# taz.de -- Zum Todestag von Hans-Christian Ströbele: „Wir brauchen eine eig… | |
> Vor einem Jahr starb Hans-Christian Ströbele. Unser Autor hat kurz vor | |
> seinem Tod mit ihm über die wilden Gründungsjahre der taz gesprochen. | |
Vergeistigt wirkte Hans-Christian Ströbele im Sommer vergangenen Jahres, | |
nach zehn Jahren mit zwei unheilbaren Krankheiten. Engelsweiß die langen | |
Haare, die Haut dünn wie Pergament, aber die Stimme fest und fröhlich. | |
Hinter dem massiven Schreibtisch seines Arbeitszimmers mit Blick auf die | |
Spree, unter einem vier Meter hohen Regal gefüllt mit Aktenordnern, rollte | |
er auf seinem Stuhl hin und her und sprach über die Politik und sein Leben | |
– wobei das für ihn eigentlich dasselbe war. | |
Im März 2022 hatte ich damit begonnen, ihn mindestens einmal im Monat zu | |
besuchen und zu befragen. Über sein politisches Erwachen 1967 in | |
West-Berlin, sein Leben als Anwalt, die Konsequenzen aus dem russischen | |
Überfall auf die Ukraine und natürlich auch über die Gründung der taz. | |
Denn kennengelernt hatte ich ihn Anfang 1978, mehr als ein Jahr bevor wir | |
die taz täglich produzierten, in der West-Berliner taz-Ini. Er hatte sich | |
schon ein Jahr lang mit einem kleinen Kreis undogmatischer Linker | |
getroffen, um den Traum der 68er von einer kritischen linken Tageszeitung | |
zu verwirklichen, und nach dem [1][euphorischen Tunix-Kongress] im Januar | |
1978 war ordentlich Schwung in das Projekt gekommen. Eine linksradikale, | |
grüne Tageszeitung wäre auch ohne ihn gegründet worden, die Verwirklichung | |
dieser Idee lag einfach in der Luft in den Jahren nach der Entstehung der | |
[2][Anti-Atom-Bewegung], der Neuen [3][Frauenbewegung] oder auch der | |
[4][Schwulenbewegung]. | |
Aber Christian, wie wir ihn nannten, war die wichtigste Person im | |
taz-Gründerkreis, zu dem Initiativen in 30 Städten mit insgesamt mehreren | |
hundert Menschen gehörten. Er war als furchtloser Anwalt der Kommunarden | |
Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel bekannt, als Verteidiger von Andreas | |
Baader, Gudrun Ensslin und anderen Gründern der Rote Armee Fraktion. | |
Bei der gemeinsamen Aufbauarbeit war er solidarisch, ohne Führungsanspruch, | |
ein erfrischender Teamplayer und Pragmatiker, gleichzeitig prinzipientreu. | |
Wenn wir Jüngeren uns in Kontroversen verrannten, holte er uns auf den | |
Boden zurück oder wartete, bis wir uns abgeregt hatten. | |
Am 23. Mai 2022 und noch mal am 20. Juni 2022 haben Christian und ich | |
gemeinsam versucht, die Anfänge der taz zu rekonstruieren. Christian, der | |
als Jurist immer für eine ordentliche Aktenführung gesorgt hatte, ging noch | |
mal in seine Unterlagen, um bestimmte Vorgänge und Erinnerungen zu | |
verifizieren. | |
Auf dieser Grundlage ist das folgende Gespräch entstanden, das er danach | |
noch zwei Mal korrigierte. Es ist ein historisches Zeugnis über die ersten | |
wilden Jahre dieser Zeitung bis zur [5][Gründung der taz-Genossenschaft] | |
1991. | |
Anfang Juli vergangenen Jahres wollten wir uns erneut treffen, um noch ein | |
paar Einzelheiten der taz-Historie zu vertiefen, doch dazu kam es nicht | |
mehr. Christian war im Badezimmer gestürzt und hatte sich schmerzhafte | |
Brüche zugezogen, von denen sich sein geschundener Körper nicht mehr | |
erholte. Am Morgen des [6][29. August 2022] starb er in seiner Wohnung in | |
Berlin-Moabit. | |
Auch, um an den beeindruckenden Politiker und Menschen Christian Ströbele | |
zu erinnern, der für die taz so wichtig war und dem die taz so wichtig war, | |
veröffentlichen wir dieses Gespräch. | |
wochentaz: Christian, wann und von wem wurde die Idee einer linken | |
Tageszeitung geboren? | |
Hans-Christian Ströbele: Die Idee einer linken Tageszeitung gab es seit den | |
60er Jahren. [7][Fritz Teufel] hat das in einem 1978 für den „Prospekt: | |
Tageszeitung“ verfassten Brief aus dem Gefängnis sehr schön formuliert. Er | |
schrieb: „Eine neue Zeitung ist die Frau meiner Träume seit 67. Die Frau | |
meiner Träume macht alle glücklich. Sie fegt Mauern weg wie nix. | |
Ghettomauern, Knastmauern und das Monstrum vom dreizehnten August. Sie | |
enteignet Springer durch Abspenstigmachen der Leser. Sie wird von Frauen, | |
Kindern, Türken, Indianern, Studenten, Gefangenen und anderen Rentnern, von | |
Lohn- und Drogenabhängigen für ihresgleichen gemacht. Olle Gutenberg kann | |
endlich aufhören, im Grabe zu rotieren, und anfangen sich zu freuen, daß er | |
die schwarze Kunst erfunden hat. Karl Valentin wird eine Kolumne kriegen | |
und falls der schon tot sein sollte, vielleicht auch ich. Die Frau meiner | |
Träume wird’s nicht leicht haben.“ | |
Fritz Teufel saß als Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ im Knast, danach | |
arbeitete er zur Resozialisierung bei der taz im Satz. Im Frühjahr 1981 | |
verfasste er einen Aufruf zu einem Aktionstag der Hausbesetzer, der uns | |
eine ordentliche Razzia durch die Polizei einbrachte. Er schrieb ihn | |
zusammen mit [8][Plutonia Plarre], die heute noch als Reporterin für den | |
Berlin-Teil der taz arbeitet. | |
Fritz Teufel hat gerne provoziert. 1967 hat er, wie wir alle von der | |
Außerparlamentarischen Opposition, der APO, ungeheuer unter der feindlichen | |
