# taz.de -- 40 Jahre Tunix-Kongress in West-Berlin: Komm mit, sprach der Esel | |
> Spontis, Freaks, Theoriestars – der Tunix-Kongress war das | |
> Erweckungserlebnis der Alternativen in der Bundesrepublik. | |
Bild: Das Audimax der TU zum Kongress | |
An einem Abend im Dezember 1977 reicht es Stefan König. Zusammen mit | |
Freunden sitzt er an einem langen Esstisch in einer Altbauwohnung in | |
Berlin-Charlottenburg, sie essen, rauchen und reden. Die Berliner kennen | |
sich vom Fußballspielen, aus Kneipen, von der Hochschule. Sie verstehen | |
sich als „Spontis“: Zu jung für die 68er, zu undogmatisch für | |
kommunistische Gruppen. Sie organisieren Uni-Streiks, gehen auf Demos. Aber | |
sie haben bislang vor allem die Erfahrung gemacht zu scheitern. Denn die | |
Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF lässt keinen Raum für ihre | |
Themen. | |
Der Deutsche Herbst liegt hinter ihnen. Die Ermordung des | |
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die Entführung der | |
„Landshut“, die Suizide der RAF-Mitglieder in Stammheim. Die Bild-Zeitung | |
schreibt im Oktober: „Wer jetzt noch nicht bereit ist, Unbequemlichkeiten | |
seines Freiheitsspielraums freiwillig in Kauf zu nehmen, verliert seinen | |
moralischen Anspruch.“ | |
„Macht doch euren Dreck alleine“, sagen sich die Spontis an diesem Abend. | |
„Wir verweigern uns, verlassen das Land.“ Wirklich auswandern wollen sie | |
nicht, es geht ihnen um die Haltung: Sie wollen nicht weiter anlaufen gegen | |
die Verhältnisse, sondern ihr eigenes Ding machen. Aber wie? König hat eine | |
Idee. „Wir reisen zum Strand von Tunix!“ | |
Stefan König, 22, lebt zu dieser Zeit in einer Kreuzberger | |
Wohngemeinschaft. Er studiert Jura und Ethnologie und trägt gern eine | |
regenbogenfarbene Latzhose. Ein paar Tage nach dem Treffen in | |
Charlottenburg skizziert er zu Hause auf seinem Bett einen Aufruf. | |
„UNS LANGT’S JETZT HIER! | |
Der Winter hier ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht, und im Sommer | |
ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den | |
Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken | |
uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. Das Bier | |
ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir woll’n nicht mehr immer | |
dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns | |
genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die | |
Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und | |
kleinmachen und gleichmachen. | |
WIR HAUEN ALLE AB! | |
… zum Strand von Tunix.“ | |
König tritt als Autor nicht in Erscheinung, man versteht sich als | |
Kollektiv. Dieses lädt für Ende Januar nach Berlin. Der szenebekannte | |
Buchvertrieb Maulwurf verbreitet den Aufruf. Bald liegt er bundesweit in | |
Kneipenkollektiven und linken Buchläden aus. Die Leute werden aufgefordert, | |
selbst Kopien zu erstellen und sie zu verteilen. König und seine | |
Mitstreiter fahren Ende Dezember erst mal in den Urlaub. Was sie | |
losgetreten haben, ahnen sie noch nicht. Der Aufruf erreicht Leute mit den | |
unterschiedlichsten Motiven. | |
Eva Quistorp, 32, erfährt in ihrer 7er-WG in Berlin-Wilmersdorf von Tunix. | |
Die WG hat den ID abonniert, den Informationsdienst zur Verbreitung | |
unterbliebener Nachrichten. Quistorp arbeitet als Lehrerin an der | |
Gesamtschule und engagiert sich in der Umweltbewegung. Gerade hat sie bei | |
den ersten Sommercamps in Gorleben mitgemacht, wo ein Endlager für Atommüll | |
