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# taz.de -- Zum Todestag von Hans-Christian Ströbele: „Wir brauchen eine eig…
> Vor einem Jahr starb Hans-Christian Ströbele. Unser Autor hat kurz vor
> seinem Tod mit ihm über die wilden Gründungsjahre der taz gesprochen.
Vergeistigt wirkte Hans-Christian Ströbele im Sommer vergangenen Jahres,
nach zehn Jahren mit zwei unheilbaren Krankheiten. Engelsweiß die langen
Haare, die Haut dünn wie Pergament, aber die Stimme fest und fröhlich.
Hinter dem massiven Schreibtisch seines Arbeitszimmers mit Blick auf die
Spree, unter einem vier Meter hohen Regal gefüllt mit Aktenordnern, rollte
er auf seinem Stuhl hin und her und sprach über die Politik und sein Leben
– wobei das für ihn eigentlich dasselbe war.
Im März 2022 hatte ich damit begonnen, ihn mindestens einmal im Monat zu
besuchen und zu befragen. Über sein politisches Erwachen 1967 in
West-Berlin, sein Leben als Anwalt, die Konsequenzen aus dem russischen
Überfall auf die Ukraine und natürlich auch über die Gründung der taz.
Denn kennengelernt hatte ich ihn Anfang 1978, mehr als ein Jahr bevor wir
die taz täglich produzierten, in der West-Berliner taz-Ini. Er hatte sich
schon ein Jahr lang mit einem kleinen Kreis undogmatischer Linker
getroffen, um den Traum der 68er von einer kritischen linken Tageszeitung
zu verwirklichen, und nach dem [1][euphorischen Tunix-Kongress] im Januar
1978 war ordentlich Schwung in das Projekt gekommen. Eine linksradikale,
grüne Tageszeitung wäre auch ohne ihn gegründet worden, die Verwirklichung
dieser Idee lag einfach in der Luft in den Jahren nach der Entstehung der
[2][Anti-Atom-Bewegung], der Neuen [3][Frauenbewegung] oder auch der
[4][Schwulenbewegung].
Aber Christian, wie wir ihn nannten, war die wichtigste Person im
taz-Gründerkreis, zu dem Initiativen in 30 Städten mit insgesamt mehreren
hundert Menschen gehörten. Er war als furchtloser Anwalt der Kommunarden
Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel bekannt, als Verteidiger von Andreas
Baader, Gudrun Ensslin und anderen Gründern der Rote Armee Fraktion.
Bei der gemeinsamen Aufbauarbeit war er solidarisch, ohne Führungsanspruch,
ein erfrischender Teamplayer und Pragmatiker, gleichzeitig prinzipientreu.
Wenn wir Jüngeren uns in Kontroversen verrannten, holte er uns auf den
Boden zurück oder wartete, bis wir uns abgeregt hatten.
Am 23. Mai 2022 und noch mal am 20. Juni 2022 haben Christian und ich
gemeinsam versucht, die Anfänge der taz zu rekonstruieren. Christian, der
als Jurist immer für eine ordentliche Aktenführung gesorgt hatte, ging noch
mal in seine Unterlagen, um bestimmte Vorgänge und Erinnerungen zu
verifizieren.
Auf dieser Grundlage ist das folgende Gespräch entstanden, das er danach
noch zwei Mal korrigierte. Es ist ein historisches Zeugnis über die ersten
wilden Jahre dieser Zeitung bis zur [5][Gründung der taz-Genossenschaft]
1991.
Anfang Juli vergangenen Jahres wollten wir uns erneut treffen, um noch ein
paar Einzelheiten der taz-Historie zu vertiefen, doch dazu kam es nicht
mehr. Christian war im Badezimmer gestürzt und hatte sich schmerzhafte
Brüche zugezogen, von denen sich sein geschundener Körper nicht mehr
erholte. Am Morgen des [6][29. August 2022] starb er in seiner Wohnung in
Berlin-Moabit.
Auch, um an den beeindruckenden Politiker und Menschen Christian Ströbele
zu erinnern, der für die taz so wichtig war und dem die taz so wichtig war,
veröffentlichen wir dieses Gespräch.
wochentaz: Christian, wann und von wem wurde die Idee einer linken
Tageszeitung geboren?
Hans-Christian Ströbele: Die Idee einer linken Tageszeitung gab es seit den
60er Jahren. [7][Fritz Teufel] hat das in einem 1978 für den „Prospekt:
Tageszeitung“ verfassten Brief aus dem Gefängnis sehr schön formuliert. Er
schrieb: „Eine neue Zeitung ist die Frau meiner Träume seit 67. Die Frau
meiner Träume macht alle glücklich. Sie fegt Mauern weg wie nix.
Ghettomauern, Knastmauern und das Monstrum vom dreizehnten August. Sie
enteignet Springer durch Abspenstigmachen der Leser. Sie wird von Frauen,
Kindern, Türken, Indianern, Studenten, Gefangenen und anderen Rentnern, von
Lohn- und Drogenabhängigen für ihresgleichen gemacht. Olle Gutenberg kann
endlich aufhören, im Grabe zu rotieren, und anfangen sich zu freuen, daß er
die schwarze Kunst erfunden hat. Karl Valentin wird eine Kolumne kriegen
und falls der schon tot sein sollte, vielleicht auch ich. Die Frau meiner
Träume wird’s nicht leicht haben.“
Fritz Teufel saß als Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ im Knast, danach
arbeitete er zur Resozialisierung bei der taz im Satz. Im Frühjahr 1981
verfasste er einen Aufruf zu einem Aktionstag der Hausbesetzer, der uns
eine ordentliche Razzia durch die Polizei einbrachte. Er schrieb ihn
zusammen mit [8][Plutonia Plarre], die heute noch als Reporterin für den
Berlin-Teil der taz arbeitet.
Fritz Teufel hat gerne provoziert. 1967 hat er, wie wir alle von der
Außerparlamentarischen Opposition, der APO, ungeheuer unter der feindlichen
und einseitigen Berichterstattung der etablierten Medien über uns gelitten.