und einseitigen Berichterstattung der etablierten Medien über uns gelitten. | |
Deren Journalisten haben nicht darüber berichtet, was wir politisch wollten | |
und was wir an den bestehenden Verhältnissen kritisierten, was unsere | |
Auffassungen waren. Sie haben ein Zerrbild der antiautoritären Bewegung | |
konstruiert. Neben den Zeitungen gab es ausschließlich | |
öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen, Staatsmedien, die zu dieser | |
Zeit viel intensiver von der Politik kontrolliert und gegängelt wurden als | |
heute. Es existierte kein Internet, in dem sich alle nach Lust und Laune | |
äußern können. | |
Ihr habt die Presse als Gegner erlebt. | |
Als feindlich. Unser größter Feind war der Hamburger Verleger Axel | |
Springer, mit seiner Bild-Zeitung und der in West-Berlin noch wesentlich | |
auflagenstärkeren B.Z., die nahezu alle Arbeiter lasen. Die | |
Springerzeitungen haben von Anfang an gegen die Gammler und Studenten, die | |
sie „FU-Chinesen“ nannten, gehetzt und Rudi Dutschke, den Kopf der | |
Bewegung, als dämonischen Bürgerschreck aufgebaut. Der Sozialistische | |
Deutsche Studentenbund (SDS) – Peter Schneider, Hans-Joachim Hameister und | |
andere – organisierten deshalb ein Springer-Tribunal, die Parole hieß: | |
„Enteignet Springer!“ Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke an Ostern 1968 | |
war es überhaupt keine Frage, dass wir zur West-Berliner Springer-Zentrale | |
in der Kochstraße zogen – heute dank der taz, der Grünen und der Linken | |
Rudi-Dutschke-Straße –, um die Auslieferung der Bild-Zeitung und der B.Z. | |
zu verhindern. | |
War die gesamte Presse, die gesamte Öffentlichkeit in den 60er Jahren ein | |
monolithischer Block? | |
Im Stern, in der Zeit oder im Spiegel gab es gelegentlich Artikel, die | |
einigermaßen fair oder nicht diffamierend und feindlich, aber auch ziemlich | |
distanziert waren. Die 68er-Bewegung hatte keine eigene Stimme, mal | |
abgesehen vom Extra-Dienst, der linkssozialdemokratisch, gewerkschaftlich | |
und DDR-freundlich war, und der 883, einem anarchistischen Szeneblatt. Alle | |
waren sich einig: Wir brauchen eine eigene Publikation. Wir brauchen eine | |
eigene Zeitung. | |
Ihr wart nicht die einzigen, die sich an der Medienmacht von Springer | |
stießen. Dem liberalen Hamburger Spiegel-Gründer und Eigentümer Rudolf | |
Augstein gefiel es auch nicht, dass der Springer-Verlag an die 70 Prozent | |
des Tageszeitungsmarktes in West-Berlin kontrollierte. | |
Augstein hat deshalb ein Projekt von linken Journalisten finanziert, die | |
eine populäre linke Zeitung machen wollten, eine Art Gegen-Bild-Zeitung. | |
Extrablatt lautete der Arbeitstitel, ich habe noch ein paar Ausgaben hier | |
oben im Regal liegen. Aber Augstein fand die ersten Nummern so | |
unprofessionell, dass er das Projekt bald nicht weiter unterstützte. | |
Wie kam es 1978 zur Entstehung der Initiativen, die die taz gründeten? | |
Das lag nicht zuletzt an zwei Leuten, an [9][Max Thomas Mehr] und mir. Max | |
gehörte zum Kollektiv eines linken Buchladens, des „Politischen Buchs“ in | |
der Lietzenburger Straße. Das Büro unseres Sozialistischen | |
Anwaltskollektivs in der Meierottostraße lag nicht weit davon entfernt. Ich | |
ging ab und zu ins Pol-Buch, um dort Bücher zu kaufen und einen Kaffee zu | |
trinken, so lernte ich Max kennen. Und als wir uns mal wieder über die | |
tendenziöse Berichterstattung der bürgerlichen Medien ärgerten, sagten wir: | |
Mensch, man müsste doch endlich eine linke Tageszeitung gründen, die dem | |
etablierten Mainstream etwas entgegensetzt. | |
Wann war das? | |
In meinem Terminkalender des Jahres 1976 findet sich für Donnerstag, den 2. | |
Dezember, um 18 Uhr der Eintrag „Zeitungstreffen“. Etwa einmal im Monat | |
trafen wir uns im Büro des Anwaltskollektivs, maximal zehn Leute kamen, | |
manchmal saßen aber auch Max und ich alleine da. Wer außer uns noch | |
mitdiskutierte, erinnere ich kaum mehr, das wechselte auch ständig. Annette | |
Eckert, die später bei der taz als Kulturredakteurin arbeitete, war dabei. | |
Und der Schriftsteller Wolfgang Dreßen; Thomas Krüger, Dozent am Institut | |
für Publizistik. Mein Anwaltskollege Klaus Eschen, mal auch meine Frau | |
Juliana. Aber die beiden blieben dann weg. | |
Warum? | |
Weil es ihnen zu blöde war, immer zu hören: Man sollte mal, man müsste mal. | |
Wir fragten uns: Wer könnte uns das Geld für eine linke Tageszeitung geben? | |
Linke Journalisten? Gibt es die überhaupt? Müssen wir die ausbilden? | |
Gleichzeitig trauten wir es uns zu, eine Tageszeitung auf die Beine zu | |
stellen, denn es waren schon eine ganze Reihe von linken Unternehmen in | |
West-Berlin und anderswo gegründet worden, Buchläden, Kneipen, | |
Taxikollektive. Warum also nicht auch eine Tageszeitung? | |
Wie sah euer Konzept aus? Was sollte anders gemacht werden als in der | |
etablierten Tagespresse, den bürgerlichen Zeitungen? | |
Was in der neuen Zeitung stehen sollte, das war nicht wirklich klar, und | |
unsere Vorstellungen davon waren auch widersprüchlich. Einerseits sollte | |
die Zeitung abbilden, was in der linken Szene diskutiert wurde, was | |
anderswo nicht veröffentlicht wurde, was verboten war. Politische Gruppen | |