entstehen soll. Sie trifft sich einmal in der Woche im Frauenzentrum, um | |
über Feminismus und Ökologie zu sprechen. | |
Helmut Höge, 30, erreicht der Aufruf zu Tunix in der Wesermarsch. Ein paar | |
Jahre früher hatte er die Nase voll vom Berliner Stadtleben, verkaufte | |
seine Bücher und kaufte sich dafür ein Fohlen. Als es groß genug ist, | |
Satteltaschen zu tragen, zieht Höge mit ihm durchs Land und arbeitet | |
unterwegs auf Höfen. In der Wesermarsch bleibt er bei Dirk, einem Bauern | |
mit SPD-Parteibuch. Dort erreicht ihn der Aufruf zu Tunix über eine | |
Freundin. Er schreibt in sein Tagebuch: „Dorothé rief an, um mich noch | |
einmal an das Tunix-Treffen zu erinnern, ‚weil ich ja auf dem Land von | |
allen Informationsquellen abgetrennt bin.‘ ‚Das ist doch wohl Blödsinn‘, | |
meinte Dirk dazu.“ | |
Michael Jürgen Richter, 19, ist gerade mit der Schule fertiggeworden und in | |
eine Kommune in Berlin-Schöneberg gezogen. Acht Leute, fünf Zimmer. Ein | |
wilder Haufen. In die Tür zum Klo sägen sie ein Guckloch. Sie machen alles | |
gemeinsam, gehen viel auf Demos. Im Drugstore, einem linken Jugendzentrum, | |
erfahren sie von Tunix. Dort hinzugehen ist natürlich Pflicht. | |
In Großburgwedel hört der Schüler Cord Riechelmann, 17, von Tunix. Er ist | |
in den letzten Jahren durch ein paar K-Gruppen gegangen. Länger als drei | |
Monate hat er es bei keiner ausgehalten. Riechelmann hat ein eher diffuses | |
Interesse an Theorie und andere Probleme als den Übergang von der | |
bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft. Von Tunix verspricht er sich | |
etwas anderes – nicht diese 18-Stunden-Diskussionen darüber, mit welcher | |
Gruppe man bei der 1.-Mai-Demo koalieren kann. | |
Während König und seine Freunde im Urlaub sind, reist eine Mitstreiterin | |
nach Paris. Sie hat Kontakte zu Leuten um den Philosophen Michel Foucault. | |
Der hat zwei Jahre zuvor seine Kritik am Gefängnissystem, „Überwachen und | |
Strafen“, veröffentlicht und wird von deutschen Spontis begeistert gelesen. | |
Die Franzosen um Foucault sind von dem Tunix-Aufruf elektrisiert. | |
Zurück in Berlin werden die Initiatoren des Kongresses von der Wirkung | |
ihres Aufrufs überrascht. Wer alles kommen will, wissen sie nicht, wohl | |
aber, dass es viele sein werden. | |
Ihnen bleiben wenige Wochen für die Vorbereitung. Es bildet sich ein | |
„Koordinationsausschuss Tunix“. Flugblätter werden gedruckt und ein Plakat. | |
Das Motiv: ein Regenbogen, der durch die Häuserschluchten bricht. Es gibt | |
gute Nachrichten von der Technischen Universität: Sie stellt Räume zur | |
Verfügung. Fehlen noch: Übernachtungsmöglichkeiten. Die Organisatoren | |
hängen Zettel in linken Kneipen auf: Wer bietet wo wie viele Schlafplätze | |
an? | |
Das Programm wächst von selbst. Immer mehr Initiativen melden sich, die | |
ihre Projekte auf dem Kongress vorstellen wollen. König und seine | |
Mitstreiter suchen Räume, verteilen die Veranstaltungen über das | |
Wochenende. | |
Der Koordinationsausschuss bittet im Westberliner Spontimagazin BUG-Info um | |
Spenden: „Der clevere Einfall des Koordinationsausschusses, Lotto zu | |
spielen, ist bis auf einen Achtungserfolg (3 Richtige = 3,50 DM) | |
gescheitert. 30.000 Chipse etwa wird oder hat alles bisher gekostet. Und | |
das ist kein Pappenstiel: Deshalb, und vor allem weil TUNIX eine Geschichte | |
von uns allen ist, spendet ein bißchen, wenn ihr könnt.“ | |