Deren Journalisten haben nicht darüber berichtet, was wir politisch wollten
und was wir an den bestehenden Verhältnissen kritisierten, was unsere
Auffassungen waren. Sie haben ein Zerrbild der antiautoritären Bewegung
konstruiert. Neben den Zeitungen gab es ausschließlich
öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen, Staatsmedien, die zu dieser
Zeit viel intensiver von der Politik kontrolliert und gegängelt wurden als
heute. Es existierte kein Internet, in dem sich alle nach Lust und Laune
äußern können.
Ihr habt die Presse als Gegner erlebt.
Als feindlich. Unser größter Feind war der Hamburger Verleger Axel
Springer, mit seiner Bild-Zeitung und der in West-Berlin noch wesentlich
auflagenstärkeren B.Z., die nahezu alle Arbeiter lasen. Die
Springerzeitungen haben von Anfang an gegen die Gammler und Studenten, die
sie „FU-Chinesen“ nannten, gehetzt und Rudi Dutschke, den Kopf der
Bewegung, als dämonischen Bürgerschreck aufgebaut. Der Sozialistische
Deutsche Studentenbund (SDS) – Peter Schneider, Hans-Joachim Hameister und
andere – organisierten deshalb ein Springer-Tribunal, die Parole hieß:
„Enteignet Springer!“ Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke an Ostern 1968
war es überhaupt keine Frage, dass wir zur West-Berliner Springer-Zentrale
in der Kochstraße zogen – heute dank der taz, der Grünen und der Linken
Rudi-Dutschke-Straße –, um die Auslieferung der Bild-Zeitung und der B.Z.
zu verhindern.
War die gesamte Presse, die gesamte Öffentlichkeit in den 60er Jahren ein
monolithischer Block?
Im Stern, in der Zeit oder im Spiegel gab es gelegentlich Artikel, die
einigermaßen fair oder nicht diffamierend und feindlich, aber auch ziemlich
distanziert waren. Die 68er-Bewegung hatte keine eigene Stimme, mal
abgesehen vom Extra-Dienst, der linkssozialdemokratisch, gewerkschaftlich
und DDR-freundlich war, und der 883, einem anarchistischen Szeneblatt. Alle
waren sich einig: Wir brauchen eine eigene Publikation. Wir brauchen eine
eigene Zeitung.
Ihr wart nicht die einzigen, die sich an der Medienmacht von Springer
stießen. Dem liberalen Hamburger Spiegel-Gründer und Eigentümer Rudolf
Augstein gefiel es auch nicht, dass der Springer-Verlag an die 70 Prozent
des Tageszeitungsmarktes in West-Berlin kontrollierte.
Augstein hat deshalb ein Projekt von linken Journalisten finanziert, die
eine populäre linke Zeitung machen wollten, eine Art Gegen-Bild-Zeitung.
Extrablatt lautete der Arbeitstitel, ich habe noch ein paar Ausgaben hier
oben im Regal liegen. Aber Augstein fand die ersten Nummern so
unprofessionell, dass er das Projekt bald nicht weiter unterstützte.
Wie kam es 1978 zur Entstehung der Initiativen, die die taz gründeten?
Das lag nicht zuletzt an zwei Leuten, an [9][Max Thomas Mehr] und mir. Max
gehörte zum Kollektiv eines linken Buchladens, des „Politischen Buchs“ in
der Lietzenburger Straße. Das Büro unseres Sozialistischen
Anwaltskollektivs in der Meierottostraße lag nicht weit davon entfernt. Ich
ging ab und zu ins Pol-Buch, um dort Bücher zu kaufen und einen Kaffee zu
trinken, so lernte ich Max kennen. Und als wir uns mal wieder über die
tendenziöse Berichterstattung der bürgerlichen Medien ärgerten, sagten wir:
Mensch, man müsste doch endlich eine linke Tageszeitung gründen, die dem
etablierten Mainstream etwas entgegensetzt.
Wann war das?
In meinem Terminkalender des Jahres 1976 findet sich für Donnerstag, den 2.
Dezember, um 18 Uhr der Eintrag „Zeitungstreffen“. Etwa einmal im Monat
trafen wir uns im Büro des Anwaltskollektivs, maximal zehn Leute kamen,
manchmal saßen aber auch Max und ich alleine da. Wer außer uns noch
mitdiskutierte, erinnere ich kaum mehr, das wechselte auch ständig. Annette
Eckert, die später bei der taz als Kulturredakteurin arbeitete, war dabei.
Und der Schriftsteller Wolfgang Dreßen; Thomas Krüger, Dozent am Institut
für Publizistik. Mein Anwaltskollege Klaus Eschen, mal auch meine Frau
Juliana. Aber die beiden blieben dann weg.
Warum?
Weil es ihnen zu blöde war, immer zu hören: Man sollte mal, man müsste mal.
Wir fragten uns: Wer könnte uns das Geld für eine linke Tageszeitung geben?
Linke Journalisten? Gibt es die überhaupt? Müssen wir die ausbilden?
Gleichzeitig trauten wir es uns zu, eine Tageszeitung auf die Beine zu
stellen, denn es waren schon eine ganze Reihe von linken Unternehmen in
West-Berlin und anderswo gegründet worden, Buchläden, Kneipen,
Taxikollektive. Warum also nicht auch eine Tageszeitung?
Wie sah euer Konzept aus? Was sollte anders gemacht werden als in der
etablierten Tagespresse, den bürgerlichen Zeitungen?
Was in der neuen Zeitung stehen sollte, das war nicht wirklich klar, und
unsere Vorstellungen davon waren auch widersprüchlich. Einerseits sollte
die Zeitung abbilden, was in der linken Szene diskutiert wurde, was
anderswo nicht veröffentlicht wurde, was verboten war. Politische Gruppen
sollten auch zu Wort kommen, aber nicht mit endlosen Erklärungen.