sollten auch zu Wort kommen, aber nicht mit endlosen Erklärungen. | |
Andererseits sollte die Zeitung, was Aufmachung, Themen und Sprache | |
anbelangt, auch Menschen außerhalb der linken Szene ansprechen. Die neue | |
Zeitung sollte kein reines Szeneblatt sein. Wir wollten jeden Tag ein | |
besonders aussagekräftiges Foto veröffentlichen, das gab es immerhin als | |
„Augenblicke“ bis zu einer Layout-Reform 2005. | |
Habt ihr euch auch mit den wirtschaftlichen und technischen Aspekten der | |
Produktion einer Tageszeitung beschäftigt? | |
Zunächst kaum, deshalb war ein Treffen der Gruppe sehr wichtig, zu dem Max | |
den erfahrenen Journalisten Jörg Mettke eingeladen hatte, den | |
West-Berlin-Korrespondenten des Spiegels. Als Profi sollte er uns Amateure | |
beraten, wie man genau eine Tageszeitung gründet, wie das praktisch | |
funktionieren könnte. Mettke sagte, man brauche natürlich Journalisten, | |
aber auch einen Verlag, der den Vertrieb organisiert, sowie eine Druckerei, | |
und vor allem brauche man Geld, viel Geld. Eine Million Mark, sagte er. Das | |
war damals unvorstellbar viel. Wir hielten dagegen, dass wir nicht so viel | |
bräuchten, weil wir sowieso umsonst arbeiten würden. Es dachte niemand | |
daran, Geld mit dieser Zeitung und der Arbeit für diese Zeitung zu | |
verdienen; wir sahen eine solche Zeitungsgründung als politisches Projekt. | |
Aber das Wort von der Million wirkte schon ziemlich desillusionierend. Ich | |
dachte insgeheim: Vielleicht gründen wir doch lieber erst mal eine | |
Wochenzeitung. | |
Zur geläufigen Erzählung über die taz gehört, dass ihre Gründung dem | |
Deutschen Herbst 1977 zu schulden sei. Die taz sei der Versuch gewesen, der | |
Nachrichtensperre über die Schleyer-Entführung etwas entgegenzusetzen, der | |
sich die etablierten Medien freiwillig unterworfen hatten. | |
In den Monaten nach dem Oktober 1977 war die Repression gegen die radikale | |
Linke besonders heftig. Aber diese Situation war lediglich eine Art | |
Katalysator, der die Gründung einer linken Tageszeitung befördert und | |
beschleunigt hat. | |
Wie wirkte sich das konkret auf eure kleine Gruppe aus? | |
Wir empfanden die Notwendigkeit einer linken Zeitung als größer denn je, | |
aber auch die Bedingungen, sie in so einer repressiven Situation auf die | |
Beine zu stellen, als schwieriger denn je. Was unser Berliner Kreis im | |
Oktober 1977 gar nicht mitgekriegt hatte: Damals diskutierten auf der | |
Frankfurter Buchmesse Spontis aus verschiedenen westdeutschen Städten über | |
die von allen Medien nach Aufforderung durch die Bundesregierung | |
praktizierte Nachrichtensperre in Sachen RAF. Sie sprachen auch über die | |
Notwendigkeit von kritischer Gegenöffentlichkeit gegen eine solche | |
Gleichschaltung der Medien. | |
Wer war dabei? | |
Genossen der Zeitschrift Autonomie, der Hamburger Arzt und Theoretiker | |
Karl-Heinz Roth, der vormalige Frankfurter Asta-Vorsitzende [10][Thomas | |
Hartmann], der später eine wichtige Rolle bei der Gründung der taz spielte | |
und heute noch die taz-Reisen organisiert; Thomas Schmid, später | |
Chefredakteur von Springers Welt, Dany Cohn-Bendit, Leute vom Münchner | |
Trikont-Verlag. Von einer Frankfurter Tageszeitungsinitiative hörte ich | |
dann erst Ende des Jahres 1977. Sie sollte schon viel weiter und wesentlich | |
professioneller sein als wir, hieß es. | |
Ende Januar 1978 versammelten sich Tausende von Spontis an der Technischen | |
Universität in West-Berlin zum „Treffen in Tunix“. Der Wille zum Aufbruch | |
war enorm. Im Programm des dreitägigen Kongresses war eine Veranstaltung | |
„Linke Tageszeitung in der BRD (Ströbele, Günter Wallraff, Lotta Continua | |
und Alternativzeitungen)“ angekündigt, wobei Wallraff nicht auftauchte und | |
auch kein Vertreter der italienischen linksradikalen Tageszeitung Lotta | |
Continua. | |
Aber diese Podiumsdiskussion war die erste öffentliche Veranstaltung zum | |
Tageszeitungsprojekt. Zu den Tunix-Organisatoren zählten auch meine | |
späteren Anwaltskollegen Stefan König und Johnny Eisenberg. Auf dem Podium | |
im mit 3.000 Leuten völlig überfüllten Audi-Max saßen Max Thomas Mehr und | |
ich, für die Berliner Gruppe, Hannes Winter vom Frankfurter ID, dem | |
Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten, Achim Meyer von der | |
alternativen Münchner Stadtzeitung Blatt und Jean-Marcel Bouguereau von der | |
Pariser Libération, einer 1973 von Jean-Paul Sartre und anderen gegründeten | |
Tageszeitung, in der linke Intellektuelle wie Michel Foucault schrieben. | |
Die Stimmung bei der Tunix-Veranstaltung war ungeheuer euphorisch. Alle | |
wollten etwas tun. Alles schien möglich. | |
Der [11][Elan von Tunix] brachte das Tageszeitungsprojekt in Schwung. Ich | |
persönlich hatte schon von Münchner Genossen etwas davon erfahren und | |
schloss mich der West-Berliner Tageszeitungsinitiative an. | |
Wir trafen uns nicht mehr im Büro des Anwaltskollektivs, sondern im | |
Neuköllner Lehrerzentrum in der Hermannstraße. Dort tauchten neben anderen | |
Gitti Hentschel auf, später Leiterin des Gunda-Werner-Instituts in der | |
Heinrich-Böll-Stiftung, Vera Gaserow, die als freie Mitarbeiterin der | |
Frankfurter Rundschau eine der ganz wenigen war, die schon ein wenig | |