Ende Januar ist es so weit: Die Teilnehmer reisen über die verschneiten | |
Landstraßen aus Westdeutschland an. Ein Tankwart auf dem Weg fragt, was | |
denn da eigentlich los sei in Berlin: Spielen da die Rolling Stones, oder | |
was? | |
Cord Riechelmann will nach Berlin trampen. Auf dem Rasthof Lehrte steckt er | |
seine langen schwarzen Haare in den Rollkragenpulli, das erhöht die | |
Chancen. Ein evangelischer Pfarrer nimmt ihn mit. Der ist links, auf | |
angenehme Weise, denn er macht keinen Gesinnungstest wie die K-Gruppen. Die | |
fragen zum Beispiel: Wie stellst du dir den Übergang zur sozialistischen | |
Gesellschaft vor? Und die richtige Antwort lautet ungefähr so: | |
Reformistisch geht es nicht, durch individuellen Terror aber auch nicht. | |
Eva Quistorp und ihre Frauengruppe wollen, dass Tunix keine reine | |
Männerveranstaltung wird. Und sie wollen die hässliche TU verschönern. Der | |
Plan: Sie stellen ein Tipi auf. Und verpflegen die Leute mit Gemüse aus | |
Gorleben. Quistorp fährt mit einer Citroën-Ente nach Niedersachsen. | |
Befreundete Bauern schenken ihr einen großen Sack Kartoffeln, krumme | |
Möhren, Steckrüben. | |
In der Wesermarsch arbeitet Helmut Höge an einem Flugblatt zu Tunix. In | |
seinem „Zwischenruf“ warnt er davor, Tunix als bloße Metapher zu verstehen | |
– warum nicht wirklich abhauen? Dirk, der Bauer, gibt ihm Geld für den | |
Druck. Abends falten sie im Wohnzimmer 200 Blätter auf A4-Größe zusammen. | |
Dann bricht auch er auf. Er lässt sein Pferd bei Dirk und nimmt den Zug | |
nach Berlin. | |
Aus der Eisenacher Straße in Schöneberg kommt Michael Jürgen Richter mit | |
ein paar Leuten aus seiner Kommune: Signe, Jörgi, Nico der Grieche, | |
Manfred. Sie fahren einen orangefarbenen VW-Bus, es herrscht Partystimmung. | |
Die benachbarte Kommune will auch mit. Sie kommen gerade aus dem KaDeWe und | |
tragen Federboas um den Hals, die sie dort geklaut haben. | |
Freitag, 27. Januar | |
An der Technischen Uni hängt alles voll mit Transparenten. „Experimentiert | |
ohne zu wissen wo ihr landet!“, steht in Schreibschrift darauf. Oder: „Es | |
lebe die kurzlebige, pessimistische, revoltierende Jugend.“ | |
Es ist ein großes Gedränge. Man sieht lange Haare und Schnauzbärte, Westen, | |
Palitücher und große Brillen. Nackte Kinder springen herum. Frauen tragen | |
die abgelegten Pelzmäntel der Mütter. Und überall Buttons: gegen Atomkraft, | |
gegen Apartheid, für Feminismus. Viele der Teilnehmenden sind im Gesicht | |
bunt bemalt. | |
Vorwiegend sind Studierende da, aber auch einzelne Ältere, Buchhändler, | |
Anwälte, spätere Grünen-Politiker wie Hans-Christian Ströbele und Rezzo | |
Schlauch, auch Filmemacher Alexander Kluge ist gekommen. Leute aus Italien | |
sind angereist, die Franzosen haben es ebenfalls geschafft. Schätzungen | |
reichen von 5.000 bis 20.000 Teilnehmern. | |
Prominente sind gekommen: Neben Foucault auch der französische | |
Psychoanalytiker Félix Guattari und der Philosoph Gilles Deleuze. „Die | |
eingeladenen französischen Stars brachten natürlich ihre eigenen Schleimer | |
mit oder motivierten andere, ihretwegen auf dem Treffen zu erscheinen: | |
subversiv und multinational und mit ein wenig Lidschatten um den wachen | |
Blick“, schreibt Höge in sein Tagebuch. | |
Die Macher einer Kneipe verkaufen Getränke im Foyer, über die Einnahmen | |
finanziert sich der Kongress. Es wird viel getrunken und geraucht. Clowns | |
treten auf, Theatergruppen, Bands. | |