Andererseits sollte die Zeitung, was Aufmachung, Themen und Sprache
anbelangt, auch Menschen außerhalb der linken Szene ansprechen. Die neue
Zeitung sollte kein reines Szeneblatt sein. Wir wollten jeden Tag ein
besonders aussagekräftiges Foto veröffentlichen, das gab es immerhin als
„Augenblicke“ bis zu einer Layout-Reform 2005.
Habt ihr euch auch mit den wirtschaftlichen und technischen Aspekten der
Produktion einer Tageszeitung beschäftigt?
Zunächst kaum, deshalb war ein Treffen der Gruppe sehr wichtig, zu dem Max
den erfahrenen Journalisten Jörg Mettke eingeladen hatte, den
West-Berlin-Korrespondenten des Spiegels. Als Profi sollte er uns Amateure
beraten, wie man genau eine Tageszeitung gründet, wie das praktisch
funktionieren könnte. Mettke sagte, man brauche natürlich Journalisten,
aber auch einen Verlag, der den Vertrieb organisiert, sowie eine Druckerei,
und vor allem brauche man Geld, viel Geld. Eine Million Mark, sagte er. Das
war damals unvorstellbar viel. Wir hielten dagegen, dass wir nicht so viel
bräuchten, weil wir sowieso umsonst arbeiten würden. Es dachte niemand
daran, Geld mit dieser Zeitung und der Arbeit für diese Zeitung zu
verdienen; wir sahen eine solche Zeitungsgründung als politisches Projekt.
Aber das Wort von der Million wirkte schon ziemlich desillusionierend. Ich
dachte insgeheim: Vielleicht gründen wir doch lieber erst mal eine
Wochenzeitung.
Zur geläufigen Erzählung über die taz gehört, dass ihre Gründung dem
Deutschen Herbst 1977 zu schulden sei. Die taz sei der Versuch gewesen, der
Nachrichtensperre über die Schleyer-Entführung etwas entgegenzusetzen, der
sich die etablierten Medien freiwillig unterworfen hatten.
In den Monaten nach dem Oktober 1977 war die Repression gegen die radikale
Linke besonders heftig. Aber diese Situation war lediglich eine Art
Katalysator, der die Gründung einer linken Tageszeitung befördert und
beschleunigt hat.
Wie wirkte sich das konkret auf eure kleine Gruppe aus?
Wir empfanden die Notwendigkeit einer linken Zeitung als größer denn je,
aber auch die Bedingungen, sie in so einer repressiven Situation auf die
Beine zu stellen, als schwieriger denn je. Was unser Berliner Kreis im
Oktober 1977 gar nicht mitgekriegt hatte: Damals diskutierten auf der
Frankfurter Buchmesse Spontis aus verschiedenen westdeutschen Städten über
die von allen Medien nach Aufforderung durch die Bundesregierung
praktizierte Nachrichtensperre in Sachen RAF. Sie sprachen auch über die
Notwendigkeit von kritischer Gegenöffentlichkeit gegen eine solche
Gleichschaltung der Medien.
Wer war dabei?
Genossen der Zeitschrift Autonomie, der Hamburger Arzt und Theoretiker
Karl-Heinz Roth, der vormalige Frankfurter Asta-Vorsitzende [10][Thomas
Hartmann], der später eine wichtige Rolle bei der Gründung der taz spielte
und heute noch die taz-Reisen organisiert; Thomas Schmid, später
Chefredakteur von Springers Welt, Dany Cohn-Bendit, Leute vom Münchner
Trikont-Verlag. Von einer Frankfurter Tageszeitungsinitiative hörte ich
dann erst Ende des Jahres 1977. Sie sollte schon viel weiter und wesentlich
professioneller sein als wir, hieß es.
Ende Januar 1978 versammelten sich Tausende von Spontis an der Technischen
Universität in West-Berlin zum „Treffen in Tunix“. Der Wille zum Aufbruch
war enorm. Im Programm des dreitägigen Kongresses war eine Veranstaltung
„Linke Tageszeitung in der BRD (Ströbele, Günter Wallraff, Lotta Continua
und Alternativzeitungen)“ angekündigt, wobei Wallraff nicht auftauchte und
auch kein Vertreter der italienischen linksradikalen Tageszeitung Lotta
Continua.
Aber diese Podiumsdiskussion war die erste öffentliche Veranstaltung zum
Tageszeitungsprojekt. Zu den Tunix-Organisatoren zählten auch meine
späteren Anwaltskollegen Stefan König und Johnny Eisenberg. Auf dem Podium
im mit 3.000 Leuten völlig überfüllten Audi-Max saßen Max Thomas Mehr und
ich, für die Berliner Gruppe, Hannes Winter vom Frankfurter ID, dem
Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten, Achim Meyer von der
alternativen Münchner Stadtzeitung Blatt und Jean-Marcel Bouguereau von der
Pariser Libération, einer 1973 von Jean-Paul Sartre und anderen gegründeten
Tageszeitung, in der linke Intellektuelle wie Michel Foucault schrieben.
Die Stimmung bei der Tunix-Veranstaltung war ungeheuer euphorisch. Alle
wollten etwas tun. Alles schien möglich.
Der [11][Elan von Tunix] brachte das Tageszeitungsprojekt in Schwung. Ich
persönlich hatte schon von Münchner Genossen etwas davon erfahren und
schloss mich der West-Berliner Tageszeitungsinitiative an.
Wir trafen uns nicht mehr im Büro des Anwaltskollektivs, sondern im
Neuköllner Lehrerzentrum in der Hermannstraße. Dort tauchten neben anderen
Gitti Hentschel auf, später Leiterin des Gunda-Werner-Instituts in der
Heinrich-Böll-Stiftung, Vera Gaserow, die als freie Mitarbeiterin der
Frankfurter Rundschau eine der ganz wenigen war, die schon ein wenig
journalistische Erfahrung hatte. Und Armin Meyer, ein intellektueller
Taxifahrer, der ein paar Jahre später im Berliner Häuserkampf so etwas wie
der Stratege der Autonomen wurde. Spontis von der Uni, junge Leute wie du,
Ute Scheub, Andreas Rostek, Stefan Schaaf, Rainer Berson. Und ziemlich
schweigsam, wie auch meist später, Karl-Heinz Ruch beziehungsweise Kalle,
der zum langjährigen erfolgreichen Geschäftsführer der taz werden sollte.