journalistische Erfahrung hatte. Und Armin Meyer, ein intellektueller | |
Taxifahrer, der ein paar Jahre später im Berliner Häuserkampf so etwas wie | |
der Stratege der Autonomen wurde. Spontis von der Uni, junge Leute wie du, | |
Ute Scheub, Andreas Rostek, Stefan Schaaf, Rainer Berson. Und ziemlich | |
schweigsam, wie auch meist später, Karl-Heinz Ruch beziehungsweise Kalle, | |
der zum langjährigen erfolgreichen Geschäftsführer der taz werden sollte. | |
Ganz schön viele. | |
Dank der Tunix-Veranstaltung kamen jetzt zwanzig, dreißig Leute zu den | |
Treffen. Max und ich machten uns schon Sorgen, dass die ganze Sache aus dem | |
Ruder laufen und von maoistischen Kadern unterwandert werden könnte. | |
Aber das geschah nicht, die Angst war unbegründet. Wie ging es dann weiter? | |
Nach den Treffen der taz-Ini gingen wir oft in die Osteria No. 1, eine | |
Kneipe von italienischen Genossen am Fuße des Kreuzbergs. Aus meinen | |
Unterlagen ergibt sich, dass ich dort am 23. Februar 1978 mit vier Männern | |
und zwei Frauen zusammensaß und wir den Verein „Freunde der alternativen | |
Tageszeitung e. V.“ gründeten. Der Name „Freunde der alternativen | |
Tageszeitung“ stammte von mir beziehungsweise aus einem meiner | |
Lieblingsfilme, „Some Like it Hot“ von Billy Wilder, in dem amerikanische | |
Mafiosi unter Führung von Al Capone als „Freunde der italienischen Oper“ | |
firmieren. Unseren ehrenwerten Verein ließ ich ordentlich beim Amtsgericht | |
Charlottenburg ins Vereinsregister eintragen, am 9. März 1978, gegen eine | |
Gebühr von 107,90 DM. | |
Der neue Verein brauchte Räumlichkeiten. | |
Am 24. April 1978 unterschrieb der Vorstand des Vereins der Freunde der | |
alternativen Tageszeitung e. V. einen Gewerbemietvertrag mit einer | |
Erbengemeinschaft aus Hildesheim für ein „Presse-Büro“ in der Suarezstra�… | |
41 in Charlottenburg. Die Mietsache bestand aus: „Vorderhaus, Parterre | |
rechts, Laden mit anschließenden drei Nebenräumen, sowie links im | |
Souterrain ein weiterer Raum. Daneben ein Kellerraum unter dem Laden sowie | |
ein Lagerkeller mit separatem Eingang von der Straßenseite. Die Fläche ist | |
mit 101 qm vereinbart.“ Die monatliche Miete betrug 354,33 Mark. In dem | |
Laden saß dann Peter Köker mit einem Holzkasten mit kleinen Karteikarten | |
drin, auf die er jeweils Namen und Adresse der Leute getippt hatte, die die | |
noch nicht existierende Zeitung vorab abonniert hatten. Das waren anfangs | |
viel zu wenige. | |
Wir versuchten die Zeitung mit Crowdfunding, wie man das heute nennen | |
würde, zu finanzieren. | |
Es galt, unser Projekt bekannt zu machen. In der linken Szene und darüber | |
hinaus. Im April 1978 brachten die taz-Initiativen deshalb den „Prospekt: | |
Tageszeitung“ heraus. | |
… wo dann auch der Brief von Fritz Teufel aus dem Gefängnis erschien. | |
Rudi Dutschke erklärte darin aus dem Exil im dänischen Aarhus: „Bei dem | |
miserablen Zustand – verglichen mit der internationalen Situation – der | |
deutschen Öffentlichkeit, wo nichts offen und wo kein Licht ist, daß da | |
eine Zeitschrift, eine Tageszeitschrift überfällig ist, ist keine Frage.“ | |
Günter Wallraff meinte: „Es müßte erstmal eine Gegenzeitung geschaffen | |
werden, die alles bringt, das woanders nicht mehr kommt. Und nicht nur von | |
einer Linksaußen-Position getragen – das politische Bekenntnis braucht | |
nicht in jedem Artikel mitschwingen.“ Und er sagte auch: „Eine große und | |
überregionale Tageszeitung auf die Beine zu stellen, kostet 80 Millionen | |
Mark.“ Viele 68er waren eher skeptisch. Der Ex-SDS-Mann Tilman Fichter | |
unkte, „daß unglaublich viele Genossinnen und Genossen nicht belastbar sind | |
und auch dann, wenn sie sich wirklich anstrengen, so etwas einfach nicht | |
hinkriegen“. Falls diese Tageszeitung tatsächlich erscheinen würde, so | |
Fichter, wäre sie „so etwas wie ein 7. Weltwunder“. | |
Wie kam es zu dem nicht sonderlich prickelnden, im Grunde inhaltsleeren | |
Namen „Die tageszeitung“? | |
Bei einem nationalen Treffen der taz-Inis im Schloss Trautskirchen bei | |
Nürnberg, wo ein Künstlerkollektiv residierte, wurde 1978 der Name | |
beschlossen. Es hatte eine Arbeitsgruppe zu dieser nicht unwichtigen Frage | |
getagt, es war im „Prospekt: Tageszeitung“ ein Wettbewerb unter der | |
künftigen Leserschaft ausgelobt worden. Die Vorschläge fielen aber eher | |
skurril als überzeugend aus: „Unter dem Pflaster“, „Sumpfblüte“, | |
„Republikanischer Landesbote“. Ich kam dann auf „Die Tageszeitung.“ Das | |
drückte zweierlei aus, einmal, dass es sich um eine täglich erscheinende | |
Publikation handelte, zum anderen, dass es die bedeutendste Tageszeitung in | |
Deutschland sei. Das hatte etwas Größenwahnsinniges, aber so waren wir | |
damals. Da niemandem etwas Besseres, Überzeugenderes einfiel, blieb es bei | |
diesem zunächst provisorischen Namen. | |
Welche Entscheidungen waren in dieser Phase der Vorbereitung sonst noch | |
wichtig? | |
Die wichtigste Entscheidung in der Gründungsphase der taz war die, wo die | |
sogenannte „Zentral-Redaktion“ arbeiten würde. Die Mitglieder der | |
Frankfurter Ini gingen davon aus, dass dies gar keine Frage sei, dass die | |
Redaktion natürlich bei ihnen in Frankfurt arbeiten würde. Sie verstanden | |