Im Audimax findet die Eröffnungsveranstaltung statt. Es gibt dort 1.600 | |
Plätze, aber die Leute sitzen auf dem Fußboden, hinter dem Podium. Es sind | |
wohl 3.000 Menschen da. Auf eine riesige Wandzeitung hat jemand gepinselt: | |
„Schöne arbeitslosikeit – SCHÖNES vakuum“. Eine Frau trägt das Märche… | |
„Bremer Stadtmusikanten“ vor, Stefan König und seine Freunde haben es | |
bereits in ihrem Aufruf zitiert. „Komm mit, sprach der Esel, etwas Besseres | |
als den Tod werden wir überall finden.“ | |
Félix Guattari, der französische Psychoanalytiker, möchte lauschen. Er | |
sitzt ganz hinten auf dem Podium, an die Wand gelehnt. Höge sitzt daneben | |
und übersetzt für ihn. Es geht um Marxismus und Revolution. | |
Michael Jürgen Richter bekommt davon nichts mit. In den ganzen Diskursen | |
stecken er und seine Mitbewohner aus der Schöneberger Kommune nicht so | |
drin. Im Moment interessiert er sich vor allem für Musik und Mädchen, wie | |
das so ist mit 19. Im Grüppchen schlendern sie durch das Foyer der TU, wo | |
Stände mit Büchern wie auf einem Flohmarkt aufgebaut sind. | |
In einer ruhigen Ecke des Foyers baut Eva Quistorp zusammen mit ihrer | |
feministischen Gruppe aus alten Bettlaken, Tischtüchern und Holzstangen | |
eine Art Tipi. Sie verpflegen die Besucher mit krummen Möhren, Kartoffeln | |
und Steckrüben aus Gorleben, sie wollen Chili con Carne und Currywurst | |
etwas entgegensetzen. Ihre Fruchtsäfte stammen aus einer kleinen Mosterei | |
namens Voelkel. Mit einem Tauchsieder machen sie Kräutertee. | |
Ein Mann mit Glatze und Hornbrille kommt am Zelt vorbei. Es ist Michel | |
Foucault. Ein Geistesmensch, denkt Eva Quistorp, als Feministin hat sie | |
lange Männer und ihre Körperhaltungen beobachtet. Dann rempelt Foucault ins | |
Zelt hinein und bringt es zum Einsturz. Ein Clash zwischen männlicher | |
Theorie und feministischem Handeln. Quistorp wird in ihrem Leben keine | |
große Foucault-Anhängerin mehr. | |
Am Abend gibt es Kulturprogramm, Musik und Abzappeln. „Klaus der Geiger“ | |
tritt auf, „nein, nein, wir woll’n nicht eure Welt“, und auf der Bühne | |
steht einer und jongliert. Michael Jürgen Richter ist begeistert. Das ist | |
es! Nach der Show quetscht er den Jongleur aus, wie denn das ginge mit den | |
Bällen. | |
Höges Flugblatt geht bei all dem Trubel unter. Dafür verliebt er sich, in | |
Monika, eine Kindergärtnerin. Nachts, nach den Diskussionen und | |
Veranstaltungen, fegt er mit einigen Leuten das Audimax. Auf dem Bauernhof | |
in der Wesermarsch hat Höge eine Fegeleidenschaft entwickelt. | |
Samstag, 28. Januar | |
Cord Riechelmann nimmt am Vormittag die U-Bahn nach Moabit. Vor dem | |
Gefängnis dort soll eine Demo starten, für die Solidarität mit inhaftierten | |
linksradikalen Druckern, die ein Magazin gemacht hatten, in dem Texte der | |
RAF auftauchten. | |
Es ist kalt. Immer mehr Leute sammeln sich, am Mittag sind es nach | |
Polizeiangaben 4.000 bis 6.000. Es läuft Musik von Ton Steine Scherben. | |
Jemand schmeißt Bonbons. Als sich der Zug in Bewegung setzt, zeigt sich für | |
Sekunden ein Regenbogen – passend zum Tunix-Plakat. „Wenn das kein Beweis | |
ist … Für was auch immer“, schreibt Helmut Höge in sein Tagebuch. | |
Vom Gefängnis geht es Richtung Ku’damm. Die alten Parolen werden | |
abgewandelt. „Hoch die internationale Kinderschokolade!“, rufen die | |
Demonstrierenden. „Nieder mit den atlantischen Tiefausläufern!“ | |
Vorn läuft der Frauenblock, Spaziergänger mit Kindern und Luftballons. | |