Ganz schön viele.
Dank der Tunix-Veranstaltung kamen jetzt zwanzig, dreißig Leute zu den
Treffen. Max und ich machten uns schon Sorgen, dass die ganze Sache aus dem
Ruder laufen und von maoistischen Kadern unterwandert werden könnte.
Aber das geschah nicht, die Angst war unbegründet. Wie ging es dann weiter?
Nach den Treffen der taz-Ini gingen wir oft in die Osteria No. 1, eine
Kneipe von italienischen Genossen am Fuße des Kreuzbergs. Aus meinen
Unterlagen ergibt sich, dass ich dort am 23. Februar 1978 mit vier Männern
und zwei Frauen zusammensaß und wir den Verein „Freunde der alternativen
Tageszeitung e. V.“ gründeten. Der Name „Freunde der alternativen
Tageszeitung“ stammte von mir beziehungsweise aus einem meiner
Lieblingsfilme, „Some Like it Hot“ von Billy Wilder, in dem amerikanische
Mafiosi unter Führung von Al Capone als „Freunde der italienischen Oper“
firmieren. Unseren ehrenwerten Verein ließ ich ordentlich beim Amtsgericht
Charlottenburg ins Vereinsregister eintragen, am 9. März 1978, gegen eine
Gebühr von 107,90 DM.
Der neue Verein brauchte Räumlichkeiten.
Am 24. April 1978 unterschrieb der Vorstand des Vereins der Freunde der
alternativen Tageszeitung e. V. einen Gewerbemietvertrag mit einer
Erbengemeinschaft aus Hildesheim für ein „Presse-Büro“ in der Suarezstra�…
41 in Charlottenburg. Die Mietsache bestand aus: „Vorderhaus, Parterre
rechts, Laden mit anschließenden drei Nebenräumen, sowie links im
Souterrain ein weiterer Raum. Daneben ein Kellerraum unter dem Laden sowie
ein Lagerkeller mit separatem Eingang von der Straßenseite. Die Fläche ist
mit 101 qm vereinbart.“ Die monatliche Miete betrug 354,33 Mark. In dem
Laden saß dann Peter Köker mit einem Holzkasten mit kleinen Karteikarten
drin, auf die er jeweils Namen und Adresse der Leute getippt hatte, die die
noch nicht existierende Zeitung vorab abonniert hatten. Das waren anfangs
viel zu wenige.
Wir versuchten die Zeitung mit Crowdfunding, wie man das heute nennen
würde, zu finanzieren.
Es galt, unser Projekt bekannt zu machen. In der linken Szene und darüber
hinaus. Im April 1978 brachten die taz-Initiativen deshalb den „Prospekt:
Tageszeitung“ heraus.
… wo dann auch der Brief von Fritz Teufel aus dem Gefängnis erschien.
Rudi Dutschke erklärte darin aus dem Exil im dänischen Aarhus: „Bei dem
miserablen Zustand – verglichen mit der internationalen Situation – der
deutschen Öffentlichkeit, wo nichts offen und wo kein Licht ist, daß da
eine Zeitschrift, eine Tageszeitschrift überfällig ist, ist keine Frage.“
Günter Wallraff meinte: „Es müßte erstmal eine Gegenzeitung geschaffen
werden, die alles bringt, das woanders nicht mehr kommt. Und nicht nur von
einer Linksaußen-Position getragen – das politische Bekenntnis braucht
nicht in jedem Artikel mitschwingen.“ Und er sagte auch: „Eine große und
überregionale Tageszeitung auf die Beine zu stellen, kostet 80 Millionen
Mark.“ Viele 68er waren eher skeptisch. Der Ex-SDS-Mann Tilman Fichter
unkte, „daß unglaublich viele Genossinnen und Genossen nicht belastbar sind
und auch dann, wenn sie sich wirklich anstrengen, so etwas einfach nicht
hinkriegen“. Falls diese Tageszeitung tatsächlich erscheinen würde, so
Fichter, wäre sie „so etwas wie ein 7. Weltwunder“.
Wie kam es zu dem nicht sonderlich prickelnden, im Grunde inhaltsleeren
Namen „Die tageszeitung“?
Bei einem nationalen Treffen der taz-Inis im Schloss Trautskirchen bei
Nürnberg, wo ein Künstlerkollektiv residierte, wurde 1978 der Name
beschlossen. Es hatte eine Arbeitsgruppe zu dieser nicht unwichtigen Frage
getagt, es war im „Prospekt: Tageszeitung“ ein Wettbewerb unter der
künftigen Leserschaft ausgelobt worden. Die Vorschläge fielen aber eher
skurril als überzeugend aus: „Unter dem Pflaster“, „Sumpfblüte“,
„Republikanischer Landesbote“. Ich kam dann auf „Die Tageszeitung.“ Das
drückte zweierlei aus, einmal, dass es sich um eine täglich erscheinende
Publikation handelte, zum anderen, dass es die bedeutendste Tageszeitung in
Deutschland sei. Das hatte etwas Größenwahnsinniges, aber so waren wir
damals. Da niemandem etwas Besseres, Überzeugenderes einfiel, blieb es bei
diesem zunächst provisorischen Namen.
Welche Entscheidungen waren in dieser Phase der Vorbereitung sonst noch
wichtig?