sich mit Dany Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Matthias Beltz und anderen als | |
intellektuelles Zentrum der Spontis, der undogmatischen Linken in der | |
Bundesrepublik. Uns Berliner, die eine Arbeitsgruppe „Betrieb und | |
Gewerkschaft“ hatten und bei denen auch ein paar ehemalige Maoisten dabei | |
waren, sahen die Frankfurter als zurückgebliebene traditionelle Linke. Sie | |
hatten die Stadtzeitung Pflasterstrand, den ID, den wöchentlichen | |
Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, sie hatten | |
deutlich mehr Erfahrung im Zeitungsmachen und traten selbstbewusst, | |
manchmal leicht arrogant auf. Das wurde ihnen zum Verhängnis. | |
Wann genau erfolgte die Festlegung des Redaktionssitzes? | |
Bei einem nationalen Treffen in Frankfurt am 10. Dezember 1978. Da bekam | |
West-Berlin 43 Stimmen und Frankfurt 30. Die meisten Mitglieder der | |
kleineren taz-Inis, Hamburg, Hannover, Köln, Stuttgart, München und andere, | |
hatten weniger für Berlin als gegen Frankfurt gestimmt. Sie hatten den | |
Verdacht, dass viele der Frankfurter sie vor allem als Wasserträger für ihr | |
tolles Projekt begriffen. Heute muss man sagen, dass ohne die taz-Inis in | |
rund 30 Städten, von Kiel bis Bad Schussenried, die taz nicht hätte | |
gegründet werden können. Es war eine richtige kleine Bewegung. | |
Für welche Stadt hast du votiert? | |
Ich war natürlich für Berlin, schlicht weil ich hier lebte. Und neben dem | |
ungeschickten Auftreten der Frankfurter war es [12][Kalle], der auf den | |
ersten Blick unscheinbare und wenig charismatische Kalle, der dafür sorgte, | |
dass die Redaktion nach Berlin kam. Er rechnete ganz nüchtern vor, dass die | |
monatlichen Kosten für die Produktion der Zeitung in West-Berlin um rund | |
30.000 Mark unter denen in Frankfurt lägen, weil es hier | |
Investitionszulagen und verschiedenste Steuersparmöglichkeiten gab. Nur in | |
West-Berlin, so sein Credo, würde es finanziell möglich sein, mit unseren | |
sehr knappen Ressourcen eine Tageszeitung zu gründen. | |
In deiner pragmatischen Art hast du versucht, den Riss zu kitten, und hast | |
– es erschienen bereits monatlich Nullnummern – einfach weitergemacht. | |
In meinen Akten findet sich ein Brief aus dem Januar 1979 an die | |
Frankfurter Ini: „Im Wedding wurde eine Büroetage mit 620 qm angemietet. | |
Mit idealen Arbeitsmöglichkeiten für die Zentralredaktion. Fotosatzgeräte | |
sind gekauft.“ Anfang Januar 1979 zog die künftige Redaktion in die Etage | |
in der Wattstraße ein, wobei es um die Finanzen weiterhin jämmerlich | |
bestellt war. In dem zitierten Brief heißt es: „Ca. 3500 Vorausabonnenten | |
haben inzwischen 270.000 DM bezahlt, die bis zum täglichen Erscheinen der | |
TAZ festgelegt bleiben.“ | |
Was brauchte es noch? | |
Es mussten schnell Firmen gegründet werden, zwei Kommanditgesellschaften, | |
die später in GmbHs umgewandelt wurden. Eine Verlags-GmbH beschäftigte die | |
Redaktion, die Fotosatz- und anderen wertvollen Maschinen gehörten einer | |
zweiten GmbH, damit sie im Falle einer Pleite nicht in der Konkursmasse | |
gelandet wären. Diese GmbHs waren über Treuhänder mit dem Verein der | |
Freunde der alternativen Tageszeitung verbunden, einer von ihnen war mein | |
Kollege Otto Schily. | |
Noch war nicht klar, ab wann die Zeitung täglich erscheinen sollte. | |
Im Frühjahr 1979 traten wir die Flucht nach vorne an. Nach zehn Nullnummern | |
erschien die Zeitung ab dem 17. April 1979 täglich, 12 Seiten im Berliner | |
Format, der Redaktionsschluss war schon um 13 Uhr. Die Filme der Seiten | |
mussten in eine Druckerei bei Hannover gefahren und in eine zweite | |
Druckerei nach Frankfurt geflogen werden. Doch es waren nicht 20.000 | |
Abonnenten zusammen, mit denen wir eigentlich starten wollten, sondern nur | |
7.000. Die gedruckte Auflage lag bei 63.000 Exemplaren, die verkaufte bei | |
nicht viel über 20.000. | |
Die taz startete auch fast ohne journalistische Erfahrung. | |
Von den rund 50 Leuten, die im Frühjahr 1979 mit der täglichen Produktion | |
loslegten, hatten nur drei überhaupt schon mal für eine Tageszeitung | |
gearbeitet. Es gab Taxifahrer, Sozialarbeiter, Lehrer, viele Studenten, | |
aber kaum gelernte Journalisten. Sie wollten zukunftsweisende Ideen | |
propagieren. Die Frauen setzten bald mithilfe eines einwöchigen Streiks | |
eine Frauenquote von 52 Prozent für alle Abteilungen durch. Die erste | |
Frauenquote Deutschlands, noch ein paar Jahre bevor die Grünen eine solche | |
einführten. Die Öko-Redaktion kämpfte nicht nur gegen die Atomenergie, | |
sondern setzte sich für Windenergie, Sonnenenergie, Erdwärme ein. Das war | |
avantgardistisch – und richtig. Die Redaktion hatte drei weitere | |
inhaltliche Säulen bestimmt: die „Frauenfrage“, Gender würde man heute | |
sagen; den Internationalismus, also die Solidarität mit der Dritten Welt; | |
und alternatives Leben und Arbeiten. | |
Wie siehst du deine Rolle bei der Gründung der Zeitung? | |
Meine Rolle bei der Gründung der taz war eine Dreifache. Ich bin viele | |
Wochen lang abends, meist in Charlottenburg, in Kneipen von Tisch zu Tisch | |
gegangen – wie später als Bundestagsabgeordneter der Grünen – und habe | |
Zeitungen verkauft, habe versucht, die Leute dazu zu bringen, die Zeitung | |
