |
Umbauten und so weiter. Das musste erst mal geübt werden. Natürlich gab es | |
auch Probleme mit Projekten, die die Miete nicht bezahlt haben. Das mussten | |
wir aber als Geschäftsführung nicht alleine machen, es gab von Anfang an | |
die Mieterversammlung, eine wirksame Transparenz. | |
Also mussten nicht Sie die Projekte rausschmeißen, die die Miete nicht | |
zahlen, sondern das Kollektiv. | |
Rausgeschmissen haben wir keinen. | |
Gab es auch Konflikte, etwa zwischen Gewerbetreibenden, die Geld verdient | |
haben, und Sozial- und Kulturprojekten? | |
Eigentlich nicht. Im Grunde haben alle für sich alleine dafür sorgen | |
müssen, dass sie das Geld für die Miete zusammenkriegen. | |
Es gab immer wieder Angriffe der Polizei, etwa beim Volkszählungsboykott | |
1987 oder bei den Durchsuchungen wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer | |
terroristischen Vereinigung? Hat das zusammengeschweißt oder gab es da auch | |
Konflikte? | |
Konflikte gab es schon. Es gab auch eine autonome Fraktion, die immer in | |
der Minderheit war, aber manchmal stark genervt hat. Die fanden, dass die | |
anderen Projekte zu sozialdemokratisch oder der Alternativen Liste zu nahe | |
waren. Das passierte aber nicht in solchen Situationen, da standen wir dann | |
zusammen. Und bei diesen Gelegenheiten zeigte sich, dass Privatbesitz | |
Vorteile hat: wenn die Polizei unser Grundstück betrat, zum Beispiel bei | |
Versammlungen von Hausbesetzern, konnten wir darauf pochen, dass sie uns | |
erst mal einen juristisch einwandfreien Grund nennen musste. Und ganz | |
nebenbei: der Mehringhof wurde immer bestens überwacht: vom | |
Verfassungsschutz, vom BKA und, bis 1989, auch von der Stasi. | |
Am 10. August findet die 40-Jahre-Feier statt. Was ist für Sie der | |
Mehringhof heute? | |
Eine der seltenen und gelungenen Gründungen in einer sehr komplexen | |
Gestalt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er bis heute existiert. Das | |
spricht aber auch dafür, dass die Fundamente der damaligen finanziellen und | |
organisatorischen Konstruktion gestimmt haben. Allerdings hat sich mit der | |
Zeit auch gezeigt, dass der Mehringhof nicht wirklich, wie von uns erhofft, | |
der Ort des kreativen Austauschs zwischen sozialen, handwerklichen, | |
politischen und kulturellen Projekten geworden ist. | |
3 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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