Dahinter rollt ein Pritschenwagen, behangen mit rosa Papierschlangen und | |
der Aufschrift: „Rosa glänzt der Mond von Tunix“. Die Militanteren laufen | |
im hinteren Teil des Zugs. Parolen werden an Wände gesprüht, „macht aus | |
bullen stullen“. | |
1.000 Polizisten sind da. Die Leute fangen an, Eier zu werfen. Farbbeutel | |
und Pflastersteine fliegen gegen Wasserwerfer, in Sexshops und auf Banken. | |
Auch auf das Amerikahaus werden Steine geworfen. | |
Mitten in der Menge rollt ein fliederfarbener VW-Bus, der | |
Lautsprecherwagen. Es ist das Auto von Stefan König, umringt von teils | |
tanzenden Demonstranten. Der Bus zieht eine große schwarz-rot-goldene | |
Flagge hinter sich her, „Modell Deutschland“ steht darauf. Modell | |
Deutschland – das ist der Wahlkampfslogan, mit dem Kanzler Helmut Schmidt | |
in den Wahlkampf 1976 gezogen ist. Die Fahne schleift durch den Dreck. Der | |
Fahrer des VW-Busses, ein Freund von König, wird später wegen | |
Verunglimpfung des Staats und seiner Symbole zu vier Monaten ohne Bewährung | |
verurteilt. In zweiter Instanz wird er freigesprochen. | |
Später, am Kranzlereck am Ku’damm, hängt die Fahne in Fetzen und brennt. | |
Der Feuerwehrwagen kommt nicht durch. Die Polizei löst die Demo auf und | |
fängt an zu räumen. Sie setzt Knüppel und Wasserwerfer ein, es gibt blaue | |
Flecken, Geschrei. | |
Zur gleichen Zeit findet im überfüllten Audimax der Technischen Universität | |
eine Diskussion statt. Leute sitzen auf dem kalten Fußboden und hinter dem | |
Podium. Der Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz spricht. Er möchte | |
den Dialog mit den Studierenden, die sich immer weiter von der bürgerlichen | |
Gesellschaft entfernen. | |
Glotz sagt, es gebe zwei Kulturen, die offizielle und die alternative | |
Kultur. Diese zwei Kulturen hätten schon eine unterschiedliche Sprache, was | |
die Verständigung erschwere. | |
„Ficken!“, ruft jemand und bekommt Beifall. | |
„Das allerdings ist ein Begriff, der in beiden Kulturen verstanden wird“, | |
kontert Glotz. Doch ihm ist es ernst: „Wir müssen aufpassen, dass nicht | |
sehr viele in solch eine andere alternative Kultur wegkippen.“ | |
Auch Studierende aus Göttingen sind auf dem Podium, unter ihnen auch | |
„Mescalero“. Nach der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback hatte ein | |
Göttinger Autor unter diesem Pseudonym geschrieben, er könne eine | |
„klammheimliche Freude nicht verhehlen“. Das sorgte bundesweit für | |
Empörung. Glotz fragte öffentlich, welches Grauen die Mittelschicht | |
überkommen müsse, wenn sie sehe, welches Bewusstsein in ihren Kinderzimmern | |
gewachsen sei. Auf dem Tunix-Kongress antwortet einer der Teilnehmer: | |
„Welches Grauen muss die überkommen, die in diesen Kinderzimmern der | |
Mittelschichten groß geworden sind?“ | |
Plötzlich ruft jemand: „Auf dem Ernst-Reuter-Platz haben die Bullen | |
dichtgemacht!“ Draußen seien Genossen von der Polizei eingekesselt worden. | |
Glotz geht mit einem der Tunix-Organisatoren raus, um die Lage zu klären. | |
Einige Zeit später laufen die Befreiten wieder in die Uni ein. | |
Am Ku'damm löst sich die Demo auf. Stefan König sieht durch die Scheiben | |
seines VW-Busses, wie die Demoteilnehmer in alle Richtungen rennen. | |
Irgendwann ist das Chaos verschwunden, die Straße leer, sie fahren weg. | |
Cord Riechelmann läuft vom Café Kranzler zu Fuß zur TU. Überall sind | |