zu unterstützen und ein Abo zu zeichnen. Meine zweite Rolle war die des | |
Organisators, des juristischen Vaters, wenn man so will. Als Drittes habe | |
ich Redaktionsmitglieder, die von der Staatsanwaltschaft oder | |
zivilrechtlich belangt wurden, juristisch vertreten, als Justitiar. In den | |
ersten beiden Jahren überzog die politische Staatsanwaltschaft die | |
presserechtlich Verantwortlichen der taz mit Strafverfahren. Es gab auch | |
etliche Hausdurchsuchungen von Staatsanwälten in der taz. Da klingelte bei | |
mir das Telefon und es hieß: „Christian, du musst schnell kommen, es steht | |
mal wieder ein Staatsanwalt in der Tür.“ | |
Mitglied der Redaktion warst du nie. | |
Nein. Bei der Produktion der ersten Nullnummer im September 1978 war ich | |
zwar in Frankfurt, aber hatte keine Ahnung, wie die Zeitung mit Composern | |
und Fotosatz produziert wurde. Dass wir am 17. April 1979 mit dem täglichen | |
Erscheinen starteten, lag nicht zuletzt daran, dass wir unerwartet | |
Konkurrenz bekommen hatten. | |
Du meinst Die Neue, die tägliche Ausgabe des Extra-Dienstes. | |
Traditionelle Linke vom bis dahin wöchentlich erscheinenden Extra-Dienst | |
wollten uns Spontis nicht das Feld überlassen. Sie waren gewerkschaftsnahe, | |
linkssozialdemokratische Linke, standen der DDR nahe, zwei von ihnen waren | |
Stasi-Spitzel, wie sich viel später herausstellte. Uns behandelten sie | |
etwas herablassend wie Amateure, die ihnen als erfahrenen Profis nicht das | |
Wasser reichen könnten. Es kam aber genau umgekehrt. Sie starteten zwar | |
kurz vor der taz, aber mussten nach weniger als drei Jahren das Erscheinen | |
als Tageszeitung beenden. Nachdem die taz zum täglichen Erscheinen | |
übergegangen war, war ich allerdings auch skeptisch, dass wir das lange | |
durchhalten würden. | |
Wegen des Geldes? | |
Finanziell sah es sehr schlecht aus. Es ging zwar langsam aufwärts, es | |
wurden mehr Abonnements, aber nach einem halben Jahr konnten keine Löhne | |
mehr bezahlt werden. Ein Teil der Redaktion suchte sich andere Jobs, um die | |
Miete bezahlen zu können. Ich habe meine Skepsis nicht laut geäußert, weil | |
ich keinen Defätismus verbreiten wollte. Aber ich hatte es in vielen | |
alternativen Zusammenhängen erlebt, dass du dich nicht unbedingt auf die | |
Leute verlassen konntest. Die hängten sich erst einmal schwer rein, aber | |
dann fanden sie etwas anderes und waren von einem auf den anderen Tag weg. | |
Doch das war bei der taz nicht so. Trotz dieses komplizierten | |
arbeitsteiligen Produktionsprozesses erschien die Zeitung jeden Tag. | |
Anfangs erschien mir das wie ein kleines Wunder. Auch wenn es große | |
Kontroversen und großen Streit gab – und das gab es öfters – die Zeitung | |
erschien. Tag für Tag. Die Leute kamen morgens um neun in die Etage im | |
Wedding und machten die Zeitung – obwohl sie Spontis waren. Zu meiner | |
großen Verwunderung ging es immer weiter. | |
Es ging immer weiter, obwohl wir uns ständig in nahezu uferlosen, sehr hart | |
geführten Debatten auf den Plena erschöpften. Die Selbstverwaltung war sehr | |
anstrengend und oft auch frustrierend. | |
Das mag sein, aber für mich war die Selbstverwaltung neben der | |
publizistischen und politischen Bedeutung einer linken Tageszeitung absolut | |
entscheidend. Ein ganz wichtiges Motiv dafür, bei dem Projekt mitzumachen. | |
Die taz war das größte Alternativprojekt der Bundesrepublik: Die | |
Auflockerung der Arbeitsteilung, der Einheitslohn für alle, anfangs nur 650 | |
Mark netto im Monat, das war deutlich weniger als der Einheitslohn von über | |
1.000 Mark, den wir uns im Sozialistischen Anwaltsbüro auszahlten. Aber | |
jeder konnte beim Plenum mitdiskutieren und mitentscheiden, jeder, der bei | |
der taz arbeitete, konnte bei den Vereinstreffen über die wichtigen | |
Entscheidungen mitbestimmen. | |
Das Geld blieb knapp. | |
Wirtschaftlich gesehen war das erste Jahrzehnt der taz sehr hart. Alle | |
Jahre wieder tat sich das Sommerloch auf, das die taz aufgrund des | |
geringeren Verkaufs im Sommer an den Rand des Ruins brachte. Es mussten | |
Spenden- und Bettelkampagnen gestartet werden. Es herrschte eine desolate | |
Mangelökonomie. Immer wieder gab es Situationen, in denen man eigentlich | |
hätte bekennen müssen, dass das Geld nicht mehr reicht; in denen man | |
Konkurs hätte anmelden müssen – und, da man das nicht getan hat, sich der | |
Straftat der Konkursverschleppung schuldig machte. Ich habe das nie so | |
ausgesprochen, ich habe das dem Geschäftsführer Kalle auch nie so gesagt, | |
sondern habe lediglich angemerkt: Kalle, du weißt, was du hier riskierst. | |
Er wusste es, denn er war ja nicht blöde. | |
Kalle war weiß Gott nicht blöde, aber er war fast zwei Jahrzehnte jünger | |
als du. Die große Mehrheit der Gründerinnen und Gründer der taz war in | |
ihren Zwanzigern, du warst deutlich älter. Sind wir Jungen dir eigentlich | |
nie auf die Nerven gegangen? Mit unserer Arroganz der Adoleszenz, unserem | |
Mangel an Erfahrung? | |
Ich hatte mehr Erfahrung, aber unser Verhältnis war ein Verhältnis von | |
Gleichen, auch wenn manche der Jüngeren mich auch als Vaterfigur sahen. Ich | |
habe nie versucht, etwas mit meiner Autorität durchzusetzen. Auf die Dauer | |
geriet ich allerdings in eine Rolle, in der ich mich nicht wohl gefühlt | |