Die wichtigste Entscheidung in der Gründungsphase der taz war die, wo die
sogenannte „Zentral-Redaktion“ arbeiten würde. Die Mitglieder der
Frankfurter Ini gingen davon aus, dass dies gar keine Frage sei, dass die
Redaktion natürlich bei ihnen in Frankfurt arbeiten würde. Sie verstanden
sich mit Dany Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Matthias Beltz und anderen als
intellektuelles Zentrum der Spontis, der undogmatischen Linken in der
Bundesrepublik. Uns Berliner, die eine Arbeitsgruppe „Betrieb und
Gewerkschaft“ hatten und bei denen auch ein paar ehemalige Maoisten dabei
waren, sahen die Frankfurter als zurückgebliebene traditionelle Linke. Sie
hatten die Stadtzeitung Pflasterstrand, den ID, den wöchentlichen
Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, sie hatten
deutlich mehr Erfahrung im Zeitungsmachen und traten selbstbewusst,
manchmal leicht arrogant auf. Das wurde ihnen zum Verhängnis.
Wann genau erfolgte die Festlegung des Redaktionssitzes?
Bei einem nationalen Treffen in Frankfurt am 10. Dezember 1978. Da bekam
West-Berlin 43 Stimmen und Frankfurt 30. Die meisten Mitglieder der
kleineren taz-Inis, Hamburg, Hannover, Köln, Stuttgart, München und andere,
hatten weniger für Berlin als gegen Frankfurt gestimmt. Sie hatten den
Verdacht, dass viele der Frankfurter sie vor allem als Wasserträger für ihr
tolles Projekt begriffen. Heute muss man sagen, dass ohne die taz-Inis in
rund 30 Städten, von Kiel bis Bad Schussenried, die taz nicht hätte
gegründet werden können. Es war eine richtige kleine Bewegung.
Für welche Stadt hast du votiert?
Ich war natürlich für Berlin, schlicht weil ich hier lebte. Und neben dem
ungeschickten Auftreten der Frankfurter war es [12][Kalle], der auf den
ersten Blick unscheinbare und wenig charismatische Kalle, der dafür sorgte,
dass die Redaktion nach Berlin kam. Er rechnete ganz nüchtern vor, dass die
monatlichen Kosten für die Produktion der Zeitung in West-Berlin um rund
30.000 Mark unter denen in Frankfurt lägen, weil es hier
Investitionszulagen und verschiedenste Steuersparmöglichkeiten gab. Nur in
West-Berlin, so sein Credo, würde es finanziell möglich sein, mit unseren
sehr knappen Ressourcen eine Tageszeitung zu gründen.
In deiner pragmatischen Art hast du versucht, den Riss zu kitten, und hast
– es erschienen bereits monatlich Nullnummern – einfach weitergemacht.
In meinen Akten findet sich ein Brief aus dem Januar 1979 an die
Frankfurter Ini: „Im Wedding wurde eine Büroetage mit 620 qm angemietet.
Mit idealen Arbeitsmöglichkeiten für die Zentralredaktion. Fotosatzgeräte
sind gekauft.“ Anfang Januar 1979 zog die künftige Redaktion in die Etage
in der Wattstraße ein, wobei es um die Finanzen weiterhin jämmerlich
bestellt war. In dem zitierten Brief heißt es: „Ca. 3500 Vorausabonnenten
haben inzwischen 270.000 DM bezahlt, die bis zum täglichen Erscheinen der
TAZ festgelegt bleiben.“
Was brauchte es noch?
Es mussten schnell Firmen gegründet werden, zwei Kommanditgesellschaften,
die später in GmbHs umgewandelt wurden. Eine Verlags-GmbH beschäftigte die
Redaktion, die Fotosatz- und anderen wertvollen Maschinen gehörten einer
zweiten GmbH, damit sie im Falle einer Pleite nicht in der Konkursmasse
gelandet wären. Diese GmbHs waren über Treuhänder mit dem Verein der
Freunde der alternativen Tageszeitung verbunden, einer von ihnen war mein
Kollege Otto Schily.
Noch war nicht klar, ab wann die Zeitung täglich erscheinen sollte.
Im Frühjahr 1979 traten wir die Flucht nach vorne an. Nach zehn Nullnummern
erschien die Zeitung ab dem 17. April 1979 täglich, 12 Seiten im Berliner
Format, der Redaktionsschluss war schon um 13 Uhr. Die Filme der Seiten
mussten in eine Druckerei bei Hannover gefahren und in eine zweite
Druckerei nach Frankfurt geflogen werden. Doch es waren nicht 20.000
Abonnenten zusammen, mit denen wir eigentlich starten wollten, sondern nur
7.000. Die gedruckte Auflage lag bei 63.000 Exemplaren, die verkaufte bei
nicht viel über 20.000.
Die taz startete auch fast ohne journalistische Erfahrung.
Von den rund 50 Leuten, die im Frühjahr 1979 mit der täglichen Produktion
loslegten, hatten nur drei überhaupt schon mal für eine Tageszeitung
gearbeitet. Es gab Taxifahrer, Sozialarbeiter, Lehrer, viele Studenten,
aber kaum gelernte Journalisten. Sie wollten zukunftsweisende Ideen
propagieren. Die Frauen setzten bald mithilfe eines einwöchigen Streiks
eine Frauenquote von 52 Prozent für alle Abteilungen durch. Die erste
Frauenquote Deutschlands, noch ein paar Jahre bevor die Grünen eine solche
einführten. Die Öko-Redaktion kämpfte nicht nur gegen die Atomenergie,
sondern setzte sich für Windenergie, Sonnenenergie, Erdwärme ein. Das war
avantgardistisch – und richtig. Die Redaktion hatte drei weitere
inhaltliche Säulen bestimmt: die „Frauenfrage“, Gender würde man heute
sagen; den Internationalismus, also die Solidarität mit der Dritten Welt;
und alternatives Leben und Arbeiten.
Wie siehst du deine Rolle bei der Gründung der Zeitung?