Menschen. Riechelmann hat normalerweise Platzangst, hier aber fühlt er sich | |
wohl. | |
Die Räume sind so voll, dass viele in die Veranstaltungen gar nicht erst | |
reinkommen. Kneipenkollektive haben Stände im Foyer. Es wird über die | |
Situation im linken Buchhandel gesprochen, über zerstörerische | |
Städteplanung. Kollektive berichten, wie man Biowein in Frankreich anbaut | |
oder eine Aussteigerkommune auf dem Land gründet. Es wird über die | |
„Machenschaften der Atomindustrie“ informiert, über erste technische | |
Versuche zu Wind- und Solarenergie mit Kleinanlagen. | |
Im Foyer hält ein Typ mit Lederjacke eine Rede. Er endet mit: „Ich habe da | |
auch keine Lösung für, deswegen gebe ich das Mikro jetzt mal weiter.“ | |
Riechelmann denkt: „Geil. Muss doch auch mal sein.“ Diese verlaberten | |
Diskussionen findet er sensationell. | |
Die Leiterin des Merve-Verlags Heidi Paris spricht Riechelmann an. | |
Riechelmann ist schüchtern, Paris schön und vertrauenserweckend. „Schon was | |
vor heute Abend?“, fragt sie. Und lädt ihn in den Dschungel ein, die | |
Szenedisko Westberlins, da kommen ein paar Leute. Riechelmann hat einen | |
Stadtplan dabei, Paris macht ihm ein Kreuz beim Winterfeldplatz. | |
Die „Stadtindianer“ aus Nürnberg, eine als pädophil bekannte Kommune, | |
tanzen mit Kindern auf der Bühne. Darüber gibt es Diskussionen: Sind das | |
nicht die „Kinderficker“? Aber wirken die Kinder nicht so fröhlich und | |
frei? Erst viel später wird das Thema sexueller Missbrauch in der | |
alternativen Szene aufgearbeitet werden. | |
Auch Stefan König hält an diesem Tag einen Vortrag, der gegen Ende in | |
Geschrei untergeht. Auch eine Erklärung der Gefangenen der Bewegung 2. Juni | |
wird verlesen, unzensiert. | |
Ein Reporter vom Informationsdienst ID schneidet auf dem Flur | |
Gesprächsfetzen mit: | |
„Interview achtstrichzwei Klappe.“ | |
„Halt mal die Klappe.“ | |
„Ätsch!“ | |
„Haben Sie Feuer?“ | |
„Ja, ich wollt nur mal was über meinen Feuerbestand sagen, ja, sie wissen … | |
Ei, hier rennen ja Typen rum, da steh ich ja so drauf.“ | |
„Können wir das auch abdrucken?“ | |
„Ja, ich bitte darum. All die schönen Menschen hier, die vielen jungen | |
Leute, das find ich also, ich bin ganz fertig, also es ist wie, wie auf | |
’nem Trip, wirklich es ist so abgefahren und so drauf, die Leute alle und | |
alles so ihsi und harmonisch, ohhh und alles so gut drauf, je es ist wie im | |
nirwana, wirklich päredeis nau.“ | |
„Meine Tochter heißt Tunichte, mein Sohn Tunichtgut.“ | |
17 Uhr, das Audimax ist wieder brechend voll. Auf dem Podium sitzt eine | |
Gruppe Männer, darunter Hans-Christian Ströbele. Sie sind eingeladen | |
worden, um ihr Projekt vorzustellen: eine linke Tageszeitung. Ein Gast aus | |
Paris ist gekommen, von der Tageszeitung Libération, die es schon seit 1973 | |
gibt. Die deutsche undogmatische Linke soll ein ähnliches Medium bekommen. | |
Unabhängig und kritisch. Alle sind aufgerufen mitzumachen. Es gibt viel | |
Applaus. Dann stellt sich Ströbele vor, wie der Korrespondent der noch zu | |
gründenden Zeitung aus dem Waldstadion berichtet, wie Hertha BSC die | |
Frankfurter Eintracht fünf zu null schlägt. „Pfui!“, ruft einer. | |
Abends in der Taverne am Lützowplatz. Tausende drängeln in die Halle hinter | |
der heutigen CDU-Zentrale. Das „Mobile Einsatzkommando“ singt: „Und ich | |
weiß, das ganze Leben hat erst dann einen Zweck, wenn wir endlich die | |
Arbeit schmeißen, wir wollen leben wie’s uns schmeckt.“ Aus einem riesigen | |