habe. Mein erster Mitstreiter Max warf mir vor: Du hast dein Anwaltsbüro | |
und dein Auskommen, wir darben hier mit einem minimalen Einheitslohn, mit | |
diesem Hungerlohn. Darauf habe ich geantwortet: Hör mal zu, Max, ich | |
verbringe hier in der taz die Nachmittage und Abende und bekomme gar nichts | |
dafür. Ich habe nie einen einzigen Cent beziehungsweise Pfennig von der taz | |
bekommen. Es mag sein, dass ich dennoch das schlechte Gewissen eines | |
Privilegierten hatte, auf jeden Fall habe ich regelmäßig Frühstück oder ein | |
Blech Kuchen in die taz mitgebracht, die stets freudig verzehrt wurden. | |
Du selbst hast dich bewusst nicht als Teil der Redaktion begriffen, aber du | |
hast immer wieder für die taz geschrieben. | |
Ja. In den ersten Jahren der taz habe ich viele Artikel für sie | |
geschrieben, zum Beispiel zwei ganze Seiten über einen Besuch von Juliana | |
und mir bei der Guerilla in Guatemala, in ihren befreiten Zonen. Die | |
Redakteurinnen und Redakteure kamen sich naturgemäß sehr wichtig vor, | |
entscheidend aber waren andere. Kalle Ruch, der Geschäftsführer, Gudrun | |
Kromrey und Heiner Kamp, die den Vertrieb aufbauten, Dieter Metk, der ein | |
Konzept für die Produktionstechnik konzipierte, die moderner war als die | |
der etablierten Zeitungen von Springer und anderen Verlagen. Ohne diese | |
Leute hätte es die taz nicht gegeben. Gert Behrens spielte auch eine | |
wichtige Rolle. | |
Er war ein erfahrener Steuerberater. | |
Gert Behrens war bei der Gründung von „Netzwerk“ dabei, einem Verein zur | |
finanziellen Unterstützung alternativer Projekte, er hatte beim Kauf des | |
Mehringhofs in Kreuzberg als räumliches Zentrum der West-Berliner | |
Alternativbewegung mitgemischt. Er entwickelte mit Kalle zusammen das | |
Konstrukt von mehreren GmbHs, mit denen Steuern gespart und die Kosten | |
gesenkt werden konnten. | |
Du hast dich nicht nur auf das Organisatorische beschränkt, sondern zum | |
Beispiel die große Kampagne „[13][Waffen für El Salvador]“ in der taz | |
vorgeschlagen und durchgesetzt. | |
Ich war von Anfang an der Meinung, dass eine Zeitung, die von politischen | |
Bewegungen getragen wird, auch ein Instrument für politische Kampagnen ist. | |
Sie kann nicht nur neutral berichten, sondern sie soll versuchen, Einfluss | |
zu nehmen, Macht auszuüben. In der radikalen Linken wurde damals eine | |
Debatte geführt, mit der ich, da ich kein Pazifist war, keine Probleme | |
hatte. Es ging um die Frage: Ist Gewalt als politisches Instrument | |
gerechtfertigt, gibt es politische Situationen, in denen bewaffneter Kampf | |
gerechtfertigt und nötig ist? Diese Diskussion sollte man offen führen. Ich | |
habe Geld für den Kampf des ANC gegen die Apartheid in Südafrika gespendet. | |
Oder für den Vietcong, die Kommunisten in Vietnam. Da war meine ganze | |
Emotion dahinter. Dann Nicaragua, El Salvador. Es ging mir nicht darum, | |
dass sich Guerilleros tausend Maschinengewehre kaufen können, sondern: Ich | |
wollte diese Diskussion in Deutschland. Ich sah es auch als eine Aufgabe | |
der taz an, solche Fragen zu diskutieren, durchaus hart und kontrovers zu | |
diskutieren. | |
Wie lief denn die Kampagne, nachdem ihr Start im Dezember 1980 auf der | |
ersten Seite der taz verkündet worden war? | |
Klaus-Dieter Tangermann, der leider schon 2002 gestorben ist, und ich | |
hatten viele und intensive Kontakte zu Genossen in Mittelamerika. Beim | |
Start der Spendenkampagne dachten wir, es kommen vielleicht 2.000 oder | |
3.000 Mark zusammen. Es wurden dann bis 1992 über 4 Millionen Mark. Es gab | |
in den meisten Universitätsstädten öffentliche Diskussionen. Wir gaben Geld | |
an vier Guerilla-Gruppen, die teilten das untereinander auf. Ich habe auch | |
zweimal Dollars in Plastiktüten rübergebracht. Die Geldscheine wurden bei | |
der Volksbankfiliale in Berlin abgeholt, nachdem ich angerufen hatte, wie | |
viel Cash-Dollars wir haben wollten. In der taz flammte Streit auf, als | |
bekannt wurde, dass sich Führungsfiguren verschiedener rivalisierender | |
Guerilla-Gruppen gegenseitig hatten ermorden lassen. Wir haben denen auch | |
gesagt: Wenn das so weitergeht, unterstützen wir euch nicht mehr. | |
Was waren andere Themen, die in den ersten Jahren in der taz kontrovers | |
diskutiert wurden? | |
Immer die „Frauenfrage“, wie es damals hieß. Und die [14][RAF] war ein sehr | |
kontroverses Thema. Wolfgang Grundmann, der bei der RAF gewesen, aber | |
ausgestiegen war, arbeitete als Justiz-Redakteur für die taz. Ich hatte ihn | |
auch verteidigt, wegen eines Bankraubs in Kaiserslautern. Wenn es wieder | |
mal eine Besetzung der Redaktion durch RAF-Unterstützer gab, wurde ich | |
angerufen: „Christian, kannst du mal kommen und das klären?“ Meist wurde | |
ein Kompromiss gefunden. Eine Erklärung veröffentlicht, gewöhnlich gekürzt | |
oder in ganz kleiner Schrifttype. | |
Auch die Pädophilen haben die taz besetzt. | |
Die waren noch unangenehmer und aggressiver als die RAF-Unterstützer. Dass | |
ich mit denen geredet habe, das hängt mir heute noch nach. Die | |
Indianerkommune war einen ganzen Tag in der taz. Ich habe mit einem | |
blonden, vielleicht Vierzehnjährigen diskutiert, den habe ich heute noch | |
