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# taz.de -- 40 Jahre taz: Leben und Arbeiten: Feldversuch am eigenen Leben
> Vor allem in Westberlin und Hessen boomte die Selbstverwaltungsszene:
> Arbeit und Leben sollte verbunden werden. Die Idee ist quicklebendig.
Bild: Zeitungszauberei Marke UfaFabrik: Wie aus einer „Bild“ eine taz wird
Ende der 70er Jahre war die Zeit reif, jenseits von dogmatischen linken
Forderungen die eigene Zukunft anzupacken. Was sich auf dem Tunix-Kongress
zeigte, war das große Bedürfnis vieler, endlich loszulegen, um sich eigene
Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Gleichberechtigung,
Vergesellschaftung der Betriebe, überschaubare Arbeits- und
Lebenszusammenhänge, kreative Kultur zum Selbermachen, Ökologie und lokale
Selbstversorgung – so lauteten die kühnen Visionen.
1978/79 waren effektive Gründerjahre mit Langzeitwirkung in Westberlin: Die
taz begann mit der Arbeit, der Netzwerk-Fonds, der erste CSD, die
Alternative Liste (die heutigen Grünen), der Mehringhof, das
Krauti-Frauenkollektiv und die ufaFabrik.
Allgemein boomte die Selbstverwaltungsszene, vor allem in Westberlin und
Hessen. Hunderte von kleinen Kollektiven, Betrieben und
Lebensgemeinschaften entstanden und probten Selbstbestimmung bei gleichem
Lohn und gleichen Rechten.
Um sich auszutauschen, gegenseitig Mut zu machen und andere zu begeistern,
trafen sich 1981 zwölf von ihnen. Die ufaFabrik, Lebensgemeinschaft mit
Circus und Kulturcentrum, war mit dabei und bekam den Auftrag, mit der taz
um eine regelmäßige Berichterstattung über die Szene zu verhandeln.
Als kollektiv geführte Zeitung war sie das Medium der Wahl und in der
damaligen Redaktion gab es Zustimmung. Nun trafen sich die zwölf Betriebe
monatlich, stimmten Inhalte ab und sammelten das nötige Geld für den
Druckkostenzuschuss. Frauen aus der ufaFabrik fuhren mit den Manuskripten
zum vereinbarten Zeitpunkt in die taz-Redaktion, dort wurde gesetzt und
layoutet; immer mit dabei die Brotkiste aus der ufaFabrik-Bio-Bäckerei als
Motivationsschub für Setzer und Redakteure.
In der ersten Ausgabe der „Betriebszeitung“ vom April '82 hieß es: „Wir
werden ab jetzt jeden 1. Donnerstag im Monat über uns selbst berichten und
verzichten auf weitere Spekulationen von Professoren, Experten und
Regierung, die uns zu ‚Alternativen‘ und ‚Aussteigern‘ abstempeln wolle…
Begriffe, die nur dazu dienen, uns zu einer kalkulierbaren Fraktion zu
machen, zu einer kleinen Minderheit, die zu keiner gesellschaftlichen
Relevanz werden darf.“
Selbstbewusst berichtet wurde vom Alltag der Reisenden Gesellen Axt und
Kelle, aus der Schäfereigenossenschaft Finkhof, von den
Arbeiterselbsthilfen Köln und Oberursel, aus der Pioniersiedlung Reinighof
und von besetzten Häusern. Es wurde aufgezeigt, was diese Projekte
leisteten, wie Arbeit und Zusammenleben funktionierten, es gab Aufrufe zu
Spendenaktionen, zur Gründung neuer Kollektive, Einladungen zu
Diskussionsrunden und Projektemessen über solidarische Ökonomie und
ökologisches Leben, meist mit viel Optimismus und Aufbruchstimmung
versehen.
Weniger erzählt wurde über die kräftezehrenden Begleiterscheinungen dieser
sozialen Forschungsgemeinschaften, über nächtelanges Diskutieren, das
Ringen um den berühmten Konsens, individuelle Grenzerfahrungen, freiwillige
Selbstausbeutung, moralischen Gruppendruck, politische Grabenkämpfe,
selbstverwaltete Schulden und den Spagat zwischen Anspruch und Wohlfühlen –
über den Alltag eben.
Gespräche darüber fanden im Privaten statt und bewirkten, dass aus der
„Betriebszeitung“ die „Wendezeit“ wurde, frei nach dem Systemtheoretiker
Fritjof Capra, der in seinem 1982 veröffentlichten Buch „The turning point“
einen Wandel der Weltanschauung zu einer ganzheitlichen und ökologischen
Sicht forderte. 56 Ausgaben wurden produziert, dann übernahm die
Monatszeitung für Selbstorganisation „Contraste“ die Funktion als
eigenständiges Medium der Selbstverwaltungsszene.
Und heute? Wo sind sie geblieben, die alternativen Betriebe von damals?
Viele sind verschwunden, etliche sind noch da und haben ihre
Wirtschaftsform so angepasst, dass sie überlebensfähig blieben, so wie es
ufaFabrik und taz getan haben. Auf den allumfassenden Paradigmenwechsel in
der Welt der Wirtschaft warten wir noch. Geblieben sind die Erfahrungen
derjenigen, die damals experimentierten und herausfanden, welche Werte ihre
Welt von morgen bereithalten sollte.
Leute mit Begeisterung für sinnstiftende Arbeitsbedingungen, die gut für
Mensch und Umwelt sind, wachsen immer wieder nach; zu entdecken zum
Beispiel in den „Wandelwochen 2018“ in Berlin und Brandenburg. Da zeigen
sich Wohnprojekte und Kommunen, solidarische Landwirtschaften und
Gemeinschaftsgärten, Genossenschaften und Kollektive, vielfältige
Ressourcenpools und kreative Start-ups. Es wird diskutiert, probiert,
geschnippelt und kooperiert und manches Wohnprojekt profitiert von den
Erfahrungen der Elterngeneration in den 80er Jahren.
Und was habe ich damit zu tun? Im ufaFabrik Circus von 1982 gab es eine
Nummer, die Zeitungszauberei. Dort habe ich hunderte Male aus einem
Boulevard-Blatt eine taz gezaubert, eine Liebeserklärung und vergnügliche
Aufforderung an die Zuschauenden: Ihr könnt eine Zeitung lesen, die
schreibt, was Euch wirklich interessiert. Also los, geht sie kaufen!
Die Autorin ist Mitbegründerin der ufaFabrik und dort seit 39 Jahren im
kollektiven Dauerdienst.
26 Sep 2018
## AUTOREN
Sigrid Niemer
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