Topf werden Schnitzel verteilt. | |
Gegen Mitternacht kommt Cord Riechelmann im Dschungel an. Da sind | |
Transvestiten, schöner als jede Frau, die er bisher gesehen hat. | |
Stilbewusste Leute. Heidi Paris, Michel Foucault. Er trägt einen hellen | |
Rollkragenpullover und Jackett. Kein Stil für Pop oder Herrenmagazine, aber | |
für diese Figur, für diesen Moment genau das Richtige. Die Dominanz | |
homosexueller Lebensform haut ihn fast um. Er verbringt den Abend mit | |
Staunen. Um vier Uhr früh verlässt er die Disko. Der bisher vollste Tag | |
seines Lebens geht zu Ende. | |
Helmut Höge kommt im Dschungel vorbei, um seinen Freund abzuholen, der ist | |
der Geschäftsführer. Sie fegen den Laden. | |
Sonntag, 29. Januar | |
11 Uhr, wieder ist das Audimax voll, draußen stehen die Leute Schlange. Auf | |
der Bühne Prominenz: Der Psychoanalytiker Félix Guattari und der | |
Antipsychiatriepapst David Cooper, ein gewaltiger Mann mit einem gewaltigen | |
Bart. Er hat in England eine experimentelle Forschungsstation für | |
Schizophrene geleitet und vertritt ähnlich wie Foucault die These, dass | |
Wahnsinn ein gesellschaftliches Produkt ist. | |
Irgendwer hat Stroh auf die Bühne gelegt, nackte Kinder spielen darin. Im | |
Publikum sind welche, die später die Irrenoffensive gründen werden.Sie | |
schimpfen über die verrückt machende Gesellschaft. Es entbrennt ein Kampf | |
ums Mikrofon. Aus dem Publikum schreien Leute: „Ruhe!“ Andere: „Lasst sie | |
ausreden!“ Dann steht David Cooper auf, schnauft: „I have to go.“ Er | |
verlässt den Raum, seine Anhänger auch. | |
Helmut Höge, auch im Publikum, schreibt in sein Tagebuch: „Die Spontis sind | |
eben Schizos.“ | |
Am Sonntagabend ist alles vorbei. Stefan König, der Tunix mit initiiert | |
hat, fährt erschöpft in seine WG. Er hat wenig Schlaf bekommen. Cord | |
Riechelmann trampt vom Kontrollpunkt Dreilinden nach Hause. Der | |
jonglierbegeisterte Michael Jürgen Richter radelt zurück in die Kommune. | |
Auf seinem Gepäckträger sitzt ein Mädchen. | |
Auf dem Bauernhof in der Wesermarsch schreibt Helmut Höge: „Vom | |
Tunix-Treffen aus Berlin zurück. Alles war rosa dort. Alles. Selbst die | |
Liebe. Es war so schön.“ Monika besucht ihn dort, sie hat einen Schal | |
dabei, in Erinnerung an die Demo in Regenbogenfarben gehäkelt. | |
Epilog | |
Stefan König wird Strafverteidiger. Er vertritt Erich Mielke genauso wie | |
einen der Exvorstände der Berlin Hyp im Berliner Bankenskandal. | |
Eva Quistorp gründet die Grünen mit und sitzt später für sie im | |
Europäischen Parlament. | |
Cord Riechelmann wird Stammgast im Dschungel und gehört später zu den | |
Gründungsarbeitern in der Bar Kumpelnest 3000. | |
Helmut Höge treibt sich zwischen der Toskana und Bremen herum. 1980 wird er | |
Autor der gerade gegründeten taz und später auch Aushilfshausmeister. | |
Michael Jürgen Richter gründet in Oldenburg den Circus Radieschen und | |
bringt Kindern das Jonglieren bei. | |
Antje Lang-Lendorff, 40, ist taz-Redakteurin. Sie wurde wenige Tage vor dem | |
Tunix-Kongress geboren. | |
Johanna Roth, 28, ist Redakteurin im Meinungsressort der taz. Ihre Eltern | |
waren 1978 frisch verlobt. | |
Philipp Daum, 29, ist Redakteur der taz am wochenende. Er schreibt jetzt | |
auch Tagebuch – für die Nachgeborenen. | |
26 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Philipp Daum | |
Antje Lang-Lendorff | |
Johanna Roth | |
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