Meine Rolle bei der Gründung der taz war eine Dreifache. Ich bin viele
Wochen lang abends, meist in Charlottenburg, in Kneipen von Tisch zu Tisch
gegangen – wie später als Bundestagsabgeordneter der Grünen – und habe
Zeitungen verkauft, habe versucht, die Leute dazu zu bringen, die Zeitung
zu unterstützen und ein Abo zu zeichnen. Meine zweite Rolle war die des
Organisators, des juristischen Vaters, wenn man so will. Als Drittes habe
ich Redaktionsmitglieder, die von der Staatsanwaltschaft oder
zivilrechtlich belangt wurden, juristisch vertreten, als Justitiar. In den
ersten beiden Jahren überzog die politische Staatsanwaltschaft die
presserechtlich Verantwortlichen der taz mit Strafverfahren. Es gab auch
etliche Hausdurchsuchungen von Staatsanwälten in der taz. Da klingelte bei
mir das Telefon und es hieß: „Christian, du musst schnell kommen, es steht
mal wieder ein Staatsanwalt in der Tür.“
Mitglied der Redaktion warst du nie.
Nein. Bei der Produktion der ersten Nullnummer im September 1978 war ich
zwar in Frankfurt, aber hatte keine Ahnung, wie die Zeitung mit Composern
und Fotosatz produziert wurde. Dass wir am 17. April 1979 mit dem täglichen
Erscheinen starteten, lag nicht zuletzt daran, dass wir unerwartet
Konkurrenz bekommen hatten.
Du meinst Die Neue, die tägliche Ausgabe des Extra-Dienstes.
Traditionelle Linke vom bis dahin wöchentlich erscheinenden Extra-Dienst
wollten uns Spontis nicht das Feld überlassen. Sie waren gewerkschaftsnahe,
linkssozialdemokratische Linke, standen der DDR nahe, zwei von ihnen waren
Stasi-Spitzel, wie sich viel später herausstellte. Uns behandelten sie
etwas herablassend wie Amateure, die ihnen als erfahrenen Profis nicht das
Wasser reichen könnten. Es kam aber genau umgekehrt. Sie starteten zwar
kurz vor der taz, aber mussten nach weniger als drei Jahren das Erscheinen
als Tageszeitung beenden. Nachdem die taz zum täglichen Erscheinen
übergegangen war, war ich allerdings auch skeptisch, dass wir das lange
durchhalten würden.
Wegen des Geldes?
Finanziell sah es sehr schlecht aus. Es ging zwar langsam aufwärts, es
wurden mehr Abonnements, aber nach einem halben Jahr konnten keine Löhne
mehr bezahlt werden. Ein Teil der Redaktion suchte sich andere Jobs, um die
Miete bezahlen zu können. Ich habe meine Skepsis nicht laut geäußert, weil
ich keinen Defätismus verbreiten wollte. Aber ich hatte es in vielen
alternativen Zusammenhängen erlebt, dass du dich nicht unbedingt auf die
Leute verlassen konntest. Die hängten sich erst einmal schwer rein, aber
dann fanden sie etwas anderes und waren von einem auf den anderen Tag weg.
Doch das war bei der taz nicht so. Trotz dieses komplizierten
arbeitsteiligen Produktionsprozesses erschien die Zeitung jeden Tag.
Anfangs erschien mir das wie ein kleines Wunder. Auch wenn es große
Kontroversen und großen Streit gab – und das gab es öfters – die Zeitung
erschien. Tag für Tag. Die Leute kamen morgens um neun in die Etage im
Wedding und machten die Zeitung – obwohl sie Spontis waren. Zu meiner
großen Verwunderung ging es immer weiter.
Es ging immer weiter, obwohl wir uns ständig in nahezu uferlosen, sehr hart
geführten Debatten auf den Plena erschöpften. Die Selbstverwaltung war sehr
anstrengend und oft auch frustrierend.
Das mag sein, aber für mich war die Selbstverwaltung neben der
publizistischen und politischen Bedeutung einer linken Tageszeitung absolut
entscheidend. Ein ganz wichtiges Motiv dafür, bei dem Projekt mitzumachen.
Die taz war das größte Alternativprojekt der Bundesrepublik: Die
Auflockerung der Arbeitsteilung, der Einheitslohn für alle, anfangs nur 650
Mark netto im Monat, das war deutlich weniger als der Einheitslohn von über
1.000 Mark, den wir uns im Sozialistischen Anwaltsbüro auszahlten. Aber
jeder konnte beim Plenum mitdiskutieren und mitentscheiden, jeder, der bei
der taz arbeitete, konnte bei den Vereinstreffen über die wichtigen
Entscheidungen mitbestimmen.
Das Geld blieb knapp.
Wirtschaftlich gesehen war das erste Jahrzehnt der taz sehr hart. Alle
Jahre wieder tat sich das Sommerloch auf, das die taz aufgrund des
geringeren Verkaufs im Sommer an den Rand des Ruins brachte. Es mussten
Spenden- und Bettelkampagnen gestartet werden. Es herrschte eine desolate
Mangelökonomie. Immer wieder gab es Situationen, in denen man eigentlich
hätte bekennen müssen, dass das Geld nicht mehr reicht; in denen man
Konkurs hätte anmelden müssen – und, da man das nicht getan hat, sich der
Straftat der Konkursverschleppung schuldig machte. Ich habe das nie so
ausgesprochen, ich habe das dem Geschäftsführer Kalle auch nie so gesagt,
sondern habe lediglich angemerkt: Kalle, du weißt, was du hier riskierst.
Er wusste es, denn er war ja nicht blöde.
Kalle war weiß Gott nicht blöde, aber er war fast zwei Jahrzehnte jünger
als du. Die große Mehrheit der Gründerinnen und Gründer der taz war in
ihren Zwanzigern, du warst deutlich älter. Sind wir Jungen dir eigentlich
nie auf die Nerven gegangen? Mit unserer Arroganz der Adoleszenz, unserem
Mangel an Erfahrung?