vor Augen: „Und du willst mir keine Sexualität gönnen“, sagte der. „Du | |
willst das nicht. Dann sag das laut.“ Die bekamen eine Seite. „Ihr seid | |
doch unsere Zeitung“, sagte die Indianerkommune und auch andere Gruppen. | |
„Ihr müsst das abdrucken.“ Es gab bitterböse Auseinandersetzungen. | |
Anders als du hat die taz den Realo-Kurs der Grünen später unterstützt. | |
Ja. Ich habe darunter gelitten. Das hat mich sehr geärgert. Ich konnte die | |
taz zeitweise nicht mehr lesen. Meine Verbündeten in der Fraktion sagten | |
auch: „Greif doch mal bei der taz ein, rede mit denen.“ Aber die | |
redaktionelle Unabhängigkeit der taz war für mich eine heilige Kuh. Ich | |
habe keinen Einfluss genommen auf die Inhalte der taz. Wobei ich häufig zum | |
Mainstream in der Redaktion quer lag. | |
Wenn du dir die taz und ihre Macherinnen und Macher heute ansiehst, was | |
denkst du? | |
Zwischen denen, die die taz gründeten, und denen, die heute für sie | |
arbeiten, liegen Welten. Die Gründerinnen und Gründer waren nicht vom Fach, | |
viele wollten auch gar keine Journalisten werden, sondern hatten die Idee, | |
es müsse endlich mal – zum ersten Mal nach 1933 – eine unabhängige freie | |
linke überregionale Tageszeitung geben. Um bei der taz angestellt zu | |
werden, brauchte niemand ein Zeugnis aus einer Journalistenschule. Säzzer, | |
die keine Lust mehr hatten, nur Säzzerbemerkungen in Artikel | |
reinzuschreiben, konnten in die Redaktion wechseln. Leute, die in der | |
Kantine anfingen, wurden sehr gute Redakteure. Es war sehr durchlässig. | |
Heute kenne ich von denen, die für die taz arbeiten, kaum mehr jemanden. | |
Sie erscheinen mir viel professioneller und scheinen das Arbeiten für die | |
taz als Job zu begreifen, als relativ normalen Job bei einer etablierten | |
Zeitung. Ein bisschen radikaler würde ich sie mir wünschen, habe ich | |
gelegentlich gesagt. | |
Zu einem stabilen Medienunternehmen wurde die taz 1991 durch die Gründung | |
der Genossenschaft. Siehst du darin auch die wichtigste Zäsur in der | |
Geschichte der taz? | |
Auf jeden Fall. Nach zwölf Jahren der Mangelökonomie wollte die Mehrheit | |
der Redaktion 1990 die taz an einen großen Medienkonzern verkaufen, um | |
endlich mal höhere Gehälter zu bekommen, um einen Verlag zu haben, der | |
ihrer Meinung nach professioneller arbeitete, als dies in der taz üblich | |
war. Bei diesem großen Schisma habe ich mich zum letzten Mal sehr intensiv | |
bei der taz engagiert. Zusammen mit Johnny Eisenberg schrieb ich die | |
Satzung der taz-Genossenschaft. Wer die mal genau durchliest, wird | |
feststellen, dass jedem potenziellen Investor, der die taz kaufen will, | |
sofort der Appetit vergeht. Wir bauten unzählige Hürden gegen eine | |
Übernahme der taz durch einen großen Medienkonzern ein. Später haben einige | |
der Redakteure, die die taz damals verkaufen wollten, zu Kalle oder mir | |
gesagt: „Ihr habt mit der Gründung der Genossenschaft den richtigen Weg | |
eingeschlagen. Wenn es uns damals gelungen wäre, die taz zu verkaufen, gäbe | |
es sie heute wohl nicht mehr.“ | |
Ein Grund, warum die taz überlebt hat, war anfangs auch in keiner Weise zu | |
erwarten gewesen: ihre hervorragenden Immobiliengeschäfte. | |
Als Kalle 1989 mit der Idee um die Ecke kam, in der Kochstraße ein | |
landeseigenes Gebäude zu kaufen, damit die taz aus dem Wedding in das alte | |
traditionelle Berliner Zeitungsviertel ziehen könnte, habe ich spontan | |
gesagt: „Du spinnst doch, Kalle.“ Davon hat sich Kalle nicht beirren | |
lassen, zum Glück. Sechs Wochen nach dem Unterschreiben des Kaufvertrags | |
für die Kochstraße 18 fiel die Mauer und diese jetzt zentral gelegene | |
Immobilie gewann um ein Mehrfaches an Wert. Da hatte die taz auch mal | |
wirklich Glück. Es kam der angrenzende Neubau in der Kochstraße hinzu. Die | |
Straße heißt mittlerweile Rudi-Dutschke-Straße, beide taz-Häuser sind heute | |
schuldenfrei, und die taz arbeitet in einem [15][großen modernen Gebäude] | |
in der Friedrichstaße. Kalle, der sich so gut wie nie in inhaltliche Fragen | |
eingemischt hat, hat der taz zu einem Sicherheitspolster verholfen, um das | |
andere Verlage die taz-Genossenschaft beneiden können. | |
Du siehst also die Geschichte der taz und ihrer Gründung als | |
Erfolgsgeschichte? | |
Auf jeden Fall. Insgesamt ist die taz ein ungeheurer Erfolg. Dass es sie | |
nach wie vor gibt, ist in der Tat vergleichbar mit der Gründung und | |
Entwicklung der Grünen, die ein, zwei Jahre später kamen als die taz. Dass | |
eine kleine Gruppe von Leuten aus eigenem Engagement aus dem Nichts ein | |
Projekt auf die Beine stellt und mit Mühen dafür sorgt, dass es überlebt | |
und wächst, das ist wirklich ein Wunder. Das war nur möglich, weil alle der | |
Überzeugung waren: Das muss jetzt gemacht werden. Nicht weil jemand einen | |
Job suchte, sondern weil sie eine wichtige gesellschaftliche und politische | |
Aufgabe übernehmen wollten. | |
[16][Michael Sontheimer], 68, arbeitete bis 1984 bei der taz, dann bei der | |
Zeit. Von 1992 bis 1994 war er taz-Chefredakteur, danach ging er zum | |
Spiegel. Heute ist er freier Journalist und Mitglied im Kuratorium der taz | |
Panter Stiftung. | |
28 Aug 2023 | |
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