Ich hatte mehr Erfahrung, aber unser Verhältnis war ein Verhältnis von
Gleichen, auch wenn manche der Jüngeren mich auch als Vaterfigur sahen. Ich
habe nie versucht, etwas mit meiner Autorität durchzusetzen. Auf die Dauer
geriet ich allerdings in eine Rolle, in der ich mich nicht wohl gefühlt
habe. Mein erster Mitstreiter Max warf mir vor: Du hast dein Anwaltsbüro
und dein Auskommen, wir darben hier mit einem minimalen Einheitslohn, mit
diesem Hungerlohn. Darauf habe ich geantwortet: Hör mal zu, Max, ich
verbringe hier in der taz die Nachmittage und Abende und bekomme gar nichts
dafür. Ich habe nie einen einzigen Cent beziehungsweise Pfennig von der taz
bekommen. Es mag sein, dass ich dennoch das schlechte Gewissen eines
Privilegierten hatte, auf jeden Fall habe ich regelmäßig Frühstück oder ein
Blech Kuchen in die taz mitgebracht, die stets freudig verzehrt wurden.
Du selbst hast dich bewusst nicht als Teil der Redaktion begriffen, aber du
hast immer wieder für die taz geschrieben.
Ja. In den ersten Jahren der taz habe ich viele Artikel für sie
geschrieben, zum Beispiel zwei ganze Seiten über einen Besuch von Juliana
und mir bei der Guerilla in Guatemala, in ihren befreiten Zonen. Die
Redakteurinnen und Redakteure kamen sich naturgemäß sehr wichtig vor,
entscheidend aber waren andere. Kalle Ruch, der Geschäftsführer, Gudrun
Kromrey und Heiner Kamp, die den Vertrieb aufbauten, Dieter Metk, der ein
Konzept für die Produktionstechnik konzipierte, die moderner war als die
der etablierten Zeitungen von Springer und anderen Verlagen. Ohne diese
Leute hätte es die taz nicht gegeben. Gert Behrens spielte auch eine
wichtige Rolle.
Er war ein erfahrener Steuerberater.
Gert Behrens war bei der Gründung von „Netzwerk“ dabei, einem Verein zur
finanziellen Unterstützung alternativer Projekte, er hatte beim Kauf des
Mehringhofs in Kreuzberg als räumliches Zentrum der West-Berliner
Alternativbewegung mitgemischt. Er entwickelte mit Kalle zusammen das
Konstrukt von mehreren GmbHs, mit denen Steuern gespart und die Kosten
gesenkt werden konnten.
Du hast dich nicht nur auf das Organisatorische beschränkt, sondern zum
Beispiel die große Kampagne „[13][Waffen für El Salvador]“ in der taz
vorgeschlagen und durchgesetzt.
Ich war von Anfang an der Meinung, dass eine Zeitung, die von politischen
Bewegungen getragen wird, auch ein Instrument für politische Kampagnen ist.
Sie kann nicht nur neutral berichten, sondern sie soll versuchen, Einfluss
zu nehmen, Macht auszuüben. In der radikalen Linken wurde damals eine
Debatte geführt, mit der ich, da ich kein Pazifist war, keine Probleme
hatte. Es ging um die Frage: Ist Gewalt als politisches Instrument
gerechtfertigt, gibt es politische Situationen, in denen bewaffneter Kampf
gerechtfertigt und nötig ist? Diese Diskussion sollte man offen führen. Ich
habe Geld für den Kampf des ANC gegen die Apartheid in Südafrika gespendet.
Oder für den Vietcong, die Kommunisten in Vietnam. Da war meine ganze
Emotion dahinter. Dann Nicaragua, El Salvador. Es ging mir nicht darum,
dass sich Guerilleros tausend Maschinengewehre kaufen können, sondern: Ich
wollte diese Diskussion in Deutschland. Ich sah es auch als eine Aufgabe
der taz an, solche Fragen zu diskutieren, durchaus hart und kontrovers zu
diskutieren.
Wie lief denn die Kampagne, nachdem ihr Start im Dezember 1980 auf der
ersten Seite der taz verkündet worden war?
Klaus-Dieter Tangermann, der leider schon 2002 gestorben ist, und ich
hatten viele und intensive Kontakte zu Genossen in Mittelamerika. Beim
Start der Spendenkampagne dachten wir, es kommen vielleicht 2.000 oder
3.000 Mark zusammen. Es wurden dann bis 1992 über 4 Millionen Mark. Es gab
in den meisten Universitätsstädten öffentliche Diskussionen. Wir gaben Geld
an vier Guerilla-Gruppen, die teilten das untereinander auf. Ich habe auch
zweimal Dollars in Plastiktüten rübergebracht. Die Geldscheine wurden bei
der Volksbankfiliale in Berlin abgeholt, nachdem ich angerufen hatte, wie
viel Cash-Dollars wir haben wollten. In der taz flammte Streit auf, als
bekannt wurde, dass sich Führungsfiguren verschiedener rivalisierender
Guerilla-Gruppen gegenseitig hatten ermorden lassen. Wir haben denen auch
gesagt: Wenn das so weitergeht, unterstützen wir euch nicht mehr.
Was waren andere Themen, die in den ersten Jahren in der taz kontrovers
diskutiert wurden?
Immer die „Frauenfrage“, wie es damals hieß. Und die [14][RAF] war ein sehr
kontroverses Thema. Wolfgang Grundmann, der bei der RAF gewesen, aber
ausgestiegen war, arbeitete als Justiz-Redakteur für die taz. Ich hatte ihn
auch verteidigt, wegen eines Bankraubs in Kaiserslautern. Wenn es wieder
mal eine Besetzung der Redaktion durch RAF-Unterstützer gab, wurde ich
angerufen: „Christian, kannst du mal kommen und das klären?“ Meist wurde
ein Kompromiss gefunden. Eine Erklärung veröffentlicht, gewöhnlich gekürzt
oder in ganz kleiner Schrifttype.
Auch die Pädophilen haben die taz besetzt.
Die waren noch unangenehmer und aggressiver als die RAF-Unterstützer. Dass
ich mit denen geredet habe, das hängt mir heute noch nach. Die
Indianerkommune war einen ganzen Tag in der taz. Ich habe mit einem
blonden, vielleicht Vierzehnjährigen diskutiert, den habe ich heute noch
vor Augen: „Und du willst mir keine Sexualität gönnen“, sagte der. „Du
willst das nicht. Dann sag das laut.“ Die bekamen eine Seite. „Ihr seid
doch unsere Zeitung“, sagte die Indianerkommune und auch andere Gruppen.
„Ihr müsst das abdrucken.“ Es gab bitterböse Auseinandersetzungen.
Anders als du hat die taz den Realo-Kurs der Grünen später unterstützt.
Ja. Ich habe darunter gelitten. Das hat mich sehr geärgert. Ich konnte die
taz zeitweise nicht mehr lesen. Meine Verbündeten in der Fraktion sagten
auch: „Greif doch mal bei der taz ein, rede mit denen.“ Aber die
redaktionelle Unabhängigkeit der taz war für mich eine heilige Kuh. Ich
habe keinen Einfluss genommen auf die Inhalte der taz. Wobei ich häufig zum
Mainstream in der Redaktion quer lag.
Wenn du dir die taz und ihre Macherinnen und Macher heute ansiehst, was
denkst du?
Zwischen denen, die die taz gründeten, und denen, die heute für sie
arbeiten, liegen Welten. Die Gründerinnen und Gründer waren nicht vom Fach,
viele wollten auch gar keine Journalisten werden, sondern hatten die Idee,
es müsse endlich mal – zum ersten Mal nach 1933 – eine unabhängige freie
linke überregionale Tageszeitung geben. Um bei der taz angestellt zu
werden, brauchte niemand ein Zeugnis aus einer Journalistenschule. Säzzer,
die keine Lust mehr hatten, nur Säzzerbemerkungen in Artikel
reinzuschreiben, konnten in die Redaktion wechseln. Leute, die in der
Kantine anfingen, wurden sehr gute Redakteure. Es war sehr durchlässig.
Heute kenne ich von denen, die für die taz arbeiten, kaum mehr jemanden.
Sie erscheinen mir viel professioneller und scheinen das Arbeiten für die
taz als Job zu begreifen, als relativ normalen Job bei einer etablierten
Zeitung. Ein bisschen radikaler würde ich sie mir wünschen, habe ich
gelegentlich gesagt.
Zu einem stabilen Medienunternehmen wurde die taz 1991 durch die Gründung
der Genossenschaft. Siehst du darin auch die wichtigste Zäsur in der
Geschichte der taz?
Auf jeden Fall. Nach zwölf Jahren der Mangelökonomie wollte die Mehrheit
der Redaktion 1990 die taz an einen großen Medienkonzern verkaufen, um
endlich mal höhere Gehälter zu bekommen, um einen Verlag zu haben, der
ihrer Meinung nach professioneller arbeitete, als dies in der taz üblich
war. Bei diesem großen Schisma habe ich mich zum letzten Mal sehr intensiv
bei der taz engagiert. Zusammen mit Johnny Eisenberg schrieb ich die
Satzung der taz-Genossenschaft. Wer die mal genau durchliest, wird
feststellen, dass jedem potenziellen Investor, der die taz kaufen will,
sofort der Appetit vergeht. Wir bauten unzählige Hürden gegen eine
Übernahme der taz durch einen großen Medienkonzern ein. Später haben einige
der Redakteure, die die taz damals verkaufen wollten, zu Kalle oder mir
gesagt: „Ihr habt mit der Gründung der Genossenschaft den richtigen Weg
eingeschlagen. Wenn es uns damals gelungen wäre, die taz zu verkaufen, gäbe
es sie heute wohl nicht mehr.“
Ein Grund, warum die taz überlebt hat, war anfangs auch in keiner Weise zu
erwarten gewesen: ihre hervorragenden Immobiliengeschäfte.
Als Kalle 1989 mit der Idee um die Ecke kam, in der Kochstraße ein
landeseigenes Gebäude zu kaufen, damit die taz aus dem Wedding in das alte
traditionelle Berliner Zeitungsviertel ziehen könnte, habe ich spontan
gesagt: „Du spinnst doch, Kalle.“ Davon hat sich Kalle nicht beirren
lassen, zum Glück. Sechs Wochen nach dem Unterschreiben des Kaufvertrags
für die Kochstraße 18 fiel die Mauer und diese jetzt zentral gelegene
Immobilie gewann um ein Mehrfaches an Wert. Da hatte die taz auch mal
wirklich Glück. Es kam der angrenzende Neubau in der Kochstraße hinzu. Die
Straße heißt mittlerweile Rudi-Dutschke-Straße, beide taz-Häuser sind heute
schuldenfrei, und die taz arbeitet in einem [15][großen modernen Gebäude]
in der Friedrichstaße. Kalle, der sich so gut wie nie in inhaltliche Fragen
eingemischt hat, hat der taz zu einem Sicherheitspolster verholfen, um das
andere Verlage die taz-Genossenschaft beneiden können.
Du siehst also die Geschichte der taz und ihrer Gründung als
Erfolgsgeschichte?
Auf jeden Fall. Insgesamt ist die taz ein ungeheurer Erfolg. Dass es sie
nach wie vor gibt, ist in der Tat vergleichbar mit der Gründung und
Entwicklung der Grünen, die ein, zwei Jahre später kamen als die taz. Dass
eine kleine Gruppe von Leuten aus eigenem Engagement aus dem Nichts ein
Projekt auf die Beine stellt und mit Mühen dafür sorgt, dass es überlebt
und wächst, das ist wirklich ein Wunder. Das war nur möglich, weil alle der
Überzeugung waren: Das muss jetzt gemacht werden. Nicht weil jemand einen
Job suchte, sondern weil sie eine wichtige gesellschaftliche und politische
Aufgabe übernehmen wollten.
[16][Michael Sontheimer], 68, arbeitete bis 1984 bei der taz, dann bei der
Zeit. Von 1992 bis 1994 war er taz-Chefredakteur, danach ging er zum
Spiegel. Heute ist er freier Journalist und Mitglied im Kuratorium der taz
Panter Stiftung.
28 Aug 2023
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## AUTOREN
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